Über Corona-Protest, Verschwörungsdenken und deren demokratische Grundlage
Angesichts der „Corona-Proteste“ zeigt sich die deutsche Öffentlichkeit alarmiert: Wo sie bei einem Teil der Demonstrierenden noch „berechtigte Sorgen“ um die persönliche Zukunft oder das demokratische Leben in Zeiten einer Pandemie erkennt, hält sie dystopische Vorstellungen vom Aufbau eines digitalen Überwachungsstaats, eines angeblich geplanten Impfzwanges oder verborgener Nutznießer und Strippenzieher des Corona-Notstands für ziemlich krude – und spätestens die Beteiligung rechter Antisemit*innen oder Reichsbürger*innen für gefährlich. Das Potpourri an Deutungen der „Corona-Krise“ auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ – samt der Annahme geheimer Kalküle – gilt der demokratischen Öffentlichkeit größtenteils als abwegig und unvernünftig. Und merkwürdig ist es ja auch, wenn man bedenkt, dass die Politik stets transparent macht, was sie mit ihren Maßnahmen erreichen will: Sie wirbt bei der Bevölkerung dafür, die Notwendigkeit von Kontaktbeschränkungen, die Maskenpflicht, Auflagen für diverse dienstleistende Gewerbe und so weiter einzusehen. Die Maßnahmen sollen die Ausbreitung des Coronavirus unter Kontrolle bringen. Und sie werden gelockert, sofern die Fallzahlen für Gesundheitsämter und medizinische Versorgungslandschaft handhabbar erscheinen. In aller Öffentlichkeit wägt die Politik ab, wie umfassend und lange die Gesellschaft – in der alles vom wirtschaftlichen Wachstum abhängig gemacht ist – die seuchenpolitische Einschränkung dieses Wirtschaftens verträgt. Durch die Bank betonen die „Verantwortungsträger*innen“, dass sie den verordneten Ausnahmezustand überwinden wollen.
Am Willen der Regierung zum Lockdown, an dessen Auswirkungen und den Debatten darum ließe sich einiges über das Interesse des Staates an der Volksgesundheit lernen, auch über Freiheitsrechte, die Arbeitsteilung in der kapitalistischen Gesellschaft (Stichwort „Systemrelevanz“) oder die Staatsverschuldung.1 Doch Verschwörungstheoretiker*innen fragen nach derartigen Sachverhalten gar nicht mit einem ernsthaften Interesse. Sie fragen nicht, wieso die Gesellschaft, in der sie leben – mit oder ohne Pandemie – so ist, wie sie ist. Sie gehen stattdessen einer ganz anderen Frage nach, nämlich der Frage, was eigentlich „hinter“ dem „Corona-Wahnsinn“ steckt. Ausgehend von dem Vorurteil, der kapitalistische Alltag wäre dafür da, dass man gut darin zurecht kommt, stören sie sich nun daran, dass „einiges arg schief läuft“: Die Welt erweist sich gerade noch weniger gut geeignet, das eigene Leben zu bewerkstelligen, als sonst. Dagegen kann man einmal grundlegend festhalten: der kapitalistische Alltag bringt per se viele Ärgernisse und Schwierigkeiten mit sich, und diese Misere mag sich während der Pandemie für viele auch noch verschärfen.2 Aber anstatt die schädlichen Prinzipien zu kritisieren, denen man zu genügen hat (z.B. Arbeit bekommen, arbeiten gehen, sparen und verzichten um über die Runden zu kommen), wird die Verschärfung, die durch die Pandemie entsteht, den „Verantwortungsträger*innen“ zur Last gelegt: Dass die politisch Verantwortlichen es zulassen, dass der gewohnte kapitalistische Alltag derart durcheinander gebracht wird, lässt den Argwohn der Skeptiker*innen wachsen.
Bei der Betrachtung der Corona-Politik wird selten schlichte Analyse betrieben, wenn gefragt wird, ob die seuchenpolitischen Maßnahmen „auch wirklich“ gut durchdacht, zu früh, zu lange, dem Pandemiegeschehen angemessen seien. Sie werfen einen Blick vom Standpunkt der persönlichen Betroffenheit darauf. Dass die Frage, was eine Sache ist, direkt vermischt wird damit, was sie für den eigenen Alltag bedeutet und ob dies auch sein darf, bestimmt viele Gespräche über die Zustände im Land. Die Protestierenden radikalisieren diesen Fehler. Sie zweifeln wegen der unerwünschten Konsequenzen der politischen Entscheidungen gleich den gesamten Entscheidungsprozess samt der wissenschaftlichen Expertise dahinter an. Nicht eine andere Einschätzung der wissenschaftlichen Daten zu Virus und Pandemie ist also der Ausgangspunkt für deren abweichende Deutungen. Sondern ausgehend davon, dass die Seuchenschutz-Maßnahmen unerwünschte Konsequenzen haben, wird darauf geschlossen, dass deren wissenschaftliche Begründungen nicht stimmen können. Dazu werden Belege gesammelt, die die eigene Weltsicht stützen sollen. Sie begeben sich also auf die Suche, ihre Skepsis mit Inhalt zu füllen, nicht die Wirklichkeit zu prüfen. Das ist das Absprungbrett dazu, sich eine ganz eigene Welt hinter der wirklichen zu überlegen und dafür nach Hinweisen in der Wirklichkeit zu suchen.
