Die EU-Staaten haben am 23. Juni 2002 in Sevilla ihre Grenz- und Flüchtlingspolitik "harmonisiert". Zeitung und Fernsehen hatten schon vorher darüber aufgeklärt, wie es bei diesen Themen an Harmonie gemangelt hat, sprich, wie überfällig es war, den Umgang mit Flüchtlingen EU-weit zu vereinheitlichen. Während Deutschland schon 1993 allen EU-Staaten vorgemacht hat, wie weit die Abschreckung und Abschiebung von Flüchtlingen zu gehen habe, hat Großbritannien z.B. erst soeben, fast zehn Jahre später, seinen Nachholbedarf in dieser Angelegenheit entdeckt. Und noch andere EU-Staaten behandelten ihre Flüchtlinge wohl immer noch so wie in den Achtzigern, wenn sie nicht durch den Staatenbund zu "Modernisierungen" bewegt würden.
Diagnose: Repressions-Wirrwarr
Welche Nicht-EU-Ausländer als Flüchtlinge "anerkannt" werden, und wie mit den offiziellen "Besitzern einer Flüchtlingseigenschaft" umgegangen wird, ist von Nation zu Nation innerhalb der EU noch recht unterschiedlich. Auch die Grenzübertritte werden zwar überall in Gänze kontrolliert, aber noch weitgehend von den jeweiligen nationalen Regierungen, nach eigenen Regeln und ohne gegenseitigen Datenaustausch. Die Klage über das "Wirrwarr" der nationalen Regelungen, die auf europäischer Ebene selten "gestrafft", sondern meist durch "bürokratische Überregulierung" nur noch stärker zerfaserten, ist bei diesem Thema wie bei jedem anderen fällig. Dabei ließe sich umgekehrt fragen: Warum will die EU in Sachen Flüchtlinge einheitlich und gemeinsam vorgehen, ja warum soll es überhaupt eine "Bekämpfung der illegalen Einwanderung" geben?
Innere Freizügigkeit...
Angefangen hat die EU schließlich als ein Staatenbund, der sich u.a. auf die Freizügigkeit seiner Bürger zwischen allen Teilnehmerstaaten festgelegt hat. Während es bei den 375 Millionen EU-Bürgern also offenbar "an der Zeit war", ihnen das Übertreten so mancher Grenze zu erleichtern, ist es bei der jährlichen halben Million Flüchtlingen aus Nicht-EU-Staaten anders: hier bedeutet "zeitgemäße Harmonisierung" ein gemeinsames hartes Durchgreifen. Verwundern sollte das allerdings nicht, denn der Grenzüberschritt war auch für die EU-Bürger nicht einfach aus Nettigkeit erleichtert worden - sondern weil man auf diese Weise einen machtvollen Wirtschaftsblock in Europa schaffen wollte und will.
...als Waffe in der Standortkonkurrenz
Dieser Wirtschaftsblock will sich mit ökonomischen Größen wie - vor allem - den USA messen, zu deren Stärken der schrankenlose Fluß von Geld, Waren, Dienstleistungen und Menschen innerhalb ihres eigenen Binnenmarktes zählt. Gemessen an diesem Konkurrenten auf dem Weltmarkt ist die Gliederung der europäischen Mächte in voneinander national begrenzte Staaten als ein Mangel aufgefallen, den es nun zu überwinden gilt. Das Ziel ist unverkennbar weder weniger Staat noch weniger Nationenkonkurrenz. Die (noch) zu sehr national beschränkte Aufsichtsmacht soll der kontinentweiten kapitalistischen Benutzung von Land und Leuten nicht mehr als Hindernis im Wege stehen - sei es durch Zölle, unterschiedliche Steuern, Lohnnebenkosten oder anderes. Vielmehr soll die Anwendung der menschlichen Arbeitskraft (ob nun in Industrie, Dienstleistungssektor oder Landwirtschaft) ein ruhig und gleichmäßig verlaufendes Geschäft sein, eine Profitquelle, mit der sich weltweit rechnen läßt, und die im besten Falle sogar noch außereuropäisches Kapital ins Euroland lockt.
