20.04.2022 PDF

Von Lenin zu Lucke, Teil 3: Deutschland, aber gefälligst „normal“!

 

Disclaimer: Der Text wurde von der Frankfurter Gruppe von GKN – Antinationale Linke in Frankfurt (ALiF) – verfasst. Auf diesen Text konnten sich GKN insgesamt nicht einigen, da es Dissense über die Herleitung der Gedanken aus dem üblichen linken Denken gab, und über die Einschätzung, wie die Abweichungen von Wagenknecht zur üblichen linken Politik qualitativ einzuschätzen sind. Link zu Teil 1. Link zu Teil 2.

 

Seit der Selbstaufgabe des Staatssozialismus hat die politische Rechte vier große Themen: Umweltschutz, „Genderismus“, Anti-Rassismus und Migration.

Rechte fahnden inzwischen zumeist nicht mehr nach angeblich vaterlandslosen Gesell*innen, die durch Klassenkampf die nationale Einheit zersetzen und sich am heiligen Privateigentum vergreifen würden. Heute haben Rechtsliberale, Konservative, FaschistInnen und Nazis und was es an rechtem Pack noch so gibt, neue Bedrohungen für ihr tolles Vaterland ausgemacht.

Auf den Zug, Ökologie sei nur wirtschaftsfeindliches Geschwätz und die Erderwärmung kein wirkliches Problem, springt Wagenknecht nicht auf. Sie wirft zwar den „Lifestyle-Linken“ auch in diesem Thema einiges vor, aber sie bestreitet keine Tatsachen und nennt einen besseren Umgang mit der Natur explizit als eines ihrer Ziele, auch wenn es da bei recht abstrakten Absichtsbekundungen bleibt.

Bei den anderen Themen bedient sie hingegen fast alle rechten Ressentiments, die sich im 21. Jahrhundert so finden lassen.

1. Rechte aller Schattierungen haben schon lange den Verdacht gehabt, dass die Infragestellung der angeblich natürlichen geschlechtermäßigen Ordnung ein einziger Anschlag auf die Moral und die Funktion von Frauen als nationale Nachwuchsproduzentinnen und Männern als tauglichem Kanonenfutter ist. In der Tradition des Kampfes vaterländischer Sittlichkeitsvereine gegen die freie Liebe und den Feminismus wittern allerhand Patriot*innen unterschiedlichster Couleur Gefahr: Da wird doch glatt behauptet, dass es mehr als zwei Geschlechter gäbe; ja, dass weder die Geschlechtlichkeit noch das sexuelle Begehren durch den Körper, in den mensch geboren wurde, bestimmt sei. Und dass Menschen sich aussuchen können und können sollten, was sie sein wollen, wie sie leben wollen und mit wem sie Sex haben. Aber nicht nur das: Zudem soll die Gesellschaft auch noch darauf verpflichtet werden, Menschen nicht zu benachteiligen oder auszustoßen, wenn sie sich anders entscheiden als für die typische Hetero-Zweierkiste plus Nachwuchs. Wagenknecht nun hält es für völlig abwegig, dass „das Geschlecht als ‚gewalthafte Zuweisung‘ der ‚heteronormativen Gesellschaft‘ dekonstruiert“ (S.103) werden könnte, und versteht, warum sich Leute „auf den Arm genommen fühlen, wenn ihnen die Propheten der Gender-Theorie erzählen, dass es keine biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau mehr geben soll“. Dass Leute „nicht von ihrer ‚heterosexuellen Matrix‘“ erlöst werden wollen, findet sie völlig okay (S.196). Denn wenn die Mehrheit der Bevölkerung dafür ist, dass ‚richtige Männer‘ ‚richtige Männer‘, ‚richtige Frauen‘ ‚richtige Frauen‘ und richtige kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri richtige kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri bleiben sollen1, dann hat die Anwältin des Normalen da ganz bestimmt keine Einwände. Über toxische Männlichkeiten, toxische Weiblichkeiten, sexuelle Gewalt und Femizide, Selbstmordraten von queeren und nicht-binären Jugendlichen usw. usf. findet mensch darum in ihrem Buch auch kein Wort. Schon das bloße Infragestellen, ob die Geschlechtlichkeit der Menschen wirklich so eine arschklare Angelegenheit ist, wie es der ideologischen Wahrnehmung erscheint, ist für Wagenknecht nur ein Stück aus dem Tollhaus.