Doch auch Verschwörungstheorien sind damit Varianten, sich einen Reim auf die aktuelle Lage der Welt zu machen. Bei aller z.T. augenfälligen Abwegigkeit, Konstruiertheit und Borniertheit sollte man die Verschwörungstheoretiker*innen also in ihrem Willen ernst nehmen, über die Welt „aufzuklären“. Die „Querdenker“ einfach für verrückt zu erklären oder die „Theorien“ nur einem Faktencheck zu unterziehen, verkennt, woher die Verschwörungserzählungen ihre Plausibilität und damit ihren Zuspruch gewinnen: Abgesehen davon, dass sich auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ auch viel Protest sammelt, den es bereits vor Corona gegeben hat, soll im Folgenden gezeigt werden, auf welche verbreiteten, „normalen“ gesellschaftlichen Vorstellungen und Überzeugungen der „irrationale Unsinn“ aufbaut und welcher inneren Logik sich die verschwörungstheoretische Verweigerung gegenüber den „offiziellen Erklärungen“ verdankt.3
1. „Freiheit ist die Einzige die fehlt“ – Vom ignoranten Lob der Freiheit
Die Verordnungen zur Seuchenbekämpfung erlegen den Gesellschaftsmitgliedern lauter Einschränkungen und Sonderregelungen bei der Abwicklung ihres Berufs- und Privatlebens auf. Die Lebensbewältigung überlässt der Staat damit nicht mehr einfach den privaten Entscheidungen seiner Bürger*innen – so sehen es zumindest viele, die derzeit auf die Straße gehen. Die aktuellen seuchenpolitischen Vorschriften stellen die gewohnte Abwicklung von Erwerbsleben und privater Lebensgestaltung zeitweise in Frage. Und nicht Wenige meinen, dass der Staat sich damit an seinem „eigentlichen“ Auftrag vergeht, nämlich die Freiheit der Bürger*innen zu garantieren. Maßnahmen des „Lockdowns“ fallen ihnen dann als das pure Gegenteil dieser Staatsauffassung auf: nämlich als Freiheitsentzug per Gesetz.
Für diese Perspektive braucht es allerdings ein gehöriges Maß an Ignoranz. Denn jede Grundrechtsgarantie auf freie Berufswahl, Persönlichkeitsentwicklung oder Meinung ist eine Frage staatlicher Erlaubnis. Jeder Kaufakt oder jedes Mietverhältnis findet seine Regelung durchs bürgerliche Gesetzbuch. Und selbst die Verhältnisse zwischen Familienmitgliedern unterliegen rechtlicher Aufsicht und Regulierung durchs Familienrecht. Insofern ist staatliche „Rahmengebung“, Regulation und Kontrolle weder eine Ausnahme, noch beginnt sie erst im Ausnahmezustand der Pandemie. Der Staat legt grundlegend fest, in welchen Bahnen Leute welche Dinge tun dürfen, können, welche Betätigung also in seinem Sinne ist.
Auf dieser Grundlage überlässt der bürgerliche Staat dann – im Rahmen der Gesetze – die Lebensführung individuellen Überlegungen, Bestrebungen und Anstrengungen. Ob man studieren will, wo man arbeitet oder wohnt und wie und mit wem man die eigene Freizeit verbringt, das ordnet der Staat nicht an: Hierzu verhält er sich im Grunde gleichgültig, wie auch zu den Voraussetzungen und Mitteln, die Leute haben, um Interessen im „Wettstreit“ zu den Interessen anderer zu verfolgen. Alle sollen unter Respektierung der jeweils gültigen gesetzlichen Regularien und der Freiheit anderer ihre Freiheit wahrnehmen. Sprich: Ausbildung, Beruf und Konsum sind der eigenen Entscheidung überlassen – genötigt ist man hier „lediglich“ durch die sozialen Umstände, innerhalb derer man diesbezügliche Entscheidungen fällt. So kommt es, dass sich dann die Gesellschaft – dank der Freiheit, die der bürgerliche Staat in Geltung setzt – entlang der Frage sortiert, inwieweit man über Konkurrenzmittel – im wesentlichen Eigentum, Geld – verfügt. Die Aktivitäten der Einzelnen, also das, wofür die Einzelnen ihre Freiheit „gebrauchen“, haben keine bis große Geldeinkünfte zum Resultat (bei den meisten Leuten kleine Einkünfte, die gerade mal einen Monat lang für das Notwendige ausreichen). Diese auf seinem Territorium erwirtschafteten Einkünfte fassen sich für den Garanten und Betreuer des freiheitlichen Konkurrierens – den Staat – als nationaler Reichtum zusammen, auf dem er seine innenpolitische und außenpolitische Macht baut und ausbaut.
Freiheit hat man also, weil und insofern der Staat sie einem gewährt, und sie ist unter die vom Staat definierten Bedingungen gestellt. Somit ist Freiheit die Art und Weise, in der der Staat den Willen seiner Bürger*innen – die Träger*innen der Freiheitsrechte – an seiner Ordnung ausrichtet: Gerade dadurch, dass sich jede*r um den eigenen Erfolg auf Grundlage des geltenden Rechts kümmert (z.B. in Schule, Uni und Ausbildung, am Arbeitsplatz usw.), macht sich jede*r nützlich für den Staat. Dass in dem allgemeinen Erfolgsstreben Einige den Vorteil und die übergroße Mehrheit das Nachsehen haben, ist kein Geheimnis: die Meisten müssen eben von Monat zu Monat sehen, wie sie mit ihren Einkommen über die Runden kommen. Freiheit ist gerade nicht dasselbe wie die Befriedigung von Bedürfnissen oder Interessen. Sie ist die bloße Bedingung dafür, dass man in dieser Gesellschaft versuchen kann, sich durchzuschlagen und mit den eigenen Interessen voranzukommen – ob das gelingt steht auf einem anderen Blatt. Diese Bedingung, von deren Gewährung die eigene Lebensführung dann aber auch abhängt, genießt in dieser Gesellschaft beim großen Teil der Bevölkerung dennoch höchstes Ansehen. So auch bei den Teilnehmer*innen der Hygiene-Demos: Auch wenn jeder für sich konkrete Schäden infolge der Corona-Maßnahmen feststellen kann, fordern sie keine materiellen Verbesserungen, sondern „ihre Freiheit“.
