28.05.2022 PDF

„Wer redet, der schießt nicht" - ist Diplomatie und Kriegsdrohung eigentlich ein Gegensatz? (Text und Audio)

 

„Gestern hat deswegen zum ersten Mal seit Langem – auch das ist keine Selbstverständlichkeit – wieder ein physisches Beratertreffen im Normandie-Format stattgefunden. Wir haben dort über acht Stunden lang verhandelt. Ob dabei etwas rauskommt, wissen wir nicht. Niemand kann das in dieser Zeit mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Aber: Wer redet, der schießt nicht.“ (Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am 27.01.2022 im Bundestag)1

Baerbock behauptet hier, dass Krieg und Verhandeln ein Gegensatz sei. Und in der Friedensbewegung ist diese Vorstellung der zentrale Fehler. Ein falscher Gegensatz, der in das Selbstverständnis-Bild der Europäer*innen als Friedensstifter im Gegensatz zu den USA als Cowboys eingeflossen ist. Wer sich die Geschichte moderner Kriege anguckt, dem müsste dagegen folgendes auffallen:

a) Vor dem Krieg gibt es immer einen Zustand des Friedens und der hat eine Beziehung zwischen Staaten zum Inhalt. Frieden ist also nicht einfach ein leeres Blatt Papier, das sich nur durch die Abwesenheit von Bombenabwürfen auszeichnet. Gewaltmonopole, bis an die Zähne bewaffnet, stehen sich hier gegenüber. Sie gehen wirtschaftliche Beziehungen ein, damit die Nationen sich jeweils aneinander bereichern können. Dafür machen die Staaten internationale Verträge. Schon hier fällt die erste elementare Rolle der Gewalt für den Frieden an: Zwischenstaatliche Verträge unterstellen, dass sich die Staaten wechselseitig als Gewaltmonopol über dessen Land und Leute anerkennen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie zahllose Gebietsansprüche in der Staatenwelt bezeugen und insbesondere, wenn nationale Befreiungsbewegungen sich einen neuen Staat erkämpfen, ist immer die Frage, ob ausländische Mächte die neuen Regierungen auch als neue Herren über Land und Leute anerkennen.

Damit die heimischen Kapitale sich am Ausland bereichern können, müssen allen elementaren Bedingungen des Geldverdienens im Inneren einer Gesellschaft auch nach außen hin Geltung verschafft werden: Das Eigentums- und Vertragsrecht und die Möglichkeit das irgendwo vor Gericht durchzusetzen. Wenn ein deutsches und franzözisches Unternehmen einen Vertrag abschließen, dann müssen der deutsche und franzözische Staat in einem zwischenstaatlichen Vertrag regeln, wo die Unternehmen ihr privates Eigentumsrecht und die Vertragserfüllung zwischen den Unternehmen erzwingen können. Alle Verträge zwischen den Unternehmen (oder sonstige private ökonomische Akteure) unterstellen, dass ihre Staatsgewalten bereits in gesonderten Staats-Verträgen geregelt haben, wie das abzulaufen hat. In diesen Verträgen sind weiter Zölle, Produktrichtlinien, Dienstleistungsvorschriften, Sozial- und Umweltstandards usw. enthalten. Dies sind weitere Hebel dem nationalen Kapital Zugriff auf den ausländischen Markt und zugleich einen gewissen Schutz vor der ausländischen Konkurrenz zu geben. Weil alle erfolgreichen kapitalistischen Staaten das Gleiche wollen – ihre Kapitalisten sollen sich an der anderen Nation bereichern –, stehen sie bei aller vertraglicher „Kooperation“ ständig im Gegensatz.2 Mit anderen nicht so erfolgreichen Staaten werden Verträge gemacht, die für eine billige und zuverlässige Rohstoffzufuhr für die kapitalistische Akkumulation in den Zentren sorgen soll. Hier sichern die zwischenstaatlichen Verträge häufig nicht das Geschäft von privaten Kapitalisten aus den beiden Ländern ab, sondern das Geschäft zwischen privaten Energiemultis und dem Rohstoff-Staat selbst, der ihnen Flächen gegen Pacht zur Verfügung stellt.

Wenn zwei Bürger eines Staates einen Vertrag abschließen, dann ist der Staat, der über sie herrscht, die Instanz, die den Vertrag letztlich mit Gewalt sichert. In den internationalen Beziehungen dagegen sind die Staaten als Vertragspartner zugleich die Instanzen, die für die Durchsetzung der Verträge gegen den staatlichen Vertragspartner sorgen. Den Respekt bei dem „Partner“ müssen sie sich selbst schaffen – letztlich mit der Gewalt, die sich gegen die andere staatliche Gewalt messen lassen kann. Das ist die zweite elementare Leistung der Gewalt im Frieden.