2. Rechte aller Schattierungen sind auch schon lange der Ansicht, dass es ein Privileg und eine Ehre sei, Untertan der ‚eigenen‘ nationalen Obrigkeit zu sein. Daraus ergab sich, dass Leute, denen dieses Privileg und diese Ehre nicht von Geburt an zuteil geworden ist, Menschen minderen Werts und Rechts seien. Und auch das noch häufig: Dass mensch nicht Teil des nationalen Menschenschlag werden könne, sondern von Anfang an sein müsse, und darum auch die Nachfahr*innen von Einwanderer*innen selbst in der vierten Generation noch Menschen mit Migrationshintergrund seien. Diese rassistischen Überzeugungen teilt Wagenknecht so erst mal nicht. Sie leugnet aber, dass es sie überhaupt noch nennenswert gäbe und findet: Die Unterscheidung, ob „jemand im Land geboren ist oder zumindest schon lange dort lebt oder ob er von außen kommt und nun Rechte wahrnimmt, ohne je den mit ihnen verbundenen Verpflichtungen nachgekommen zu sein“, habe „mit Rassismus nichts zu tun.“ (S. 217/218). Denn: „In Wahrheit folgt aus der Idee der menschlichen Gleichheit aber keineswegs, dass wir die gleichen Verpflichtungen gegenüber allen Menschen haben. Sich mehr um Nahestehende als um Fernstehende zu kümmern ist nicht unmoralisch, sondern ein normales und legitimes menschliches Verhalten.“ (S. 130). Dass ‚wir‘ ‚uns‘ erstmal um ‚uns‘ kümmern, ist „normal“, und damit für Wagenknecht auch automatisch legitim — und wer ‚uns‘ ‚nahe‘ oder ‚fern‘ steht, wissen ‚wir‘ schon; weitere Fragen unerwünscht2. Wann jemand lange genug im Lande gelebt und genug Verpflichtungen erfüllt hat, um zum Deutschen ehrenhalber ernannt zu werden, das legt das nationale Kollektiv dann ganz sachlich, ohne alle moralische Weltbürgerei fest, wenn es nach Wagenknecht geht.

3. Rechte aller Schattierungen haben auch schon seit Langem den Wunsch , dass sich das ganze Volk ganz einig darin sein möge, das ‚eigene‘ Vaterland für das beste auf der Welt zu halten. Früher sahen sie den hauptsächlichen Störfaktor dabei in Leuten, die der Ansicht waren, den unteren Klassen ginge es nicht gut genug, und die sollten deswegen mal ein bisschen Rabatz machen. Aber schon immer haben Rechte allerhand ‚fremdländische‘ Einflüsse und Leute als schädlich für den nationalen Zusammenhalt denunziert. Sie waren sich sicher: Einigkeit kommt nur aus Einheitlichkeit, zumindest kultureller, wenn nicht ‚rassischer‘ oder wie es heute so schön heißt: ‚ethnischer‘. Früher war es der Kampf gegen ‚Französlinge‘‘, ‚polnische Wirtschaft‘ und die angebliche ‚Verjudung des öffentlichen Lebens‘, später hieß es kurz und knackig ‚Ausländer raus‘, und heute ist es oftmals der Kampf gegen die ‚Islamisierung des Abendlandes‘. Auch das kann Wagenknecht sehr gut verstehen. Rassismus sieht sie weit und breit gar nicht, und an Nationalismus kann sie nichts weiter Schlimmes entdecken. Und wenn sie auch auf Verschwörungstheorien verzichtet, so glaubt sie in der Anwesenheit von vielen Migrant*innen doch eine Strategie des Kapitals zu entdecken, für „billige Arbeitskräfte und die Spaltung der Arbeitnehmerschaft“3 (S. 153). Antirassismus sei demgegenüber nichts anderes als der Versuch der gutsituierten Mittelschicht, ‚ganz normale‘ Ansichten als rassistisch zu verteufeln, um die eigenen Privilegien zu verteidigen, während mensch ärmere ‚Volksgenoss*innen‘ vernachlässigt.

