11.02.2023 PDF

„Der Kanzler marschiert“ (FAZ) – was ein Leopard 2 so alles leistet (Text und Audio)

 

Wie bekämpft man eine Atommacht, ohne dass es zu einem Atomkrieg kommt? Die Diskussion um, der Streit über und letztlich die Einigung auf die Lieferung von Leopard 2-Panzern an die Ukraine war nicht das erste Mal, dass die NATO-Staaten eine widersprüchliche Kriegsstrategie versuchen, in für sie gangbare Formen zu bringen. Dieses Kriegs-Projekt ist – so die erste These dieses Textes – einerseits Grund für ein Fortschreiten der NATO mit angezogener Hand-Bremse; und zugleich der Grund für eine Beschleunigung in Sachen Waffenlieferungen durch die NATO. Zugleich zeigen die politischen Diskussionen innerhalb der NATO, dass die NATO-Staaten parallel immer mit einer zweiten Frage beschäftigt sind, nämlich: Was sind die berechtigten Ansprüche und die damit verbundenen Pflichten einer echten Führungsmacht innerhalb des NATO-Bündnisses, bzw. hat eine Führungsmacht überhaupt Pflichten gegenüber den Angeführten? Der Inhalt – Führungsmacht-Sein(-Wollen) und die Anerkennung dieses Status von den untergebenen Partnern – ist ein zweiter Grund, welcher die Geschwindigkeit der Eskalation im Krieg gegen Russland (den die NATO-Staaten offiziell ja gar nicht führen) bestimmt. So die zweite These dieses Textes.

Mehr Zerstörungskraft für welchen Krieg?

Russland hat die Ukraine mit einer doppelten Zielsetzung angegriffen:

Erstens soll die Regierung in der Ukraine abgesetzt werden. Diese und deren Vorgänger sind seit dem Maidan 2014 mit einem nationalen Aufbruchsprogramm beschäftigt. Dieses sieht erstens eine entschiedene Ausrichtung des Landes auf den Westen und zweitens eine ukrainische Identitätsstiftung vor, die einem antirussischen Kulturnationalismus gleichkommt (Sprachen-, Kirchen-, und Erinnerungspolitik). Russland sieht die Ukraine als Vorhof an, will diese Westausrichtung vor allem aus militärstrategischen Überlegungen unterbinden und die russischen Kulturelemente in der Ukraine „retten“. Letzteres soll langfristig die Bevölkerung und Politiker*innen in den ukrainischen Gebieten sittlich an Russland binden. Dafür hat es in der östlichen Ukraine autonome Republiken ausgerufen und wahlweise sich Gebiete gleich aneignet. Für den Westen der Ukraine sieht Russland eine Regierung in Kiew vor, die einen russländisch verbundenen Charakter der Ukraine (wieder-)herstellt. Wegen dieses Zieles (es gibt auch noch weitere Gründe) hat Russland bislang den Krieg nicht durch seine atomare Überlegenheit einfach entschieden – weil dies die ukrainischen Gebiete und Menschen, die Russland ja auf sich ausrichten und benutzen will, dauerhaft verwüsten und vernichten würde.1

Zweitens richtet sich dieser Krieg von Russland gegen die Ukraine zugleich gegen die NATO. Der Krieg dient als Mittel gegen die territoriale Ausbreitung der NATO an einer langen Grenze zu Russland. Russland will ein kapitalistisches Land sein, so wie die westlichen Länder auch. Russland hat sich seit der Selbstabschaffung der Sowjetunion bemüht, in den Kreis der kapitalistischen Großmächte als weitere Großmacht aufgenommen zu werden und hat hier vom Westen letztlich immer wieder eine Abfuhr erhalten. Dann hat Russland eine Kehrtwende gemacht und versucht, sich mit militärischen Mitteln international Respekt zu verschaffen.

Einerseits kann man sagen: Mit einem gewissen Erfolg insofern als dass alle Kriegsentscheidungen der NATO bzw. der USA dem atomaren Großmachtstatus Russlands Respekt zollen, da dieser tatsächlich immer einbezogen wird. Das war in Syrien so, das ist heute in der Ukraine so.