...und als Forderung an die Flexibilität der Ware Arbeitskraft
Auch für die Arbeitskräfte selbst ist damit einiges berechen- und absehbar: Lohnnebenkosten und existenzsichernde Maßnahmen für den Weltmarkt zu harmonisieren heißt allemal, sie auf ein niedriges Niveau zu senken. Und die Freizügigkeit - um zurück zum Thema zu kommen - ist gegenüber den Einzelnen weniger ein Zugeständnis als vielmehr eine Forderung: Mobilität hinsichtlich Wohnort und Arbeitsplatz müssen sich die EU-Bürger nun zu ihrer eigenen Angelegenheit machen, um stets als Arbeitskraft zu taugen. Teilnehmer am "dynamischsten Wirtschaftsraum" der Welt zu sein bedeutet, nicht zu murren, wenn man arbeitslos wird - sondern es als Chance auf den nächsten Job zu begrüßen, auch wenn das Umzug oder Abstieg bedeutet.
Der "Rest der Welt" als Heimstatt kapitalistisch unbrauchbarer Arbeitskraft
Der Ausgangspunkt der Konkurrenz mit den USA ist keineswegs bloße Unterlegenheit. Deutschland ist bekanntlich Exportweltmeister in der Staatenwelt, und es gibt außer dem Bund der 15 EU-Länder weltweit keine andere Wirtschafts- und Währungsmacht, die es mit den USA und ihrem Dollar aufnehmen könnte. Andersherum ausgedrückt: die restlichen 130 Staaten auf dieser Welt sind längst deklassiert worden, oder haben seit dem Ende ihrer kolonialen Beherrschung sowieso nie Land gesehen als chancenreiche Weltmarktkonkurrenten. Die Gemeinsamkeit zwischen "Nord" und "Süd" ist der Weltmarkt, der jedem seinen Platz zuweist. Gewinnen kann nicht jeder, und die Aktivitäten der EU zur Aufmöbelung ihres Innenlebens bewirkt mit dem Ziel des Obsiegens in der Konkurrenz zugleich die Niederlage anderer. Der mühevoll durchgesetzte und dauerhaft gemachte Siegs gegen die anderen Standorte hat deutliche Konsequenzen für die Milliarden, die "da draußen" leben, außerhalb von EU, USA und noch einer Hand voll weiterer Länder, in denen ähnliche Lebensbedingungen herrschen. Arbeitslosigkeit zieht für sie keineswegs die Forderung nach Umschulung bzw. Umzug zum nächsten Job nach sich. Umschulung wohin auch: Daß sich ihre Arbeit mit krummen Rücken und bloßer Faust im schonungslosen Dauereinsatz hier und da noch billiger einsetzen läßt als solche Arbeit, die mittels Maschinen längst viel effektiver vonstatten geht, ist für viele die einzige Überlebenschance. Und Umzüge sind einem Großteil der Erdbewohner ohnehin nur als fluchtartige Ortswechsel wegen (Bürger-)Kriegen oder Naturkatastrophen bekannt. Für kein Kapital und keinen Staat der Welt lohnt es sich, irgendwelche Anforderungen an ihre (berufliche) Mobilität zu stellen.