Allerlei emanzipatorisches „Bohei“ (S. 196) um ‚Nebenwidersprüche‘

Wagenknecht ist sich sicher: Weil die Linken sich heute um allerhand Randgruppen kümmern, verschrecken sie die Normalos, die dann rechts wählen. Nun ist es ja nicht abzustreiten, dass die Linke sich in den letzten 50 Jahren verstärkt auch anderen Gruppen zugewandt hat als der jeweiligen Arbeiter*innenklasse und den Klassenverhältnissen, und sich eben mit Fragen von Gender und „Race“ verstärkt beschäftigt. Gar so ein Bruch mit der linken Tradition, wie Wagenknecht dies behauptet, ist dies allerdings mitnichten. Schon die alte Sozialdemokratie schwor, sie bekämpfe jede Unterdrückung, richte diese sich nun gegen eine Klasse, eine ‚Rasse‘ oder ein Geschlecht. Aber wo die alte Arbeiter*innenbewegung die Existenz von Geschlechtern und ‚Rassen‘ als Naturtatsache hingenommen hat, stellt die Linke seit 1968 verstärkt die Kategorien selbst in Frage, und sieht sie als historisch entstandene, gesellschaftlich durchgesetzte Sortierungen, die nicht ignoriert werden können – aber noch lange nicht als ewig gültig hingenommen werden müssen.

Als „political correctness“, „woke“ und „cancel culture“ usw. werden Überlegungen in diese Richtung seit 1989 verstärkt als Bedrohung der Freiheit, des christlichen Abendlandes und überhaupt des gesunden Menschenverstandes thematisiert. Die politische Rechte hat hier ganz länderübergreifend schöne Mobilisierungsthemen für einen ordentlichen Kulturkrieg gegen die unordentlichen Linken gefunden. Und häufig genug klappt das auch, vor allem wenn lauter Leute lange und ausführlich über die angeblichen Sprechverbote labern, von denen sie sich bedroht fühlen. So auch Wagenknecht: „Mit diesem Buch positioniere ich mich in einem politischen Klima, in dem cancel culture an die Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls gecancelt werden könnte“ (S.18). Oder eben auch in der schlichten Berechnung, dass der empörte Aufschrei von Parteigenoss*innen mindestens für die Verkaufszahlen des Buchs, vermutlich aber auch für die Verbreitung der Argumentation ganz nützlich sein dürften. Die Figur der wagemutigen Streiterin für eine unterdrückte Wahrheit - komischerweise überall erhältlich und in Dauerschleife bei BILD und im Internet präsent - macht Eindruck: Hier steht sie, sie kann nicht anders; vermutlich sollte mensch ihr Buch an irgendeine Kirchentür nageln.

Um nicht missverstanden zu werden. Nur weil wir Wagenknecht an dieser Stelle kritisieren, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass alles gut und richtig ist, was heutzutage in der Linken en vogue ist. Da ließe sich gewisslich einiges vernünftig kritisieren, was Wagenknecht aber keineswegs tut. Nämlich als einen falschen, aber eben keineswegs völlig irrationalen Versuch, mit den vielfältigen Formen von Abwehr und Ignoranz gegenüber rassistischen, sexistischen, homo- und transfeindlichen Erlebnissen umzugehen. Abwehr und Ignoranz häufig durch Leute, die diese Erlebnisse eben nicht hatten, und auch keine größere Gefahr laufen, sie jemals machen zu müssen. (Manchmal aber auch von Leuten, denen ähnliche Erlebnisse drohen, die dies aber nicht wahrhaben wollen.)

Bei aller Kritik könnte mensch auch darauf kommen, dass es bei all diesen Bemühungen um das menschlich verständliche (trotzdem kritikable) Anliegen geht, dass die eigene Existenz nicht nur hingenommen, sondern das eigene So-Sein von der Gesellschaft angenommen, respektiert und eventuell sogar wertgeschätzt wird. Oder zumindest, dass mensch nicht dauernd eine Normalität um die Ohren gehauen wird, zu der mensch nicht passt.

Klar ist das vor allem für Menschen ein wichtiges Thema, deren Existenz tatsächlich infrage gestellt wird, symbolisch, durch Unsichtbarmachen, aber auch gewaltsam in der Realität. Die Hoffnung, dass sich symbolische Siege in öffentlichen Debatten in reale Veränderung ummünzen, mag naiv sein. Bis zu einem gewissen Grade verständlich ist sie aber schon.