2. „Hey Staat, hey Staat, hey Staat“ – Machtausübung als Selbstzweck?
Als Entzugsanstalt für Freiheit genommen, gerät der Staat in den Augen der Hygiene-Demo-Teilnehmer*innen zu einem pur negativen Akteur. Sie sehen nicht, dass er selbst bestimmte Ziele verfolgt, sondern halten ihn für einen Machtapparat, der nur unterdrücken wolle. Und in den Augen nicht nur rechter, sondern auch vieler linker Kritiker*innen verdient er sich damit das Etikett einer mindestens drohenden (Überwachungs-, Pharma-, Hygiene-)Diktatur.
Zwar kann man am so genannten „Lockdown“, also an der Stilllegung weiter Teile des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens im Zuge der Pandemie, tatsächlich ablesen, wie viel Macht der Staat über seine Gesellschaft freier Individuen hat und wie umfassend deren Leben auf seiner Gewalt beruht. Zwecklos ist sein Machtgebrauch darüber allerdings nicht: Der Staat hat mit dem „Lockdown“ das freiheitliche Leben und Konkurrieren eingeschränkt, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden und damit die von der Seuche bedrohte Volksgesundheit zu schützen. Denn deren durchschnittliche Intaktheit und Belastbarkeit ist unerlässliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirtschaften, von dem wiederum alles weitere in der kapitalistischen Gesellschaft abhängt.
Die öffentliche Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung ist absurderweise also deswegen nötig, um sie als vitalen Teil von Arbeitskraft anhaltend im Wirtschaftsleben ge- und verbrauchen zu können. Nur ein insgesamt ausreichend gesundes Volk kann am Arbeitsplatz wettbewerbsfähig Leistung bringen. Deshalb ist schon ganz ohne Coronapandemie der Gegensatz von Wirtschafts- und Gesundheitspolitik nie in eine Richtung aufzulösen. In der politischen Debatte wird allerdings immer wieder so getan, als gäbe es eine goldene Mitte. So machen sich die Parteien wechselseitig den Vorwurf, eine Seite fahrlässig zu vernachlässigen. Und diese Debatte hat während der Pandemie Hochkonjunktur. Die Bürger*innen bekommen aus den Reihen der Politik den ideologischen Gedanken serviert, dass ein Zuwenig an seuchenpolitischer Vorsicht, aber auch ein Zuviel an wirtschaftlichem Schaden ein „Versäumnis“ der politischen Entscheider*innen wäre. Der Anti-Corona-Protest radikalisiert diesen Streit, indem er der Politik vorwirft, ohnehin keinen der beiden Maßstäbe mit den Corona-Maßnahmen im Blick zu haben: Weder die Sorge um die Volksgesundheit (die wird wegen der angeblichen „Harmlosigkeit“ der Corona-Krankheit gar nicht ernsthaft gelten gelassen) noch die Verantwortung für die Wirtschaftsentwicklung (angesichts der per Corona-Politik politisch induzierten Geschäftsschädigungen). So stellt sich den Protestierenden also die Frage, welchen Zweck die Politik mit ihren Pandemie-Maßnahmen dann eigentlich verfolgt. Und sie beantworten sie im Grunde ganz tautologisch: Die Einschränkungen gewohnter Freiheiten im Wirtschafts-, Berufs- und Privatleben verdanken sich einem politischen Willen zur Beschränkung der Freiheit des Volks: Es soll gemaßregelt werden und sieht sich einem Diktat ausgesetzt.4
Im Diktatur-Vorwurf zeigen sich die „Corona-Kritiker“ gleichzeitig in ihrem Vertrauen in die herrschende Politik erschüttert wie grundsätzlich mit der bürgerlichen Ordnung einverstanden: Wo Deutschland bislang zumindest im Grunde und im Vergleich zu afrikanischen, nahöstlichen, osteuropäischen, asiatischen und süd- und nordamerikanischen Staaten als lebenswerter Ermöglicher von lauter „Chancen“ und Immerhin-Sozialstaat galt, rangiert es mit dieser Umetikettierung politmoralisch auf einmal auf derselben Ebene mit „all diesen anderen Staaten“: als Herrschaft. Das grundsätzliche Einverständnis mit der bürgerlichen Ordnung liegt darin, dass die rechtsstaatlich-demokratische Art und Weise des Regierens gar nicht schlicht als spezifische Methodik des Herrschens über Land und Leute betrachtet wird, sondern im Grunde als ihre Abwesenheit – als handele es sich dabei gar nicht um eine Herrschaft. So wird das Ideal vom Rechtsstaat gepflegt, demnach er a) sich ohnehin vor allen Dingen in Respekt und Zurückhaltung gegenüber seiner Bevölkerung und ihren Rechten übe und b) für den Schutz ihrer Interessen bereit stehe, also seine Machtausübung über die Bürger*innen nur so etwas wie eine institutionelle Dienstleistung an ihnen sei.
Damit knüpfen die Demonstrant*innen an das objektive Verhältnis von Rechtsstaat und Bürger sowie an die Selbstpräsentation der staatlichen Ordnung als dem Volke verpflichtete an. Objektiv gewährt der Staat Rechte, zum Beispiel das Recht auf Eigentum oder auf die freie Berufswahl, weil er sich etwas davon verspricht: Er ist scharf darauf, dass sich seine Bürger*innen dann z.B. als Unternehmer*innen oder Arbeitnehmer*innen betätigen. Umgekehrt hängt damit ihre Lebensführung von der Gewährung und Wahrnehmung dieser Rechte ab. Was den Demonstrant*innen als eine quasi interesselose Ordnungsfunktion erscheint, ist nichts anderes als die Sicherstellung der Voraussetzungen für das allgemeine Konkurrieren um Einkünfte. Dass der Staat seinen Bürger*innen Rechtsansprüche einräumt und ihre Wahrnehmung fördert, nehmen die Demonstrant*innen wiederum als Dienst an ihren unmittelbaren Interessen – die sie anscheinend gar nicht mehr anders als als staatlich gestattete „Rechte auf“ kennen. Denn so ist es: Interessen kommen nur als staatlich berechtigte zum Zuge.