Anderseits kann man sagen: Relativ erfolglos insofern als dass dieser Respekt nur sehr bedingt gezollt wird, zum Beispiel wenn Russlands Anträge auf eine europäische Sicherheitsarchitektur einfach abschlägig beantwortet werden. Der Respekt, den der Westen Russland zollt, ist daher nur strategischer Natur: Für das Ziel, den Status Russland als militärische Weltmacht langfristig zu beseitigen, wird mitbedacht, dass Russland eine Atommacht ist.2

Der Westen ist sich einig:

Die Ukraine soll sich dem russischen Angriff mindestens anhaltend militärisch widersetzen können.

Russland soll anhaltend durch Wirtschaftssanktionen geschwächt werden.

Die NATO-Länder wollen nicht mit eigenen Soldat*innen Kriegspartei werden.

Der Krieg soll nicht in einen atomaren Austausch übergehen.

So will der Westen diesen Krieg.

Die strategische Frage des Westens: Wie bekämpft man eine Atom-Macht effektiv?

Hinsichtlich der strategischen Entscheidungen der NATO in diesem Krieg steht die Drohung Russlands im Raum, dass es eine direkte Beteiligung von NATO-Streitkräften mit atomaren Schlägen beantworten würde. Dieselbe Drohung wurde auch für einem nicht definierten Grad an Waffenhilfen für die Ukraine ausgesprochen.

Vor diesem Hintergrund finden die westlichen Waffenlieferungen und die Debatten darum statt. So hat die Ukraine von Anfang an nicht alles bekommen, was sie sich gewünscht hat; insbesondere Waffensysteme, mit denen sie auch russisches Territorium angreifen könnte, wurden ihr verwehrt. Nach und nach hat sie aber doch immer mehr und immer leistungsstärkere Verteidigungs- und Angriffswaffen bekommen,. Dadurch wurde das russische Kriegsziel eines „Regime Change“ in Kiew bislang verhindert. Die Ukraine hat es bisher aber auch kaum wirklich nach vorne gebracht, mit dem von der NATO kalkulierten Resultat eines langen Abnutzungskrieges.

Trotz der bisherigen Waffenunterstützung seitens der NATO an die Ukraine ist Russland auch im konventionellen Krieg der Ukraine überlegen, muss dafür aber nach und nach Abstriche machen bei einem ursprünglichen Kriegsziel. Um nicht missverstanden zu werden zunächst ein deutlicher Hinweis: Russland ist eine militärische Weltmacht und führt – wie andere Staaten auch – den Krieg aus freier nationaler Berechnung und Entscheidung. Das Folgende soll daher nur auf eine objektive Binnenlogik dieser freien Entscheidung hinweisen: Um sich gegen die durch den Westen aufgerüsteten ukrainischen Streitkräfte zumindest Stück für Stück durchzusetzen, muss Russland die Ukraine immer brutaler bombardieren.

Für die Wiedergewinnung der nationalen Herzen in der Ukraine für die russische Seele ist das kontraproduktiv. Russland nimmt dies aber auch nicht zum Anlass, mit den Bombardements aufzuhören; denn der zweite Kriegszweck – die NATO von sich fernzuhalten – hat eine ebenso große, wenn nicht größere Bedeutung. Zudem mögen ja manche Ukrainer*innen ihre nationalistische Meinung auch auf lange Sicht nach einem gewonnenen Krieg ändern, wenn sie nur dauerhaft unter einem russisch angeleiteten Staatswesen und dessen Erinnerungskultur gebildet werden... So vielleicht die Rest-Spekulation der Führung in Russland.

Aber es bleibt dabei: Ein Kriegsziel Russlands wird durch die Waffenlieferungen des Westens zunehmend prekärer. Auf dieser Basis betreibt der Westen jetzt anhaltend seine Salami-Taktik, immer ein bisschen leistungsstärkere Waffen an die Ukraine zu liefern, damit Russland sich in der Ukraine nicht durchsetzt und in einen Ressourcen-verschleißenden Abnutzungskrieg verwickelt bleibt.

Bei dem Vorgehen bezüglich der Waffenlieferungen gibt es im Westen verteilte Rollen, die nicht ein Drehbuch-Autor geplant hat, sondern die die Widersprüchlichkeit der NATO-Strategie (eine Atommacht militärisch bekämpfen (lassen) und keinen Atomkrieg wollen) mit Betonungsunterschieden wiedergeben:

Soll man in der Praxis zurückhaltend eskalieren oder unterhalb einer bestimmten Zurückhaltung tatkräftig eskalieren?