Eigene Erfahrung mit solchen Ausgrenzungen ist dafür übrigens gar nicht nötig. Menschen haben Vorstellungsvermögen. Und stellt sich mensch das einmal vor, und versucht zu verstehen, welche harten Kämpfe nicht nur mit dem Rest der Gesellschaft, sondern auch mit sich selbst – bis hin zu Phasen des Selbsthasses – Menschen durchzustehen haben, die als „nicht normal“ sortiert werden oder auch nur einem gesellschaftlichen Ideal nicht entsprechen, dann muss man Konzepte wie „safe space“ und „Mikroagression“ immer noch nicht für richtig halten. Aber verstehen, woher das Bedürfnis kommt, nicht dauernd bei Adam & Steve anzufangen, und nicht dauernd in Hab-Acht-Stellung stehen zu müssen. So schwer ist es doch nicht zu kapieren, dass BIPoc, Schwule, Lesben, Trans- und Inter-Leute, und auch viele Hetero-Cis- Frauen zumindest hin und wieder das Bedürfnis nach einem Ort haben, wo mensch „sich wohl- und sicher fühlt und die Nachbarn so ähnlich ticken wie man selbst“ (S. 83).

Jede vernünftige Kritik daran sollte deutlich machen, dass das Anliegen, nämlich die Abschaffung von psychischer und physischer Gewalt auch das Eigene ist. Davon ist bei Wagenknecht nichts zu erkennen. Der „unverkennbare Mangel an Mitgefühl“ (S. 28) bei Wagenknecht mit allen, die nicht der Normalitätsdefinition der AfD entsprechen, verwundert nicht. Die sind für sie nur ein lästiges Hindernis dabei, die rechtschaffend konservative Mehrheit der guten Deutschen mit ihrem nationalen Kurs anzusprechen.

Dazu passt, dass die entsprechenden Gruppen immer nur als „Vertreter privilegierter Gruppen“ vorgestellt werden, deren „Schamlosigkeit, mit der [sie] sich öffentlich zu Opfern stilisieren“ „diesen Ansatz“, den Wagenknecht sonst selbstverständlich total gut fände, „in Misskredit gebracht hat“, oh weh, und noch schlimmer „viele Menschen, vor allem unter den tatsächlich Unterprivilegierten, empört“ (S. 108). Wer hier Opfer ist, und wer nicht, das bestimmt immer noch Wagenknecht!

Dem Trans-Azubi, für den die wöchentliche Berufsschule ein einziges Spießrutenlaufen ist, würde Wagenknecht vermutlich raten, sein „mimosenhaftes Beleidigtsein“ (S.107) sein zu lassen. Und: „Reih Dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil Du auch ein Arbeiter bist“. Klingt ohne Genderstern ja auch viel melodischer.

Identitätspolitik? Bitte nur für die „normalen“ Leute!

Während Wagenknecht die Symbolpolitik unterdrückter und marginalisierter Gruppen als Ablenkung vom Kampf um Brot und Butter – bzw. vegane Margarine – geißelt, trieft sie vor Verständnis, wenn Leute lautstark darauf beharren, nur ihre „Gemeinschaftswerte“ gegen „Genderwahnsinn“ und „Sprechverbote“ zu verteidigen.

Aber, und das kann Wagenknecht gar nicht erklären: Was unterscheidet diese Sorte Kulturkämpfe – wo die jeweilige Gegenseite regelmäßig auch nicht gerade durch gute Argumente auffällt – von dem üblichen Kram? Wenn Leute z.B. eine „Leitkultur“ durchsetzen wollen, oder sich über einen Nationalspieler aufregen, der einen ausländischen Staatspräsidenten anhimmelt, oder über katholische Priester, die schwule und lesbische Paare segnen, obwohl der Vatikan dies verboten hat?

Und weiter: Würde Wagenknecht eigentlich auch „Bohei“ einfallen sagen wir beim Fan-Getue beim Fußball, bei einer Vereidigung von Bundeswehrsoldat*innen oder beim Kölner Karneval? Wieso sind eigentlich exaltierte Selbstdarstellung, Wichtigtuerei, öffentliche Symbolpolitik und Herummoralisieren, was sich wo gehört und was nicht, ein Vorrecht der Leute, die sich selbst für „normal“ halten?

Der wesentliche Unterschied solcher öffentlicher Machtproben in Sachen Anstand und Moral ist nämlich tatsächlich die gesellschaftliche Machtposition, und dass die einen Veränderung wollen und die andern zumindest gerade diese Veränderung nicht. Vernünftige Kritik kritisiert den ganzen Scheiß: die Machtpositionen, die Machtproben und den Anstand und die Moral, die zu dieser Gesellschaft passen. Partei ausgerechnet gegen die Leute zu ergreifen, die sich gegen die Zumutung wehren, tagtäglich Scheiße zu fressen, weil das als „normal“ gilt, ist vieles. „Links“ in des Wortes weitester Bedeutung ist es gewisslich nicht, vernünftig auch nicht.