3. „Kommt heran, ihr feigen Sklaven“ – Zum Selbstbewusstsein freier Bürger*innen
An der pandemiebedingten zwischenzeitlichen Neuregelung des Rahmens, innerhalb dessen die Bürger*innen ihre Interessen frei betätigen können, sehen die Demonstrant*innen nur die Seite des Entzugs von Freiheit. An diesem partiellen „Freiheitsentzug“ machen sie fest, dass die Politiker*innen ihre Dienstpflicht verletzt hätten. Den seuchenpolitischen Ausnahmezustand als Diktatur zu betrachten, schließt ein, dass dann die freien Bürger*innen auch keine mehr sind, sondern bloße Untertanen: Die Demonstrant*innen sehen sich als bloße Objekte herrschaftlicher Willkür, denen „auf einmal“ Vorschriften auferlegt werden. Damit sehen sie sich in ihrem Selbstverständnis angegriffen.
So wird etwa die Maskenpflicht für manche zum Symbol für einen alles beherrschen wollenden Staatswillen: „Eine beispiellose Übergriffigkeit in unsere intimsten Lebensbereiche. So etwas hat es seit der Abschaffung der Leibeigenschaft nicht mehr gegeben. Eine vorsätzliche Körperverletzung zudem.“ „Unser Wille soll gebrochen werden.“ „Viele Maskenträger schauen gebrochen und verschämt zu Boden. Nach dem Lockdown kommt nun der Lookdown. Die ganze Körperhaltung ist gebeugt.“ (https://www.das-marburger.de/2020/04/vom-lockdown-zum-lookdown-von-der-zwangsdemuetigung-durch-rotzmasken/)
An diesem exemplarischen Aufschrei eines noch selbstbewussten, aber „nicht mehr ganz so freien“ Bürgers zeigt sich der funktionale Irrglaube in der bürgerlichen Gesellschaft: Wer frei ist, ist sein eigener Herr und verfügt exklusiv und autonom über sich und seine Lebensverhältnisse. Zwar ist nicht zu leugnen, dass der Mensch heutzutage selbst für sein Ein- und Auskommen zu sorgen hat und er deshalb, mit allerlei Rechten ausgestattet, alles andere als ein Sklave ist. Jedoch entspricht die Realität der meisten Menschen nicht dem darauf gründenden Selbstverständnis, damit auch tatsächlich souverän über die eigenen Lebensumstände zu verfügen: Nahezu sämtliche Lebensbedingungen sind Produkt der rechtlichen Verfügungen des Staates sowie der darauf gedeihenden kapitalistischen Konkurrenz- und Abhängigkeitsverhältnisse. Die Freiheit der Person besteht im Grunde darin, Waren, über die sie exklusiv als ihr Eigentum verfügt, in Konkurrenz gegen andere zum Mittel des persönlichen Gelderwerbs zu machen. Da die einzig substanziell verfügbare „Ware“ für den Großteil der Menschen ihre Dienstbarkeit ist, hängt die selbstbestimmte Lebensführung schon ganz grundlegend von einem anderen Interesse ab: Unternehmer*innen müssen die angebotene Dienstbarkeit für ihr Interesse, ihren geldwerten Reichtum zu vermehren, haben wollen. Da das auch seine Konjunkturen hat, ist nicht einmal sicher, ob man einen ergatterten Arbeitsplatz auch dauerhaft behält.
Etwas schräg zu dieser grundsätzlich abhängigen oder ohnmächtigen gesellschaftlichen Position, aber passend zum Umstand, dass nichts anderes als der eigene Wille zur Leistung verfügbar ist, gehört es gemeinhin zum Selbstverständnis des freien Bürgers, sich selbst als Macher der eigenen Erfolge wie Misserfolge zu sehen: Zumindest insofern als sich niemand anderes als es selbst sich für den eigenen Beruf und die eigene Lebensführung „entschieden“ hat. Insofern bewahrt sich die freie Subjektivität ihre Freiheit im Prinzip, indem sie sich als Herr der eigenen Entscheidungen und damit ideell der vorgefundenen Lebensverhältnisse weiß. Kurz: Dass die Freiheit der meisten Bürger*innen wesentlich in der Anpassung an eine vorausgesetzte Rechtsordnung und an die Verwertungsansprüche von Kapitaleigner*innen besteht, zeigt sich zwar beständig an den Schwierigkeiten, den Verhältnissen private Erfolge und Sicherheiten abzuringen. Weil das freie Konkurrenzsubjekt aber ein freies Konkurrenzsubjekt bleiben will, hält es bei allen schlechten Erfahrungen an dem Irrglauben fest, dass diese kapitalistische Welt weiterhin als ein Mittel für einen zu taugen hat.
Deswegen ist es auch kein Wunder, wenn sich der Protest häufig an der Privatsphäre aufhängt. Denn dass die Arbeitswelt oft beschwerlich und mindestens kein Zuckerschlecken ist, das weiß selbst der größte Freiheitsfan. Er weiß auch, dass Chef und Arbeitsaufträge nicht gerade der Inbegriff eines selbstbestimmten Lebens sind. Doch all die Mühen der Arbeitswelt haben sich schließlich im Privatleben auszuzahlen: „Man arbeitet, um zu leben.“ Das Private ist das Reich, wo es ganz um einen selbst gehen kann und soll.