Insbesondere Deutschland (hier wiederum der Kanzler und die SPD) sowie die USA betonen immer wieder, dass man einen Übergang in die Verwicklung von NATO-Streitkräften und einem atomaren Austausch nicht wolle. „Daher“ soll bei jeder neuen Waffengattung, deren Lieferung zur Diskussion steht, abgewogen werden – was dann seine Zeit dauert. Das „daher“ ist dabei natürlich eine gewagte Annahme, weil allen klar ist, dass Russland jederzeit den Übergang in den atomaren Austausch androht und machen kann; die „rote Linie“ ist eben seitens Russland nicht klar definiert... Die „zurückhaltenden“ NATO-Partner wollen den Übergang in den atomaren Austausch nicht, nehmen ihn aber als Risiko spekulativ gleichwohl in Kauf.

So ist es nicht verwunderlich, dass es Staaten gibt, die eine vergleichsweise härtere Linie bzgl. des Engagements des Westens vertreten, etwa Polen, Großbritannien und die baltischen Staaten. Sie entnehmen der Strategie der USA und Deutschland, dass sie ein Brinkmanship-Manöver einkalkulieren: „Die Fähigkeit, bis an den Rand eines Krieges zu gehen, ohne in einen Krieg zu geraten, ist eine notwendige Kunst. (…) wenn man Angst davor hat, bis an den Rand des Abgrunds zu gehen, ist man verloren.“ (ehemaliger US-Außenminister John Foster Dulles zu Zeiten des Kalten Krieges).3 Wenn der Westen in seiner Strategie sowieso darauf spekuliert, dass Russland den Übergang zu Atomwaffen nicht machen wird, weil es mit einem atomaren Austausch nur dafür sorgen kann, dass der Westen vernichtende Schläge erhält, dabei aber selber ebenso vernichtet wird, dann sei es verkehrt, bei Waffenlieferungen zögerlich zu sein. Freilich nehmen diejenigen Staaten, die eine härtere Linie fordern, das nicht zum Anlass, dann gleich die ukrainische Armee mit eigenen Soldat*innen in der Ukraine auf dem Schlachtfeld zu unterstützen. Einerseits ist das bequem – so sehen das auch Deutschland und die USA –, wenn andere Leute als die Eigenen für die eigene Sache (Russland klein machen) sterben. Andererseits scheint darin auch wieder die Rücksichtnahme auf die Atommacht Russland durch. Auf ihre Weise wollen die Staaten, die für eine härtere und schnellere Gangart plädieren, den Übergang in den atomaren Austausch auch nicht, nehmen ihn aber spekulativ ebenfalls in Kauf.

Neben diese strategischen Debatten tritt dann eine zweite Debatte:

Der Kampf um die Anerkennung als Führungsmacht

Es gab eine eigentümliche Episode im Rahmen der Frage, ob und wie Leopard 2-Panzer, die nächste stärkere Kriegswaffe, an die Ukraine geliefert werden sollten.

Polen wollte dies tun, hat aber im Rahmen der Rüstungsexportgewohnheiten quasi nur das Nießrecht an den Panzern. Polen darf und kann sie benutzen, es darf sie aber nicht ohne Zustimmung von Deutschland weiterverkaufen oder verschenken. Noch bevor Polen offiziell den Antrag an Deutschland gestellt hat, hat es lautstark verkündet, dass der Export an die Ukraine jetzt anstehen würde (und somit genehmigt werden müsse). Deutschlands Kanzler hat hier erstmal zurückhaltend reagiert und sinngemäß gesagt: Wir können darüber reden, aber ich will mich mit den USA abstimmen; nur wenn die USA Panzer mit gleicher Zerstörungskraft an die Ukraine liefert, würde Deutschland zustimmen. Daraufhin hat Polen gegen Deutschland gestänkert: das sei zu zögerlich, und hat schließlich signalisiert, dass es dann auch im Alleingang die nächste Eskalation durchziehen könnte.