Für bessere Konditionen für das eigene nationale Interesse machen sich die Staaten Angebote und/oder erpressen sich wechselseitig. Auch wenn diese Erpressung vielleicht erstmal nur mit wirtschaftlichen Mitteln (d.h. drohende Handelsvertragsveränderung) passiert, steht das militärische Potenzial allemal mit hinter der Verhandlungsmacht. Schließlich droht dann ein Gewaltmonopol einem anderen Gewaltmonopol eine Schädigung an und das muss man sich leisten können. Soll ein anderer Staat sogar mit einem Embargo zur Vernunft gebracht werden, muss der Staat sogar allen anderen Staaten in der Welt glaubwürdig machen, dass sich ein Mitmachen des Embargos empfiehlt (siehe z.B. die Forderung der USA an China, die Geschäfte mit Nord-Korea einzustellen). Auch hier spielt die Gewalt, die ein Staat als Drohung anderen Staaten gegenüber aufbauen kann, seine zentrale Rolle.

Kurzum: Diplomatie ist zwar nicht dasselbe wie Bomben werfen, sie beruht aber auf der glaubwürdigen Drohung, dies jederzeit tun zu können.

b) Dem internationalen Handel wird allgemein eine friedensstiftende Wirkung nachgesagt. Das stimmt nur sehr bedingt: Wenn die heimischen Kapitalisten sich an Land, Leuten und Geld des fremden Staatswesen bereichern können, dann hat der eine Staat durchaus das Interesse daran, dass der andere Staat als Gewaltmonopol funktioniert. Schließlich soll der mit seiner Gewalthoheit die internationalen Verträge bei sich durchsetzen. Ist das Gewaltmonopol fragil (Stichwort failed state), dann sind die internationalen Abmachungen von vornherein nicht viel Wert. Zudem mögen die eigenen Kapitalisten an einer auswärts florierenden Wirtschaft besser verdienen, als einer kaputt gehenden Ökonomie.

Allerdings sind mit dem funktionierenden Handel die gegensätzlichen nationalen Bereicherungsinteressen nicht aus, sondern permanent in der Welt. Und je mehr der Erfolg der nationalen Wirtschaft auf der Benutzung des Auslands beruht, desto mehr definieren die Staaten ihre elementaren Interessen als vom Ausland abhängig. Und das spornt sie an, sich die anderen Länder verlässlich für die eigenen nationalen Interessen unter Kontrolle zu bringen.

Neben die Bedeutung, die die internationalen Verträge für das nationale Kapital haben mögen, tritt die Bedeutung, dass die Verträge den gegenüberliegenden Staat an einen selbst binden und ggf. andere konkurrierende Staaten ausmischen sollen. Erfolgreiche Staaten definieren dann andere Länder oder gleich ganze Regionen als ihre Einflusszone und begutachten kritisch, dass das auch so bleibt. Und weil die militärische Gewalt ihre Bedeutung eben im Frieden hat, wird die Frage, wie sich der gegenüberlegende Staat mit Waffen ausstattet, zu einer entscheidenden Ecke bei der Frage, ob der andere Staat sich den eigenen nationalen Ansprüchen fügt oder sich als sperrig erweist.

Die Staaten ziehen über ihre diversen Verträge, den Änderungsanträgen begleitet von Angeboten und wirtschaftspolitischer Erpressung und dem jeweiligen Nutzen Bilanz. Sie verdichten ihr Urteil über den Nutzen des fremden Staaten für sich in Bilanz-Urteile: Die Beziehungen zu Land xy sind „freundlich“, „unfreundlich“, „kühl“, „eisig“ oder am Ende der Skala „feindlich“. Andere Urteile über fremde Staaten sind „Bündnispartner“, „Strategischer Partner“ oder „Systemrivale“.

In der Regel berücksichtigen die Staaten bzw. deren Regierungen die dabei vorhandenen wirtschaftlichen und militärischen Machtverhältnisse, welche durch diverse Bündnisse modifiziert werden. Respekt für nationale Anliegen, die andere Staaten berücksichtigen sollen, verlangen sie entlang der relativen Machtverhältnisse. Wer das aus nationalistischer Borniertheit nicht so macht, sieht sich schnell in der Lage, dass ein mächtigerer Staat ihn zum Feind erklärt.