"Humanität", oder: Die Trennung der Fluchtgründe vom Nutzen ausländischer Ersatzarbeitskräfte
Von Staaten wie denen der EU wird es als eine Privileg verteidigt, als Arbeitskraft innerhalb ihrer Grenzen profitabel angewendet werden zu dürfen. Ausländer sind von dieser Ehre zunächst einmal prinzipiell ausgeschlossen; um dennoch über die Grenze zu kommen, müssen sie beantragen, hier als Programmierer, Ingenieurswissenschaften-Student oder Spargelstecher dienen zu können. Ob sie es mit diesem Argument schaffen, und wie lange sie dann bleiben dürfen hängt alleine vom aktuellen Arbeitskräftebedarf ab. Eine solche "humane" Einwanderungspolitik paßt einem schlagkräftigen Standort wie der EU bestens ins Konzept: Das Ausland steht dem inländischen Kapital als Ersatz-Arbeitskräftereservoire praktisch kostenlos zur Verfügung. Es fällt zwar ein Lohn an, aber keine Arbeitslosenunterstützung, kaum Rentenansprüche und last not least kein Extraaufwand für die Integration bzw. Repression einer ausländischen Minderheitenbevölkerung. Wenn sich die EU also darum bemüht, Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik zu trennen, indem sie gescheiterten Flüchtlingen jeden Versuch untersagt, es ein zweites mal als Arbeitseinwanderer zu versuchen, ist das nur eine folgerichtige Konsequenz des ganzen Charakters ihrer durchaus ernstgemeinten Bemühungen um Arbeitseinwanderung: Der ziemlich exakt kalkulierten Anforderung an die ausländische Ersatzarbeitskraft steht eben keine Garantie für Garnichts gegenüber.
Der ganz gewöhnliche Nationalismus...
Aus Sicht der EU bleibt, angesichts all der maßgeschneiderten Arbeitseinwanderung, nur noch eine Frage offen: Was tun mit den Ausländern, die nicht lange gefragt haben, sondern einfach hierher geflohen sind, weil sie fliehen mußten? Die Beantwortung ist kaum überraschend. Diese Leute halten sich im privilegierten Bereich jenes fleißigen Kollektivs auf, als dessen Teil man sie nicht auch nur ausnahmsweise in Anspruch nehmen will. Und diese Sortierung geht mit ihrem knallharten Nationalismus noch weiter.
Die eigenen Bürger sollen wissen, welchem nationalen Erfolg ihre Unterwerfung unter die Gesetze der kapitalistischen Ausbeutung dient: Vom frühen Aufstehen über den Gang zur sinnlosen Arbeit bis hin zur alltäglichen Respektierung des Eigentums, statt sich z.B. so viel zu klauen, daß man eine Zeit lang nicht mehr früh aufstehen und malochen muß. Wenn sie sich für den nationalen Erfolg nützliche machen, weil sie ernsthaft glauben, daß dieser auch ihnen nützt, dann läuft der Standort. Diese nationalistische Loyalität ist dermaßen durchgesetzt, daß sie nicht mehr (oder selten) durch brennende Appelle für Volk und Vaterland geweckt werden muß; eher schon wird sie immer wieder als eine Selbstverständlichkeit, als eine Art Naturtatsache bestätigt, indem z.B. nationale Erfolge und Mißerfolge so präsentiert werden, als seien sie die der Einzelnen. Bei der PISA-Studie letzter, Kriminalitätsrate leicht sinkend, DAX und Euro ansteigend - über die deutschen Sorgen sollen wir uns den Kopf zerbrechen, und die meisten tun das auch täglich.
...und sein Generalverdacht gegen Ausland und Ausländer
All das, die Loyalität gegenüber den hiesigen Pflichten und Gesetzen bis hin zum engagierten Mitwirken am Standorterfolg, wird Ausländern nicht zugetraut. Nicht ohne innere Konsequenz, denn wenn sie es zu einer ähnlichen Pflichterfüllung brächten, dann gälte diese Verpflichtung nicht Deutschland, sondern einem seiner Konkurrenten. Und noch verdächtiger als im Ausland sind Ausländer hier: Wie weit kann ihre Loyalität überhaupt gehen, wenn sie schon "ihr Heimatland" verlassen, sprich, das Territorium derjenigen Staatsgewalt, deren (Miß-)Erfolg sie schicksalhaft erdulden und deren Weisungen sie als gute Nationalisten treu erfüllen sollten? Weite Teil der EU-Bevölkerung spitzen dies sehr konsequent zum "Ausländer raus!" zu, oft noch garniert mit der Ideologie von den parasitären Massen, die in Wahrheit an der eigenen mißlichen Lage schuld seien. Die Staatslenker sind da viel differenzierter. Ihre Konsequenzen reichen vom den ganzen Kontinent überziehenden Online-Datensammlungen über den Einsatz der Kriegsmarine gegen Flüchtlingsschiffe bis hin zu differenzierten Prüfungen und Verfahren, denen jeder einzelne gestellte Flüchtling unterworfen wird. Aber der Reihe nach.