Die Sphäre des Privaten ist also neben der hier abgewickelten physischen und psychischen Reproduktion auch weltanschaulich enorm wichtig: Denn hier soll sich beweisen, dass die Anpassung an diese Verhältnisse samt dem beschwerlichen Arbeitsalltag letztendlich doch lohnt. Zwar ist auch diese Sphäre nicht jenseits staatlicher Regulierung und direkte Eingriffe sind im Falle dysfunktionaler Privatlebensgestaltung auch rechtlich vorgesehen. Aber im Großen und Ganzen hat einem niemand bei der Wahl der privaten Sozialkontakte, Konsum, Freizeitaktivitäten, Informationsbedürfnis und Gedankenmitteilungen reinzureden. Mindestens auf diese Residuen bürgerlicher Selbstbestimmung wird bei aller zuvor und nebenbei praktizierten Bereitschaft zur Anpassung an vorgegebene Verhältnisse bestanden: Die staatliche Gewalt und ihre Regelungskompetenz ist akzeptiert (und im Grunde auch begrüßt zum „Schutz der eigenen Freiheit vor Übergriffen anderer“), wenn die Garantie von Rechten bzw. staatliche Zurückhaltung gefordert wird. Die damit einhergehende eigene prinzipielle Ohnmacht ist akzeptiert, sofern sich der Staat aus dem Umkreis der Privatsphäre raushält.
Deshalb fällt vielen Protestierenden gerade an den privatesten Bereichen der Bestimmung über sich und ihr Leben eine anmaßende Einmischung der Politik auf: Der eigene Körper, die eigenen Daten, die eigene Meinung werden mit dem „eigenen“ Grundgesetz unter dem Arm – welches die Allgemeingültigkeit des damit gar nicht mehr „nur“ eigenen Anliegens unterstreichen soll – verteidigt. Im Sinne von „Abwehrrechten“ gegen einen übergriffigen Staat bestehen die Demonstrierenden auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit gegen vermeintlich geplante Zwangsimpfungen, auf ihr Recht auf Privatheit ihrer Persönlichkeitsdaten gegenüber einem mittels Corona-App alles überwachen wollenden Staat und auf ihr Recht auf freie Willkür und ihre Mitteilung gegen eine vermeintliche Gesinnungsdiktatur von Politik und Medien.
4. „Wer die Banknoten liebt, der mache Politik“ – Skepsis gegenüber Amtsträger*innen
Den freiheitsliebenden Skeptiker*innen drängt sich die Frage nach dem Grund der Pflichtvergessenheit der Amtsträger*innen auf. Denn eins scheint vielen Protestler*innen klar: Wer das Volk an seiner freiheitlichen Betätigung hindert, der dient ihm nicht mehr, sondern will es für eigene Zwecke einspannen.
Der grundlegende Zweifel – wie sehr Politiker*innen eigentlich der Allgemeinheit und wie sehr ihren eigenen Interessen oder denen starker Interessengruppen verpflichtet sind – begleitet das Funktionieren der Demokratie immerzu: Als Volksvertreter*innen und Amtsträger*innen obliegt ihnen die Durchsetzung des Volks- oder Allgemeininteresses. In einer Gesellschaft von Konkurrent*innen mit sich widersprechenden Interessen, wie es bei Mieter- und Vermieter*innen oder Arbeitnehmer*innen und -geber*innnen der Fall ist, gibt es aber kein eigenständiges, unmittelbar vorfindbares allgemeines Interesse. Es wird umgekehrt von der Politik in Form von Gesetzen und Verordnungen definiert und ist insofern die Verlaufsform, die der Staat all diesen Interessen gibt. Anders ausgedrückt, ist das allgemeine Interesse also das, was der Staat von seiner Gesellschaft will und den Gesellschaftsmitgliedern aufherrscht. So wenig das Allgemeinwohl einfach von einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe festgelegt wird, so besteht es auch nicht darin, dass die Politik einfach immer die Konkurrenzinteressen einer einzelnen Gruppe (etwa die der Automobilbranche) einseitig privilegiert. Da es dem Staat auf die Benutzung seiner Gesellschaft als Machtquelle für ihn ankommt, legt er Wert auf das produktive Zusammenwirken all der Interessen gerade in ihren Gegensätzen. Die dauerhafte Teilnahme an der Konkurrenz durch all die Beteiligten, die die Märkte so ausmachen (Rechte für Mieter und Vermieter, Unternehmen und Beschäftigte, Banken und „Realwirtschaft“, Wettbewerb usw.), verlangt umgekehrt nach deren allgemeiner Beschränkung. Keines der Interessen gilt einfach pur. Im Interesse des allgemeinen Florierens der Konkurrenz um wachsende Gelderträge stellt sich der Staat also außerhalb der Konkurrenz und reguliert ihre Bedingungen.5
Dabei ist die politische Beschränkung und Berechtigung der jeweiligen Interessen der Konkurrenzteilnehmer*innen nicht mit einem Ausgleich der Interessen verbunden. Angesichts dessen, dass es von Staats wegen um die möglichst ertragreiche Ingangsetzung und Betreuung des hiesigen Wirtschaftslebens, also des Wirtschaftens in Konkurrenz geht, ist der tatsächliche Ausgleich aller Interessen durch die Gesetzgebung ein apologetisches Ideal, das sich in der Wirklichkeit nicht einstellt. Irgendeinem Interesse nutzt ein konkretes Gesetz immer mehr, während es seinem Kontrapart weniger nutzt oder ihn stärker einschränkt. Da sich jedoch die Konkurrenz um den Erfolg der privat organisierten Geldvermehrung dreht, und vom Erfolg des Wachstums der Privatunternehmen tatsächlich die gesamte Gesellschaft abhängt (vom Arbeitsplatz, über die Nachfrage nach Gewerberaum bis zu den staatlichen Steuereinnahmen), ist das Interesse, Kapital zu vermehren im Grunde prinzipiell allgemeinwohldienlich.6 Die erfolgreiche Betreuung der nationalen Wirtschaft muss vieles mit einbeziehen: die ökonomisch mehr oder minder eindeutig nach Klassenlage verteilten Machtpositionen, die