Polen benutzt bei dieser Aktion den Anspruch Deutschlands, mit der Zeitenwende jetzt auch eine europäische militärische Führungsmacht werden zu wollen und hält diesen Anspruch gegen Deutschland: so zögerlich kann Deutschland seiner Führungsrolle nicht gerecht werden, es solle gefälligst Verantwortung übernehmen. Das Ganze ist natürlich ein äußerst widersprüchliches Manöver, weil ein Führer eben führt und sich nicht von den Angeführten drängen lässt. Es ist ja auch klar, dass Polen den Führungsanspruch Deutschlands in Europa nur pragmatisch, aber nicht prinzipiell akzeptiert. Insofern ist das Drängen Polens zugleich ein Absprechen der Führungsposition Deutschlands, auch wenn es sich auf diesen Titel positiv bezieht. Und indem es der Ukraine vorweg eine Lieferung von Leopard 2-Panzern ohne deutsche Zustimmung in Aussicht stellt, zeigt es an, dass es auch so Deutschlands Führungsanspruch unterminieren kann: denn ein Führer, der die Angeführten nicht kontrollieren kann, ist kein Führer.

Die ganze Frage nach der Anerkennung als Führungsmacht innerhalb des westlichen Bündnisses geht natürlich auch noch eine Nummer höher:

Den deutschen Kanzler und seine Partei treibt eine weitere Überlegung um: Die eh schon prekäre Strategie gegen Russland beruht auf der Spekulation, dass Russland in seinen Kriegsentscheidungen die Entschlossenheit aller NATO-Staaten zur NATO-Beistandsverpflichtung als gegeben unterstellt. Hier kommt es vor allem auf die militärisch ausschlaggebende USA an. Wenn ein europäisches Land vorprescht und Russland nur theoretisch überlegt, sich dieses Land für ein Exempel seiner Macht auszusuchen, dann soll es davon ausgehen, dass die USA hinter der NATO-Bündnisverpflichtung steht. Aber kann sich der deutsche Kanzler da eigentlich sicher sein? Ohne die USA haben die europäischen Länder (insbesondere Deutschland als Nicht-Atom-Macht) nicht viel gegen Russland in der Hand. Und ob die USA mit Biden als Präsident dann tatsächlich eingreifen würde, ist trotz aktueller Beteuerung nicht ohne Weiteres sicher. Mit einem potentiellen republikanischen Präsidenten wird es eher noch zweifelhafter. Hier hofft Scholz zumindest relative Sicherheit zu schaffen, wenn er versucht, die USA für die neuen Eskalationsstufen an Waffenlieferungen mit ins Boot zu holen: Wenn die USA Abrams-Panzer (also das leistungsstarke US-Äquivalent zum Leopard 2 aus deutscher Waffenschmiede) liefert, dann lässt Deutschland zu, das Leopards in die Ukraine kommen – aus eigenen Beständen oder durch die EU-Nachbarn. Ein Vorpreschen ohne den praktischen Gleichschritt durch die USA hält er dagegen für ein schlechtes Signal an Russland, weil interne Bündnisverpflichtungen – wie immer bei zwischenstaatlichen Abmachungen – letztlich beachtet werden oder nicht.

Diese Verknüpfung hat dann die USA sehr verschnupft aufgenommen. Jetzt bedrängt die angehende Führungsmacht in Europa die NATO-Führungsmacht, und das steht Deutschland aus Sicht der Führungsmacht USA nicht zu. Nach ein wenig Hin und Her macht die USA jetzt aber mit Deutschland und den anderen Scharfmachern wieder einmal gemeinsame Sache. Der Abnutzungskrieg, wie er gewollt wird vom Westen, geht – mit dazugehörigem Brinkmanship-Manöver – in die nächste Runde. Biden hob laut FAZ aber noch „hervor, dass Deutschland ihn nicht gezwungen hätte, seine Meinung zu ändern.“4

Was ist eine Führungsmacht?