Die Staaten sprechen sich also Rechte in der Welt zu, die mit Ansprüchen anderer Staaten kollidieren, und welche Rechte ein Staat dann tatsächlich auch zum Prüfstein internationaler Beziehungen macht, basiert auf den zugrundeliegenden Kräfteverhältnissen. So schafft staatliche Macht Rechte in der Welt und je mächtiger ein Staat vergleichsweise wird, desto mehr Rechte spricht er sich gegen die anderen zu und will, dass die anderen Staaten diese anerkennen.

Da erheben Staaten den Anspruch, über die wirtschaftliche, militärische oder politische Struktur der Nachbarländer mitzuentscheiden und geraten darüber in Konflikt zu anderen Mächten, die dasselbe beanspruchen (etwa der Konflikt zwischen der NATO/EU und Russland hinsichtlich der Ukraine). Als Weltmacht gilt der Anspruch „selbstverständlich“ global und dieser Anspruch mag von anderen potenten Staaten nicht anerkannt sein (so erheben Russland und China regelmäßig Einspruch, wenn die USA und seine Verbündeten in der UNO mal wieder das Recht offiziell einfordern, ein unliebsames Regime abzusetzen, wie im Irak, in Syrien oder Libyen geschehen).

Krieg liegt dann in der Luft, wenn ein Staat meint, dass ihm zustehende elementare Rechte ignoriert werden und der andere Staat das Kräfteverhältnis falsch einschätzt. Jeder Staat kalkuliert bei internationalen Beziehungen darauf, dass die gegenüberstehende Seite in der Lage ist, durchzurechnen, wie militärische und wirtschaftliche Macht verteilt sind. Soweit beide Staaten die Einschätzung haben, dass die Kräfteverhältnisse (Überlegenheit, Unterlegenheit etc.) halbwegs korrekt vom Gegenüber gewürdigt werden, wird weiter verhandelt. Wenn ein Staat aber meint, dass die eigentlich dem Kräfteverhältnis angemessene Unterordnung des anderen Staates nicht eingehalten wird, dann wird die Beziehung kühl, eisig und schließlich feindlich. Gerade in diesem Moment werden diplomatische Noten ausgetauscht, was das Zeug hält. Weil: Auf Krieg ist kein Staat einfach so scharf. Der Krieg vernichtet Reichtum – bei sich, wie beim anderen Staat – statt dass sich die eine Nation an der anderen bereichern kann. Eine durch überlegene Stärke gewonnene Unterordnung des Gegenübers durch dessen vorausschauende Einsicht ist viel besser als ein durch Waffengang erzwungenes Verhältnis. Vor dem Krieg steht also die diplomatische Drohung mit dem Krieg an.

c) Kommt es zum Krieg, gibt es dafür irgendeinen konkreten Anlass, der sich auch gerne gesucht wird. Der eigentliche Grund des Krieges liegt aber in all den zusammenaddierten Gegensätzen vor dem Krieg, bei denen der Staat den Eindruck hat, dass der gegenüberliegende Staat das Kräfteverhältnis nicht richtig einschätzt. Er sieht die Position, die er sich in der Staatenhierarchie zuschreibt, nicht ausreichend gewürdigt und macht den Übergang, den anderen Staat, der die Anerkennung der beanspruchten Position nicht nachvollziehen mag, militärisch zu schädigen. Dessen Reichtumsquellen werden angegriffen (Land und Produktionsstätten kaputt gemacht, die Untertanen getötet) und das gegenüberliegende Militär soll dezimiert werden, damit der andere Staat seine unterlegene Position endlich anerkennt. Weil es um letzteres geht und nicht einfach um kriegsgeiles Abschlachten, wird während des Krieges fortlaufend diplomatisch weiter verhandelt im Sinne von „siehst du es jetzt endlich ein?“. Dieses „es“ hat dann immer eine doppelte Bedeutung: Einerseits hat das „Es“ konkrete Inhalte, etwa die Anerkennung eines strittigen Grenzverlaufs oder der Verzicht auf die Beschaffung bestimmter Waffen. Zugleich stehen diese konkreten Inhalte für ein abstrakteres Prinzip: „Seh ein, dass deine Souveränität unterhalb meiner Souveränität liegt.“

d) Der Krieg endet dann wiederum mit Diplomatie. Die Waffen schweigen, wenn der Krieg entweder so gewonnen ist, dass die andere Seite in die ursprünglichen oder auch in zusätzliche, während des Krieges gemachte Forderungen einwilligt. Oder aber der andere Staat kapituliert vollständig. So ist das Kräfteverhältnis praktisch neu entschieden und der Inhalt des Friedens ist dann immer bestimmt durch das Diktat des Siegers. Die Über- und Unterordnungsfrage ist praktisch geklärt. Damit das auch länger so bleibt, sind in den Verträgen am Ende des Krieges in der Regel lauter Abrüstungs- oder Rüstungsbeschränkungsregeln für den Verlierer enthalten. Genau wegen des Wissens des Siegers darum, welche Bedeutung Militärstärke im Frieden hat, wird diese in weiser Voraussicht bei dem Verliererstaat beschränkt (das hat das Deutsche Reich nach dem ersten Weltkrieg und die BRD nach dem zweiten Weltkrieg erfahren).