Versorgungsunternehmen, das Kreditgeschäft, die Schlüsselindustrien oder wichtige Spezialbranchen und das Interesse am Erfolg von all dem in der internationalen Konkurrenz der Standorte. All das lässt in Volk und Öffentlichkeit immer wieder den Zweifel aufkommen, ob nicht Gesetze einseitig zum Vorteil ökonomisch bedeutsamer Interessengruppen formuliert oder angewandt werden. Und dieser Zweifel wird auch von der Politik gefüttert, die beispielsweise sogar zur Lobbyarbeit aufruft, um im Dienste der nationalen Wirtschaft die „Herausforderungen“ eben der Wirtschaft besser bedenken und berücksichtigen zu können. Dass wichtige Unternehmen oder Branchen angesichts ihrer Bedeutung für den gesamten Standort besondere Rücksicht erfahren, ist deswegen weder ein Wunder noch ein Verstoß: Der nationale wirtschaftliche Gesamterfolg in einer stabilen, auch international als Geschäftsmittel anerkannten Währung wird nunmal (auch) von Wirtschaftsakteuren bewerkstelligt – von wem denn sonst. Und genau darum geht es dem Staat. D.h. umgekehrt aber nicht, dass nicht auch große Unternehmen Einschränkungen in Kauf zu nehmen haben (siehe Diesel-Strafen etc.).
Die Betreuung der Wirtschaft durch den Staat, quasi als „Gesamtkonkurrenzerfolgsanwalt“, fördert also den Verdacht eines zu großen Einflusses von wirtschaftlichen Lobbygruppen. An dieses Misstrauen knüpfen die Protestierenden an, wenn sie fragen, wem der ihnen nicht einleuchtende Lockdown samt pharmazeutischer Volksbetreuung denn „eigentlich nützt“. Wer die Corona-Krise dann für einen Schachzug der Pharmalobby oder ein Manöver hält, Kleinhandel und Mittelstand zu verdrängen, könnte sich dabei aber schon fragen, ob eine weltweite Rezession und Beschädigung sämtlicher Geschäftsbedingungen durch das Lahmlegen aller möglichen Zahlungsketten im Wirtschaftsleben ein etwas zu massives Risiko für eine spezielle Geschäftsstrategie für eine einzelne Branche darstellt – die ja selbst auf ein zahlungsfähiges Wirtschaftsleben angewiesen ist.
Ein zweiter immerwährender Zweifel daran, ob die Politik dem Allgemeinwohl dient, verdankt sich der Personalpolitik der Demokratie. Mit ihrer periodischen Neubesetzung der politischen Ämter institutionalisiert sie mit der erneuerten Legitimation auch den Zweifel am Herrschaftspersonal: Gerade weil es im Interesse des Staatswohls und nicht des eigenen entscheiden soll, hat es ein Amt auszufüllen, das bereits weitgehend vorgibt, worum sich welches Ressort zu kümmern hat. Und weil der Widerspruch bleibt, dass der Staat keinem besonderen Interesse verpflichtet sein soll, allerdings von einzelnen Personen geführt werden muss, sieht die Staatsverfassung auch eine Teilung der staatlichen Gewalt in Unterabteilungen und die Gesetzgebung Amtsenthebungsverfahren bei Machtmissbrauch und Strafen für Korruption vor. Allenthalben auftauchende Skandale tatsächlicher Bestechung, Vetternwirtschaft oder zu eindeutig abgeschriebener Lobbyentwürfe befeuern das Misstrauen und sind selbst ein Anknüpfungspunkt für die Ideen von zwielichtigen Hintergrundinteressen am Corona-Notstand.
5. „Parlamente erinnern mich stark an Puppentheater“ – Geheime Drahtzieher*innen mit „volksschädlichem“ Willen
Bei der „Ursachenforschung“, was die Politik eigentlich bewegt, gehen die Verschwörungstheoretiker*innen dann auf die Suche nach Schuldigen, nach geheimen Drahtzieher*innen, denen die Freiheitsberaubung und Unterdrückung nützt. Worin dieser Nutzen genau besteht und wem konkret all das letztlich so nützt, ist den Verschwörungstheoretiker*innen dann an sich zweitrangig. Der Fantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt, und die Verschwörungstheoretiker*innen erweisen sich bei aller absoluten Gewissheit von der „Wahrheit“ ihrer Aufdeckungen als erstaunlich pluralistisch. Entscheidend ist aber der Kern dieser Sorte „Aufklärung“: Die Regierung dient nicht dem Volk, sondern fremden Interessen. Es gibt also Schuldige, die sich gegen die wie auch immer grundrechtmäßig oder völkisch oder ökologisch definierte gute Gemeinschaft verschworen haben, um sie sich auf die ein oder andere Weise dienstbar zu machen. Diese Drahtzieher*innen verfolgen partikulare Interessen, die sie gegen die Bevölkerung durchsetzen wollen. Ob es sich dabei um ein Interesse am schnöden Mammon, ein Kalkül zur Einführung weltweiter digitaler Überwachungstechnologie (per „Impf-Chip“) oder um bezweckte Gedankenkontrolle per Zwangsimpfung und G5-Strahlung handelt – letztlich laufen all die ausgedachten Auflösungen auf irgendeine Sorte abstraktes Beherrschungsinteresse hinaus: Eine an sich gute und in sich harmonische Gemeinschaft sei einem quasi wesens-„fremden“ übermächtigen, partikularen Beherrschungswillen unterworfen.7
In diesem Zerrbild wird sich vorgestellt, dass sich mächtige partikulare Interessen gegen die gute Gemeinschaft richten. Allein der Egoismus dieser Partikularinteressen begründet schon, dass sie nicht Teil der Gemeinschaft sein können, also fremd und böse sind. Vollends offenbart wird dann der boshafte Charakter der Verschwörung nicht zuletzt dadurch, dass sie eine ist: Wer seine „wahren Absichten“ immerzu geheim halten, vertuschen, Mitmacher*innen manipulieren oder Verantwortliche bestechen muss, kann nichts Gutes im Schilde führen. So zeigt sich bereits an der Nichtöffentlichkeit der Absicht, woher sie kommt und wie sie zu beurteilen ist: ziemlich düster.