Migrant*innen: unsolidarische Lohndrücker*innen, Reservoir des Islamismus, schuldig an allerhand Missständen,...

Gegen jede Form des Antirassismus zieht Wagenknecht die bekannten Register typischer rassistischer Argumentation: 1. sei es normal, sich nicht um alle Menschen zu kümmern, sondern nur um welche, die einem ähnlich seien, und 2. Gesellschaft brauche Gemeinsamkeit und Gemeinschaft, daher dürfe sie nicht zu verschieden sein.

Sie hat aber noch ein „linkes“ Zusatzargument auf Lager: Dass die Migrant*innen als Billigarbeitskräfte die Löhne drücken und die Lebensbedingungen der deutschen Arbeiter*innen verschlechtern würden. Generell sind für Lohndrückerei und Arbeitshetze nicht etwa die Unternehmen und ihre Profitinteressen verantwortlich, sondern die bösen Migrant*innen, die zwar „für Lohndumping missbraucht werden“ (S. 14), aber sich eben auch missbrauchen lassen, weil durch die große „Heterogenität der Belegschaften“ (S. 158), wo viele „kaum oder gar nicht Deutsch sprechen“ (S. 1) „gemeinsame Arbeitskämpfe schwer und entsprechend selten geworden sind“ (S. 158). Außerdem sind sie für „die Verschärfung der Probleme an den Schulen der Armutsviertel“ (S. 341, Anm. 29) verantwortlich. Und dann ist es ja auch noch so: „Je mehr die Menschen“, immer eine gute Berufungsinstanz, „das Gefühl haben, soziale Leistungen kämen überproportional anderen zugute, also Menschen, mit denen sie sich nicht verbunden fühlen und die in ihren Augen kein wirkliches Anrecht auf gesellschaftliche Solidarität haben, desto mehr verliert sozialstaatlicher Ausgleich an Zustimmung“ (S. 217). Wagenknecht weiß, dass viele Flüchtlinge Hartz-IV beziehen (aber offensichtlich nicht warum). Und das untergräbt, da ist sie sich sicher, die Akzeptanz für die soziale Sicherung, denn „die Menschen“ mögen nun mal keine „anderen“, „die eigentlich gar nicht dazugehören und nie für diese Leistungen gearbeitet haben“ (S. 217). Den Sozialstaat machen die Flüchtlinge also auch noch kaputt, nur weil in ihrem Land Bürgerkrieg herrscht und sie nicht erschossen werden wollen. Gehört sich so was? In den Augen von Wagenknecht gewisslich nicht.

Außer als Lohndrücker*innen und Streikbrecher*innen fallen ihr Geflüchtete auch sonst nur als Problembären auf. Sie erhöhen die „Nachfrage nach Wohnungen in den Armutsvierteln, was auch dort nicht ohne Einfluss auf die Miethöhe bleibt. Zum anderen konkurrieren dann mehr Menschen um die begrenzte und aktuell schrumpfende Zahl verfügbarer Sozialwohnungen“ (S.165). Zwar sind die Wohnungsbauminister*innen und die Chefs der Wohnungsbaugesellschaften, die das zu verantworten haben, unseres Wissens noch nie geflüchtet, trotzdem sind die Flüchtlinge schuld, denn: „Heute stehen heimische Arbeitnehmer und Zuwanderer in vielen Bereichen in unmittelbarer Konkurrenz, mit allen negativen Folgewirkungen" (S. 165). Dass sie in Wirklichkeit die Konkurrenz der „heimischen“ Arbeitnehmer höchstens verschärfen, kann sie sich gar nicht vorstellen, wo deutsche Arbeiter*innen bekanntermaßen so streik- und kampffreudig sind, und die Wohnungspolitik früher natürlich stramm links und total sozial war. Oder so.