Auf ihre Weise zeigen die verbündeten NATO-Staaten, worauf es in der internationalen Politik ankommt. In der einen Richtung geht es so: Staaten bemühen sich mit anderen Staaten Abkommen zu schließen, damit sie selbst oder ihre Unternehmen auswärtige Landstriche, Leute, Geldreichtümer oder Staatsgewalten benutzen können. Ob Fachkräfte, Exportmärkte, Waffen oder schlicht das Ziel, unerwünschte Migrant*innen fern zu halten – bei jedem speziellen Thema geht es immer wieder um die Frage, wie eine Regierung fremde Staatsgewalten für sich nutzbar machen kann. Dieser Wille zur Nutzbarmachung führt dann zum Willen, die fremde Staatsgewalt zu kontrollieren, damit der Nutzen verlässlich bleibt und ggf. erweitert werden kann.5 Ob und wie gut das gelingt, hängt davon ab, welche Abhängigkeiten der Staat stiften kann und in welche Abhängigkeiten der Staat dabei selbst gerät. Im Falle Deutschlands kann man beispielsweise von einer ökonomischen Führungsmacht in Europa sprechen, weil es Deutschland mit seiner Kreditmacht gelingt, alle ökonomischen Entscheidungen der sonstigen Staaten auf sich zu beziehen. Ohne Deutschlands Zustimmung bewegt sich an den ökonomischen Regeln in Europa bzw. in der EU kaum etwas. Eine europäische militärische Führungsmacht will Deutschland aber mit der Zeitenwende erst jetzt werden – während die USA dagegen ohne Zweifel schon eine ist. Einer Führungsmacht in der Staatenwelt ist es gelungen, dass andere Staaten in ihrer Außenpolitik immer wieder bei ihr anklopfen und um Unterstützung bitten, weil die angeführten Staaten die überlegene Position der Führungsmacht für sich benutzen wollen; und weil eine Politik gegen die Interessen der Führungsmacht i.d.R. schädliche Reaktionen nach sich ziehen würde (z.B. keinen Gesprächszugang auf Ministerebene bei zukünftigen Anfragen oder Sanktionen). Einer Führungsmacht in der Staatenwelt gelingt es, Unterstützungsfragen anderer Staaten in solche Bahnen zu bringen, dass letztlich das eigene nationale Interesse wesentlich zum Zuge kommt.

Von diesem Standpunkt aus geht jetzt die Reise zurück in die andere Richtung: Die Führungsmacht beäugt jedes besondere Thema (Lizenz zum Waffenliefern, Zollpolitik oder etwa die Frage eines Grenzregimes) entlang der Frage, ob in der Verhandlung des besonderen Themas der gebührende Respekt des anderen Staates zum Ausdruck kommt, also der Status als Führungsmacht anerkannt oder eher abgesprochen wird. Und angeführte Staaten beäugen, ob es einer Führungsmacht gelingt, sich den Respekt dauerhaft zu schaffen bzw. ihn zu erhalten, weil erstere danach entscheiden, welchen Respekt sie (noch) gewillt sind, aufzubringen.

Bezogen auf die Debatte über Waffenlieferungen in die Ukraine kann man also festhalten: Die ganze Sache schnürt sich vom Ende zum Anfang wieder zusammen. Ein Krieg, in dem es allen Beteiligten (Russland, Ukraine, NATO-Staaten) um Unter- und Überordnungsfragen zwischen Staaten geht, bekommt zusätzliches Feuer durch die Frage der betreffenden NATO-Partner, ob der eigene Staat eigentlich eine gute Führungsmacht gegenüber anderen Staaten ist, also sie gut bei- und unterordnen kann. Oder ob der gute eigene Staat am Ende nicht eher von anderen Staaten bei- und untergeordnet wird.

Was den Bundestag bewegt: Die Bilanz der ganzen Debatte für den allseitig gewünschten Führungsanspruch Deutschlands

War es jetzt eine lange mit allen Partnern abgestimmte Entscheidung von Olaf Scholz oder war der Druck der Verbündeten am Ende schlicht zu groß?“. So leitet der Deutschlandfunk seinen Bericht über die Bundestagsdebatte am 25.01.2023 ein. Das Hauptinteresse liegt also ganz bei der Frage, ob der deutsche Führer ordentlich führt („Entscheidung“) oder Deutschland am Ende doch von ausländischen Führern geführt wird („Druck“). Und das war ja auch das Hauptthema der Bundestagsdebatte:

Die CDU/CSU findet die Entscheidung Leopard 2-Panzer zu liefern richtig, moniert aber Richtung Bundeskanzler:

Florian Hahn: „Sie haben außerdem vor Kurzem gefordert, dass Deutschland eine Führungsrolle übernehmen soll und wir die stärkste Armee in Europa stellen sollen. Ich frage mich: Wann wollen Sie Ihr Wort tatsächlich halten?“6