Wie abwegig oder brutal dieses „Theoretisieren“ auch sein mag, die Schuldsuche ist ein weit verbreiteter Denksport in der Demokratie: Nicht nur „Populist*innen“ sondern auch vorbildliche Demokrat*innen halten die Frage nach den „politisch Verantwortlichen“ für die entscheidende Frage bei der Debatte über nationale Missstände, Misserfolge und Unzufriedenheiten aller Art. Mit irgendeiner Sorte ernstgemeinter Analyse, die nach den herrschenden gesellschaftlichen Prinzipien und Interessen fragt, denen sich etwa Altersarmut, Wohnungsnot oder Arbeitslosigkeit verdanken, hat diese Frage nichts zu tun. Schließlich ist mit der Verschiebung der „Ursachenforschung“ auf die Frage nach „Schuldigen“ und „Verantwortlichen“ quasi vorentschieden, dass beanstandete Umstände an „Fehlern“, „Pflichtvergessenheit“ oder gar „bösem Willen“ von besonderen, entscheidenden Personen, also an falscher Führung liegen müssen, nicht aber am System.
Mit dieser Fahndung nach persönlicher Haftung kündigt sich auch der Grund für das in der Demokratie beständig betriebene Anprangern von Missmanagement, Führungsschwäche, Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit oder eben ganz hart Verrat an. Die demokratisch institutionalisierte politische Opposition wirbt über den Vorwurf der „Pflichtverletzung“ für sich als die fähigere Führung. So ist in der Demokratie gesellschaftlicher Unzufriedenheit und Kritik der Weg gewiesen: Hoffen auf die nächste Führungsriege. Begründete Kritik an den Zwecken des Regierens und des zivilen Miteinanders ist damit jedenfalls ausgeschlossen. In der Kunst der Schuldsuche erlernt noch jede demokratische Untertanin die gewohnheitsmäßige Beschränkung ihres Verstandes auf ein Interesse nach ordentlicher Herrschaft. Und eben dieses Interesse an guter Herrschaft – nur garantiert impf-, und wenn möglich „judenfrei“ – treibt derzeit seine dummen bis gefährlichen Blüten.
Dass der auch im Zuge der Corona-Krise grassierende Antisemitismus kein Aufruf zur Herrschaftslosigkeit ist, ist wohl allen klar. Die Suche nach „Schuldigen“ und „Verrätern“ ist schon immer die patriotische Weise sich mit Verhältnissen abzufinden, denen irgendeine Sorte Unbekömmlichkeit attestiert wird. Denn dass diese Unbekömmlichkeiten mit den Verhältnissen zusammenhängen könnten, wird sofort bestritten, indem sie Fehlverhalten, bösem Willen oder einer übermächtigen „fremdartigen“ Aggression zur Last gelegt werden.8
6. „Am Ende wird die Wahrheit siegen“ – Durchblicker, Volkswiderstand und Herrschaftswissen
Der Anti-Corona-Protest entwickelt schließlich ein veritables Bedürfnis nach Mobilisierung von Volkswiderstand: Dem Staat, der dem Volk und seiner Freiheit dient, gebührt Gefolgschaft – so lautet der gedankliche Ausgangspunkt. Tut er das nicht, ist der Staat eine illegitime Herrschaft und die freie Bürger*in in der Pflicht zum Widerstand. So werden die Demonstrant*innen mit „ihrem“ Grundgesetz unter dem Arm aus lauter Staatsbürgerbewusstsein glatt zu Staatsgegner*innen und zum Ärgernis für die Staatsmacht.
Letztere sieht sich mit Verteidiger*innen des Normalzustands konfrontiert, die sich im Gefühl der Wahrheit und echter geistiger Freiheit als Durchblicker und Warner der sich täuschen lassenden Schafsherde gerieren – in trauter Eintracht mit organisierten Reichsbürger*innen und Rechtsradikalen. Manchen Demonstrierenden will die Politik die prinzipielle Berechtigung ihrer „Sorgen“ nicht absprechen. Sie will ja selbst so schnell wie möglich zum Normalbetrieb zurück. Und schließlich weiß sie, dass ihre Verordnungen auch der Grund für die Einschränkungen sind, an denen sich ihr zur Freiheit erzogenes Volk nun aufrührt. Klarmachen muss sie den renitenten Teilen ihres Volks dann aber schon auch, dass nicht jede wirre Idee Recht auf praktische Geltung hat. Zwar habe jede*r ein Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.