Die verschlechterten Lebensbedingungen treiben die Migrant*innen – wie die eben so sind – in die Arme der Islamisten, die zuvor von den dummen Linksliberalen gehätschelt wurden: „Trotz identitätspolitischer Schirmherrschaft wären die Hasspredigten der Islamisten vermutlich ins Leere gegangen, hätten sie nicht auf eine Realität aufbauen können, die von Arbeitslosigkeit und fehlenden Lebenschancen, von materiellen Entbehrungen und den aus dieser Mixtur gespeisten Gefühlen der Enttäuschung, Ausgrenzung und Frustration geprägt war“ (S.120). Und während sie bei den AfD-Wähler*innen darauf beharrt, die wären gar nicht rechts, sieht sie bei den Islamisten klar, dass deren „ausdrückliches Ziel darin besteht, die Abgrenzung zur westlichen Mehrheitsgesellschaft und die Ablehnung und Verachtung der Mehrheitskultur religiös zu verfestigen“ (S. 120). Da fällt ihr die faschistische Tendenz von den ansonsten so hochgelobten Gemeinschaftswerten und Traditionen mal auf. Und was sie besonders stört: „Es gibt immer mehr Viertel, in denen die einheimische Bevölkerung sich in der Minderheit befindet und die unterschiedlichen Einwanderermilieus ihr Leben nach eigenen Regeln gestalten: jenseits der Mehrheitsgesellschaft und separat von ihr“ (S.167). Und das geht ja bei einem Menschenschlag, der nach Wagenknechts Ansicht hier gar nix zu suchen hat, mal gar nicht.

…sollen als ‚Wohlstandsflüchtlinge‘ gefälligst bleiben, wo sie sind – da werden sie nämlich gebraucht!

Vor allem, weil sie Deutschland gar nicht brauchen, aber sie anderswo gebraucht werden. Die meisten „Zuwanderer“ sind nämlich gar keine Flüchtlinge, sondern wollen nur ein besseres Leben. Es gilt: „Wer ein besseres Leben sucht, handelt aus nachvollziehbaren Motiven, aber er müsste das nicht tun“ (S. 142). Z.B. kommen Leute aus „dem vergleichsweise besser gestellten und friedlichen Westafrika, allen voran aus Nigeria und dem Senegal“ (S. 145) Und auf dem Planeten, auf dem Wagenknecht lebt, gab es keinen Ken Saro-Wiwa, gibt es keine Verseuchung von Flussdeltas durch die Ölindustrie, kein Leerfischen von Fischgründen, kein Niederkonkurrieren der Landwirtschaft durch europäische Agrarexporte, kein Boko Haram. Was wollen die also hier?

Wie „vergleichsweise besser gestellt“ und friedlich wird das Westafrika in dieser Welt wohl sein, wenn Leute Vergewaltigung, Versklavung oder Tod auf dem Weg nach Europa riskieren, um dann hier auf dem niedrigstmöglichen Niveau auf die betont langsam arbeitende Verwaltung zu warten, ob sie hier bleiben dürfen?

Zudem waren die Flüchtlinge „besser gebildet als der Bevölkerungsdurchschnitt in ihren Heimatländern. 58 Prozent gingen in ihrer Heimat einer regelmäßigen Arbeit nach oder befanden sich in einer Ausbildung. Ihr Verdienst war meist höher als das mittlere Einkommen im Herkunftsland“ (S. 145). Also mal kein Mitleid mit denen! Komisch, dass sie es vorziehen, hier unter Hartz-IV-Niveau zu leben...

Für Wagenknecht geht das jedenfalls alles nicht, denn die „irreguläre Migration“ „entzieht den Gesellschaften ihre ehrgeizigsten, aktivsten und tendenziell besser ausgebildeten Mitglieder aus der oberen Mittelschicht“ (S. 146). Und unabhängig von der absurden Einsortierung wird klar: Nach Wagenknecht hat eben jede Gesellschaft das Recht auf das folgsame Funktionieren seiner Mitglieder. Bleibe im Lande und nähre dich kläglich, lautet also auch hier der Ratschlag an die Arbeiter*innen aus nicht-westlichen Ländern... Und hoffe darauf, dass die Linke, sofern sie jemals eine Wahl gewinnt, die schönen Stipendienprogramme aus Wagenknechts Buch verwirklicht, und irgendwann – schon noch bevor der Kapitalismus überwunden ist, aber das ist ja auch noch länger hin – die Entwicklungshilfe nicht mehr im Interesse des eigenen Kapitals und der eigenen imperialistischen Ordnungsansprüche betrieben wird.

Muss mensch doch verstehen: Wer „Protest“ wählen will, wählt Nazis. Was auch sonst?