e) Wegen des Wissens um die Bedeutung der Gewaltmittel im Frieden drehen sich sehr viele zwischenstaatliche Verträge oder Streitfragen um die Rüstungsbemühungen der Staaten. Fortschritte in eine kriegerische Auseinandersetzung entzünden sich dann weniger entlang bestimmter wirtschaftspolitischer Fragen, sondern vor allen entlang von Fragen um Kriegsgerät. Nord-Korea und Iran wollen das von der USA beanspruchte Recht, in ihren Regionen in Ordnungsfragen entscheidend mitzubestimmen, nicht anerkennen. Damit handeln sie sich die Feindschaft der USA ein und sehen sich einer permanenten Kriegsdrohung ausgesetzt. Nicht um die USA zu überfallen, wohl aber um einem potentiellen Überfall der USA auf sich selbst eine hohe Schadensbilanz für die US-Streitkräfte entgegenzusetzen, bemühen oder bemühten sie sich um Atomwaffen (aus demselben abschreckenden Grund bemühen sich viele Staaten um Chemiewaffen). Diese Bemühungen sorgen dann für einen neuen konkreten Kriegsgrund, weil die überlegenen Staaten oder die USA eben genau das nicht wollen: ihre Kriegsführungskalkulation mit potentiellen hohen menschlichen und materiellen Opfern zu beschweren.

f) Nach einem Krieg ist wieder Frieden und die Staaten belämmern sich mit ihren gegensätzlichen Interessen auf Grundlage der neuen Über- und Unterordnung. Auch der Verlierer kann sich was rausnehmen, aber eben nur relativ zu dem neuen Kräfteverhältnis – sonst steht der nächste Waffengang an. Für den Sieger kann der Waffengang ein Mittel des nationalen Bereicherungsinteresses sein – selbst wenn er viel Geld ausgegeben und viele Soldaten verloren hat. Nämlich dann, wenn ihm durch den Krieg eine Machtdemonstration gelungen ist, die den Kriegsgegner, aber auch andere Staaten in – für ihn – bessere Über- und Unterordnungsverhältnisse eingruppieren. Dann lässt sich der Rest der Welt nämlich besser für die nationale Reichtumsvermehrung erschließen und benutzen. Manchmal haben Kriege aber auch ein Unentschieden zum Resultat, d.h. die Staaten einigen sich diplomatisch darauf, dass derzeit keine Seite gewinnen kann. Statt die Vernichtung von Reichtum fortzusetzen – was sich die Staaten auf Dauer nicht leisten wollen, weil andere Staaten wie die Geier auf die Kräfteverzehrung lauern – vereinbart man einen Waffenstillstand ohne eine große Veränderung der vor dem Krieg bestehenden internationalen Verträge. Frieden ist angesagt, weil der Krieg für die Staaten derzeit keinen Sinn macht, und im Frieden wird sich bemüht, mittels neuer Aufrüstung oder Bündnispartner den alten Streit dann doch nochmal irgendwann zu „lösen“. Die Staaten arbeiten dann auf einen Zustand hin, in dem der Krieg wieder Sinn macht, also gewonnen werden kann.

Fazit: An allen Etappen des zwischenstaatlichen Verkehrs zeigt sich, dass Gewalt wie Diplomatie zu jeder Zeit Mittel kapitalistischer Staaten sind und dass beide Mittel zeitgleich zum Einsatz kommen, weil sie notwendig zusammengehören.

 

2Über das aktuelle kriegsträchtige Ringen um den Frieden siehe den Text „Si vis pacem para bellum – Wer Frieden will rüste sich zum Krieg (Platon, Cicero, Russland, Ukraine, NATO, EU)“; https://gegen-kapital-und-nation.org/aktualisiert-si-vis-pacem-para-bellum-wer-frieden-will-rüste-sich-zum-krieg-platon-cicero-russland-ukraine-nato-eu/
Über den Zusammenhang der Weltwirtschaftsordnung und dem immensen Waffenhaushalt der Staatenwelt siehe „Was ist Imperialismus?“; https://gegen-kapital-und-nation.org/was-ist-imperialismus/