Die Politik will den Protest, der von einer Unterscheidung von links und rechts nichts wissen will, auf ihre Art spalten, indem sie mahnt: „Folgt nicht den Extremisten und Verschwörungsanhängern von links und rechts! Tragt lieber Masken statt Alu-Hüte, wenn ihr doch eigentlich nur um die Freiheitsrechte besorgte Bürger seid!“ Letzteren gegenüber sieht sich die Politik einmal mehr in der Verantwortung, ihre Maßnahmen zu erklären. Bei den Regierten soll ankommen, dass die Verantwortlichen nicht leichtfertig – und derzeit gerade wegen des Dienstes am Volk und seiner Gesundheit – den gesellschaftlichen Normalbetrieb umstellen. Sie tun das alles doch gerade, um wieder zum Normalbetrieb zurückkehren zu können – womöglich dann sogar gestärkt durch die Corona-Phase, die bei allen Entbehrungen eine Zeit „nationaler Solidarität“ und „nationalen Zusammenhalts“ war.
So weiß auch die Politik wie die demokratische Öffentlichkeit, welche Wahrheiten es zu verbreiten gilt, um ein aufgeklärtes Volk und seine unpopulistische Führung zusammenzuschweißen: „Schuld“ an den Schwierigkeiten und Ärgernissen der Bevölkerung hat nicht der von Kapitalvermehrung durch Lohnarbeit abhängige Alltag, welcher so schnell unerträglich wird, wenn die Freizeitaktivität mal nicht die Erholung davon bringt und die Einkommensquelle direkt unsicher wird, wenn der Verkauf von Autos, frisch gezapftem Bier und Auslandsflügen unterbleibt. Schuld habe allein das Virus, das auf die Lebenslagen der Leute samt ihrer prekären Einkommensquellen trifft. Es müsse jetzt nur dafür gesorgt werden, die Krise zu überstehen, damit postpandemisch dann alles so wie vorher wird: Frei von zu viel lästigem Gesundheitsschutz sollen sich die Leute möglichst ungestört um ihr tägliches Brot kümmern können, und mit ihrer Arbeitsleistung den Reichtum der Unternehmen vergrößern. So geht es dann wieder aufwärts mit dem Wirtschaftswachstum und der Nation. Und darum haben sich die Regierenden schließlich „verantwortungsvoll“ zu kümmern. .
Die falsche Kritik, den Staat bzw. sein Herrschaftspersonal am Ideal guten Regierens zu messen, haben die demonstrierenden Freund*innen von Alu-Bommel und Grundgesetz mit den guten Demokrat*innen von rechts bis links gemein. Sie alle haben gelernt, einiges an der politischen Wirklichkeit getrost zu ignorieren: Schäden und Ungemach werden als persönliche Versäumnisse, Pflichtverletzungen oder gar böser Wille geistig aus dem Normalbetrieb der wenig gemütlichen kapitalistischen Welt ausgelagert – ob mit oder ohne Pandemie.
1 Unter dem Stichwort „Corona-Pandemie“ finden sich auf unserer Homepage einige Versuche, unterschiedliche Aspekte des Zeitgeschehens in der Pandemie zu analysieren: zu https://gegen-kapital-und-nation.org/page/corona/
2 Zur Systemmäßigkeit der Ärgernisse und Schwierigkeiten im Normalbetrieb des kapitalistischen Alltags siehe auch unser Buch: „Die Misere hat System“.
3 Nebenbei sei angemerkt, dass „Irrationalität“ in der aufgeklärten modernen Gesellschaft einen durchaus festen Platz hat: Von Religionsfreiheit bis zum Waldorfschulunterricht, von Hoffnungen auf ein Wiederaufleben wirtschaftlichen Geldwachstums, dessen Einbruch offenbar nicht nur das Geldverdienen, sondern die gesamte gesellschaftliche Reproduktion infrage stellt bis zu Anfeindungen Chinas, das mit seinen Maßnahmen zur Seucheneindämmung in Wirklichkeit gar nur seinen Kontrollwahn über sein Volk auslebe – sowas und mehr ist fester Bestandteil der hiesigen kreuzvernünftigen Verhältnisse und Überzeugungen.
4 Die pandemiebedingten Beschränkungen ihres gewohnten freiheitlichen Lebens in der kapitalistischen Konkurrenz sehen diese „Skeptiker“ derart als Angriff auf ein Leben „wie es zu sein hat“, dass ihnen so ein simpler Grund wie akute Seuchenpolitik nicht einleuchten will. Es könne unmöglich sein, dass ein mickriges Virus all die alltäglichen Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. So hört man dann ganz genau hin und verbreitet es über WhatsApp und Co. fleißig weiter, wenn die Erklärung dazu passt, was man hören will: „Corona“ sei auch nicht viel gefährlicher als eine gewöhnliche Grippe. Ergo seien die staatlichen Bevormundungen übertrieben, überflüssig oder würden gar vollkommen andere Ziele verfolgen.
5 Das kann – wie sich in Pandemiezeiten zeigt – sogar einschließen, die Konkurrenz ein Stück weit lahmzulegen, wenn es um den Schutz einer ihrer essenziellen Voraussetzungen – wie die einer intakten Volksgesundheit – geht.
6 Das heißt allerdings nicht, dass der Erfolg jedes einzelnen Unternehmens damit gleichzusetzen wäre. Das ginge schon allein wegen der Konkurrenz der Unternehmen untereinander nicht auf.
7 Kein Wunder, dass sich der Club der Verschwörer*innen auch oft als ausländische (vorzugsweise US-Elite) oder irgendwie aus dem Nationalen aussortierte (vorzugsweise „Juden“) Gruppierung vorgestellt wird.
8 Beliebt ist die Suche nach Schuldigen bei Faschist*innen, die in der aktuellen Demokratie gedeihen, weil sie sich von der aktiv betriebenen Untergrabung alles Deutschen und deutscher Interessen seitens einer derzeit herrschenden Führungselite überzeugt haben. Für diese Fans staatlicher Gewalt, Ausgrenzung und brutaler nationaler Borniertheit ist der Corona-Notstand dann nur ein weiterer Beleg für den Bau am deutschen Untergang.