Wagenknecht zitiert aus einem Buch eine längere Aussage, die ihren Leser*innen erlauben soll, besser zu verstehen, warum rechte Parteien mit ihrer Forderung Begrenzung der Zuwanderung so viel Erfolg haben: „Wenn eine alleinerziehende Mutter mit abgeschlossener Ausbildung, die, seit sie ihr Kind bekommen hat, vergeblich eine Arbeit und eine Wohnung sucht, sich beschwert: ‚Man wird nicht angenommen, also das find ich schon arg. Vor allem, wenn man dann auf die Stadt geht und gesagt bekommt: O. k., Stadtbauwohnungen stehen nich zu, weil, das ist für die Flüchtlinge alles reserviert. Ah, da kriegt man schon’n bisschen Hass auch, dass sich nich so gekümmert wird. … da wird so viel Geld reingesteckt. … Und die bekommen wirklich so viel Unterstützung, wo ich teilweise wirklich weniger bekomme, und die bekomm’ Wohnung und alles …‘“,

und fragt dann, „ist das dann eine Frau mit mangelhafter moralischer Haltung oder ein Opfer der herrschenden Politik, die verzweifelt ihre Interessen einklagt?“ (S. 180/181) .

Sie fügt hinzu: „In dem Statement der jungen Mutter bleibt die Frage offen, auf wen sich ihr ‚bisschen Hass‘ richtet, auf diejenigen, deren politische Entscheidungen sie in diese verzweifelte Situation gebracht haben, oder auf die Zuwanderer, die mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen als sie“ (S. 181).

Da könnten wir auch ein bisschen Hass kriegen. Gott oder Marx bewahre, dass Wagenknecht ihren Leser*innen erklärt, dass die Frau eine rassistische Legende nachplappert, die durch die fünfmillionste Wiederholung nicht wahr wird. „Wirklich“ nicht! „Zuwanderer“ kriegen in Deutschland zwar sehr viel Aufmerksamkeit, z.B. von Nazis, Polizist*innen und der Bild-Zeitung. Unterstützung bedeutet das aber nicht. Statt dass Wagenknecht sich und andere fragt, warum die Frau wirklich glaubt, dass ein Staat, der sich den Berliner Flughafen, das Maut-Debakel, milliardenschwere Rüstungsvorhaben ohne mit der Wimper zu zucken leistet, nun ausgerechnet wegen der Flüchtlinge ihr keine billige Wohnung anbieten kann.

Wir bezweifeln auch, dass die zitierte Frau sich wirklich mal eingelesen hat, wer in diesem schönen Land was bekommt. Sondern, dass ihre Äußerungen, genau wie Wagenknechts verständnisvolle Zustimmung, Ausdruck einer bestimmten Haltung ist. Nämlich, dass es, wie schon zitiert, einen großen Unterschied macht, „ob jemand im Land geboren ist oder zumindest schon lange dort lebt oder ob er von außen kommt und nun Rechte wahrnimmt, ohne je den mit ihnen verbundenen Verpflichtungen nachgekommen zu sein“ (S. 217/218). Oder knapper: Deutschland den Deutschen, maximal noch den Deutschländern— alle andern haben hier nix zu suchen.

Dass das mit „Rassismus nichts zu tun“ (S. 217/218) habe, mag nun glauben, wer will. Mensch muss schon arg vernagelt zu sein, um ein Übermaß an Rechten und einen Mangel an Verpflichtungen für Geflüchtete bei der deutschen Flüchtlings-Abschreckungspolitik zu vermuten.

Fazit: So wird’s also was mit dem Erfolg: Erst nehmen wir den Nazis ihre Parolen weg, dann den Finanzkapitalist*innen ihre Einflussmöglichkeiten, und dann bringen wir die Welt mit guter nationaler Herrschaft (wieder) in Ordnung!

Insgesamt ist das Buch eine klassische sozialkonservative Argumentation, die sich weder um eigene logische Widersprüche noch historische Fakten kümmert, sondern sich ihre verschiedenen Gegner*innen so zusammenkonstruiert, wie es für das eigene politische Anliegen passt. Es knüpft damit an alle Ressentiments an, die Rechtskonservative und FaschistInnen so haben – und streitet gleichzeitig ab, dass diese Argumente und Ressentiments rechtsradikal seien. Das Buch ist - bis auf die Wertschätzung der Gewerkschaften und die Ablehnung eines völkischen Volksbegriffs – ziemlich AfD-kompatibel, aber eben auch ein Angebot an lauter andere enttäuschte Nationalist*innen verschiedenster Parteirichtungen. Und angefangen hat das alles mal damit, dass Sahra eigentlich gerne links gewesen wäre, aber leider Lenin nicht rechts liegen ließ. Dessen falsche Vorstellungen über den garantierten Erfolg linken Gerechtigkeitsfanatismus ist mal der Ausgangspunkt der ganzen Sache gewesen. Aber Wagenknecht hat sich davon emanzipiert und ist längst über taktische und strategische Erwägungen hinaus, Leute dadurch für linke Kritik gewinnen zu wollen, dass sie rechter Kritik recht gibt.