Friedrich Merz: „Wir haben allerdings eines von Ihnen erwartet – und diese Erwartung setzt sich fort –: Abstimmung in solchen Fragen mit unseren Partnern in der NATO und in der Europäischen Union; nicht eine Bundesregierung, die getrieben werden muss. Dass sie getrieben worden ist, haben doch die Ereignisse über den Jahreswechsel nun in aller Deutlichkeit gezeigt (…).“7

Jürgen Hardt: „Wir haben in den letzten Wochen beobachtet, dass nicht etwa der Bundeskanzler andere animiert und ermutigt hat, etwas zu tun, sondern, im Gegenteil, andere immer lauter und immer schonungsloser diese Forderung an die Bundesregierung gerichtet haben.“8

Das sind Sorgen! Da findet ein Gemetzel in der Nachbarschaft statt mit dem guten Potential für einen Übergang in den Atomkrieg, an dem man sich beteiligt. Und die CDU/CSU treibt die Sorge um, dass Deutschland ein schlechter Führer sei, ja sogar ein bloß Angeführter. Man kann vermuten, dass der Umstand, dass ausgerechnet osteuropäische Staaten (Polen und baltische Staaten) Deutschland bedrängen, der ganzen Debatte Pfeffer gibt, weil Osteuropa im Selbstbewusstsein deutscher Politiker*innen eine bei- und untergeordnete Rolle zugewiesen wird. Die CDU/CSU interessiert, ob Deutschland entlang des Krieges Kapital schlagen kann in Sachen andere Staaten für die eigenen nationalen Interessen bei- und unterordnen. Sachgerecht verlängern diese Parteien den Kampf um den Bundeskanzlerplatz – also dem obersten Posten der Gewalt über das Gebiet Deutschland – in die Frage, ob der Bundeskanzler überhaupt ausreichend dafür Sorge trägt, dass die deutsche Macht auch gegen die Nachbarländer wirksam wird. Dieses Anliegen teilen freilich die Koalitionsparteien – mit dem Unterschied, dass ihrer Einschätzung nach Deutschland hier doch gar nichts anbrennen lässt:

Alexander Müller (FDP): Wir brauchen uns auch international nicht zu verstecken. All diesem Gerede, dass Deutschland angeblich zu lahm wäre und nichts machen würde, steht die Tatsache entgegen: International stehen wir vom Volumen der militärischen Unterstützung her auf Platz drei, und von der finanziellen Unterstützung her sind wir mit 28,3 Milliarden Euro sogar auf Platz eins. Also, Deutschland tut wirklich viel.“

Also genug, um den Anspruch einer europäischen Führungsmacht zu untermauern, belegt durch die Platzierungen auf einer Siegertreppe.

Die AfD hält eine Konfrontation mit Russland für nicht gewinnbar und die Politik der Bundesregierung für das Gegenteil einer Führungsmacht:

Tino Chrupalla (AfD): „Wie sieht es denn aktuell mit der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr aus? Oder sind wir nun vollends von Allianzen und Bündnissen abhängig? (…) Der Krieg findet wieder vor unserer Haustür statt. Unsere sogenannten Freunde aus den Vereinigten Staaten heizen die Situation immer weiter an. Deren Rüstungsindustrie macht wieder gute Geschäfte und kann die maroden Staatsfinanzen sanieren. Schließlich müssen sie, die USA, sich nicht um die Sicherheit ihres Kontinents sorgen. Aber die Sicherheit ist auf dem Kontinent Europa in Gefahr. Und genau damit muss Schluss sein!“9

Die AfD lehnt diesen Krieg ab, weil in ihrer Einschätzung für Deutschland nichts zu holen ist. Ansonsten sind sie für eine gewaltige Aufrüstung zu haben, aber eben von Deutschland und nicht von der Ukraine. Die AfD hebt einen Punkt innerhalb der Strategie der Bundesregierung besonders hervor: Scholz praktischer Gleichschritt mit den USA soll ein Signal Richtung Russland sein. Dabei ist unterstellt, dass die Bündnisverpflichtung der USA nicht zu 100% sicher ist. Und Russland könnte wiederum – wie es sich auch laut westlichen Strategen (Brinkmanship) im Krieg gehört – risikobewusst auf den Nicht-Beistand seitens der USA spekulieren. Die AfD interpretiert dieses gesamte Was-Wäre-Wenn-Paket als: Die Bundesregierung mache mit ihrer ganzen Politik Deutschland unsicher. Darüber hinaus hebt die AfD hervor, dass die Versicherung des US-Beistandes aktuell wie zukünftig einen Preis haben wird. Deutschland muss für die USA etwas leisten, wenn die USA für Deutschland etwas leistet. Das ist für die AfD gleichbedeutend mit dem Verlust der Souveränität von Deutschland; und ohne Souveränität könne man eh nicht führen.