Je besser die Fluchtgründe, je militanter die Flüchtlingsbekämpfung
Alle, die über die Grenze hineinkommen oder es zumindest versuchen, müssen permanent gewaltsam bewacht werden, auch auf See, den Flughäfen, Bahnhöfen etc. Da reicht es auch nicht, die Grenzposten, die bisher an den Schlagbäumen zwischen den EU-Staaten standen, auf die EU-Außengrenzen umzuverteilen. Einer stärkeren, erfolgreicheren EU gebührt eben auch eine rigidere Kontrolle des Gesindels aus dem ökonomisch immer weiter deklassierten Ausland, das in sie hineindrängt. Ergo will Großbritannien nun z.B. auch militärische Streitkräfte zur Grenzkontrolle einsetzen. Womöglich wird dabei auch für die eingesetzten Soldaten eine Umschulung fällig werden, denn anders als bei üblichen Militäreinsätzen gilt es hier nicht, einen Gegner technisch, organisatorisch oder gar militärisch ähnlichen Niveaus zu bekämpfen. Umgekehrt: Die Fluchtversuche sind oft halsbrecherisch, nicht selten selbstmörderisch, weil sie auf den staatlich regulierten Verkehrswegen ohnehin keinen Erfolg versprechen. Viele versuchen stattdessen z.B. in überfüllten, an sich schon nicht mehr verkehrstaugliche Rostlauben über das Mittelmeer zu kommen - und die einzig angemessene Weise damit umzugehen ist selbstverständlich der Einsatz von Militär. Übrigens ist auch das nicht so neu: Deutschland setzt zum Beispiel seit der Wiedervereinigung seinen Bundesgrenzschutz (BGS) an der grünen Grenze zu Polen und Tschechien ein. Der BGS ist seit eh und je militärähnlich organisiert und ausgestattet und setzt z.B. auch Wärmebildkameras ein, um nachts Flüchtlinge aufzuspüren und in seine Gewalt zu bringen.
Flüchtlingsbekämpfung am Herkunftsort: Musterbeispiel "vertrauensvoller Zusammenarbeit"..."
Doch die Militarisierung der EU-Außengrenzen ist nicht die erste Maßnahme der Flüchtlingsabwehr. Diese beginnt mit Drohungen ans Ausland. Während hierzulande in den Sechziger bis Achtziger Jahren die DDR dafür an den Pranger gestellt worden war, ihren Bürgern (immerhin Deutschen!) die Ausreise in die Freiheit zu verweigern, wird heute recht unverhohlen an die Verlierer-Staaten in Osteuropa, Afrika und Nahost appelliert, sich dem Ausreisedrang ihrer Bürger gewaltsam in den Weg zu stellen. Spaniens und Deutschlands Ansinnen, dem Ausland dafür offen mit weiteren Sanktionen zu drohen, konnte die EU-Mehrheit locker verneinen. Wer hier von wem abhängt ist ohnehin klar. Deshalb wird die EU schon richtig verstanden werden, wenn sie sich ins Abschlußpapier schreibt: "Eine ungenügende Kooperation könnte die Vertiefung der Beziehungen des betroffenen Landes mit der Union schwieriger gestalten." Die EU kann ihre "vertrauensvolle Zusammenarbeit" mit den Gesetzesorganen vor Ort eben soweit ausbauen, wie sie es gerade für nötig hält.