Es gibt ja den Scherz, dass das einzig Sympathische am Marxismus-Leninismus seine Gegner*innen seien. Wer sich für solche Überlegungen anfällig weiß, greife zu dem Buch von Wagenknecht. In ihm ist die marxistisch-leninistische Selbstabwicklung der Gesellschaftskritik an ihren konsequenten Endpunkt gelangt:

  • von einer affirmativen Gesellschaftskritik, die im Namen der Gesellschaft allerhand Kritik an den Verhältnissen vorbringt, zur nostalgischen Gemeinschaftsverklärung einer guten alten Zeit, die es nie gegeben hat,

  • vom revolutionär gemeinten Proletkult zum affirmativen, moralischen Lob der ehrlichen Knechte und Mägde,

  • vom pseudomaterialistischen Produktivkraftfetischismus zum Abfeiern des industriellen Kapitalismus als überlegene Produktionsweise,

  • vom positiven Bezug auf das angeblich fortschrittliche Bewusstsein der „Volksmassen“ zur kritiklosen Verteidigung all des rechten Gedankenschrotts, den sich die unteren Klassen über Gott und die Welt so zusammendenken; garniert mit jener Verachtung für all die „Nebenwidersprüche“ (Geschlechterverhältnisse, Sexualität, Rassismus, Nationalismus), die dem Marxismus-Leninismus ja schon immer eigen war – außer er machte da eine revolutionäre Bewegung aus, die sich strategisch nutzen ließ,

  • von einem alternativen, kritisch gemeinten Patriotismus zum ganz ordinären BRD-Nationalismus minus aller „internationaler Solidarität“, die der ML da eigentlich im Gepäck hat.

So kommt der Marxismus-Leninismus an sein gerechtes Ende: von der falschen Kapitalismuskritik zum Lob einer marktwirtschaftlichen Leistungsgesellschaft. Organisiert in einem Nationalstaat mit einem Volk, dem zwar relative Armut und Unterordnung unter schädliche Zwecke, dafür aber kein kritischer Gedanke mehr zugemutet werden soll.

Eine wirklich interessante und überzeugende Alternativstrategie für den deutschen Imperialismus wird daraus dann aber trotzdem nicht, und ob die erhofften Wahlsiege sich dadurch einstellen, ist auch etwas zweifelhaft. Und so bleibt das Buch eben nur das: ein ziemlich ekliges Machwerk, mit dem sich eine ehemalige Linke allen möglichen Nationalist*innen als gute nationale Alternative zur AfD anbieten will. Und ein Mahnmal, was aus Leninist*innen werden kann, wenn keine Rote Armee mehr da ist...

„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich weder von der eigenen Ohnmacht noch von der Macht der anderen dumm machen zu lassen“ schrieb Adorno, der alte Edel-Sozialdemokrat, in einem Anflug von richtiger Einsicht. Wagenknecht wäre an dieser Aufgabe gescheitert – wenn sie es denn je versucht hätte.

 

1 Vgl. Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis.

2 Vgl. hierzu den Text von GKN Gibt es das deutsche Volk“, https://gegen-kapital-und-nation.org/gibt-es-das-deutsche-volk-50f50a/ Es ist keineswegs „selbstverständlich“, dass „Deutsche“ ganz viele Gemeinsamkeiten mit anderen Deutschen hätten, schon der olle Max Weber hat gewusst, dass nicht wirkliche Gemeinsamkeiten, sondern der Gemeinsamkeitsglaube die Leute zu einem Kollektiv imaginär eint, während der Staat dies ganz praktisch tut.

3 Dem wäre zu entgegnen: Das Kapital will durch Migration vor allem passende Arbeitskräfte, die der heimische Arbeitsmarkt nicht oder nicht ausreichend oder tatsächlich nur zu teuer für seine Kalkulationen zu bieten hat. Vor der Einheit der Arbeiter*innenklasse braucht sich zumindest das deutsche Kapital schon länger nicht mehr zu fürchten.