Aus Sicht der Regierung ist freilich der Standpunkt der AfD provinziell und das Gegenteil eines souveränen Deutschlands. Deutschlands Macht beruht auf der ökonomischen Benutzung der ganzen Welt und dann muss man für die Machterhaltung und -erweiterung bei der Ordnung der Staatenwelt und den dazugehörigen Kriegen dabei sein. Das sei dann echte Souveränität.

Ganz gut lässt sich hier aber erkennen, dass die AfD direkt an den demokratischen Erfolgsweg Deutschlands anknüpft und dessen Geistes Kind ist: Wenn jede Debatte immer wieder in die Frage um die Führungsmacht Deutschland mündet (in anderen Feldern geht es ja auch nicht anders zu, man denke an die Debatten um die Technologieführerschaft in diversen Bereichen), muss man sich nicht wundern, dass es genügend Politiker*innen gibt, die sich in einer Partei versammeln, die „Deutschland zuerst!“ zu ihrem Hauptprogramm macht.

Ein Fazit aus der Spirale des Führungsanspruchs

Russland will mit dem Krieg gegen die Ukraine seinen Status als militärische Weltmacht behaupten. Der Status wird vom Westen einerseits bestritten und andererseits in der Art der Kriegsführung (bzw. Unterstützung der Ukraine) fortlaufend antizipiert. Der Westen testet mit der nach und nach höheren Dosierung der Waffenlieferung aus, ob es gelingt den Frosch zu kochen, also die Wärme des Wassers nach und nach erhöhen, ohne dass der Frosch aus dem Wasser springt. Der Frosch in diesem culinarischen Bild, dass durch die Presse geisterte, ist Russland und das Springen aus dem Topf ist der Einsatz von Atomwaffen. Das ist für sich schon wahnsinnig genug.

Hinzu tritt eine Beschleunigungsmaschine in den Abgrund, die die strategischen Überlegungen zum Stoff haben, diesen Stoff aber begleitend anreichern: Mitten im Gemetzel, das gerade stattfindet, leisten sich die NATO-Staaten einen An- und Aberkennungswettbewerb in Sachen Führungsmacht. Es ist den Staaten völlig selbstverständlich, dass der Krieg eine Gelegenheit ist, in der Staatenhierarchie aufzusteigen oder seinen Platz zu behaupten.

So kann man insgesamt festhalten:

Gewaltmonopole ringen um ökonomische und militärische Führung, weil die Gewalt und die ökonomische Macht das ist, was in der Welt zählt. Und wer sorgt dafür, dass dies in der Welt zählt? Niemand anderes als die Staaten selbst.

Dafür werden die Bevölkerungen der Welt eingespannt: als ökonomische oder soldatische Ressource von den Staatsführungen verplant.

Wem das zuwider ist, kann sich in seiner derzeitigen Ohnmacht angesichts des patriotischen Sachverstandes folgendes Lied nochmal zu Gemüte führen:

https://www.youtube.com/watch?v=Trb-P-y6V8E&list=RDTrb-P-y6V8E&start_radio=1

 

1Zum nationalistischen Programm gegenüber der ukrainischen Bevölkerung siehe den Text „Putin erklärt den Krieg: Nationalismus in seiner tödlichen Konsequenz“.

3Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Brinkmanship; eingesehen am 25.01.2022.

4FAZ, 26.01.2023, S. 1.

5Siehe zu diesen Gedanken das ausführliche Skript „Was ist Imperialismus?“

6Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 25. Januar 2023, S. 9645. https://dserver.bundestag.de/btp/20/20081.pdf; eingesehen am 26.01.2023.

7Ebd., S. 9671.

8Ebd., S. 9684.

9Ebd., S. 9673.