...gegen Nepper, Schlepper, Ausländer
Diese "vertrauensvolle Zusammenarbeit" zur Fluchtverhinderung vor Ort ist heute nötiger denn je, das war unter den Gipfelteilnehmern in Sevilla unbestritten. Diese Abschreckung hat es heute nicht etwa mit ehrenvollen "Fluchthelfern" zu tun, wie sie damals die DDR bevölkerten, als Schulbuch- und Fernsehserienbeispiel für aufopferungsbereites Deutschtum bis heute. Nein, hier und heute geht es um "Schlepper", die als "bezahlte" "Banden" ihr "Unwesen" treiben - so die Wortwahl von Kanzler Schröder, der seinem Volk live vom Gipfelort die Welt erklärt. Da gehen Leute alleine oder gemeinsam einem verdammt riskanten Job nach, gestützt lediglich auf eine Handvoll praktischer Erfahrungen und technischer Tricks. Daß ihnen diese Einkommensquelle versiegte, wenn die Grenzen nicht permanent massiv "beschützt" würden, ist zwar naheliegend, wird von den Gegnern des Schlepperunwesens jedoch als praktisch belanglos ignoriert. Ihre Ideologie baut gerade auf der Ignoranz gegenüber dem Grund jeder Fluchthilfe, ja mehr noch: Sie verkehrt das Begründete zum Grund. Die Gier und die Rücksichtslosigkeit der Fluchthelfer wird in so schillernden Farben gemalt, als seien es diese Untugenden, die zur Flucht und ihren Umständen führten. Dabei kann die Feststellung, daß sie sich bezahlen lassen, nur eine Verurteilung sein, wenn vorab schon das, was sie dafür anbieten, als Verdammenswert identifiziert worden ist. Und die rücksichtlose Gewieftheit der Schlepper, mit der immer wieder Unfall und Tod von Flüchtlingen begründet werden, ist eine kalkulierte Entgegnung auf die Gewalt, die an den Grenzen aufgeboten wird - und die naiveren, weniger risikobereiten Fluchtversuche vereitelt. Wenn ein Fall bekannt wird, in dem die rücksichtlose Methode eines Schleppers seine Kunden nicht gerettet, sondern umgebracht hat, sei damit mal wieder alles bewiesen. Wenn ein Grenzschützer hingegen einen Flüchtling umgebracht statt "sichergestellt" hat, springt aus diesem Ereignis keine Schlagzeile heraus, die gegen die Dienstvorschrift des (bezahlten!) Grenzschützers oder seine offenbar skrupellosen Befehlsgeber polemisiert. Grenzschutz = berechtigt und beruhigend; Flüchtling (und alles, was ihn bei seinem Vorhaben weiterbringen könnte) = unberechtigt und furchteinflößend.
Die Grenzpolizei als Ermittlertrupp gegen noch nicht begangene Verbrechen
Die Militarisierung der Grenzen, die Bekämpfung der Fluchthelfer etc. schrecken nicht nur von der Überwindung der Grenzen ab. Viele von denen, die dennoch Fluchtversuche gewagt und überlebt haben, gelangen dabei in die Gewalt der Grenzschützer. Die Verfahren und Prozeduren, denen sie dann unterworfen werden, EU-weit zu vereinheitlichen war ein Haupterfolg des Gipfels von Sevilla.
Maßnahme Nummer eins ist in jedem Fall die Aufnahme persönlicher Daten. Ob dem Flüchtling Asyl gewährt wird, er eine vorübergehende Aufenthaltsberechtigung bekommt, nur bis zur Abschiebung in einen der dafür vorgesehenen Spezialknäste wandert oder was auch sonst mit ihm passiert: Als erstes wandern seine Daten in ein europaweites Onlinesystem. Neuerdings auch sein Fingerabdruck - die Fingerabdrucksammlung aller europäischen Asylbewerber, EUDAC, soll dafür sorgen, daß die Ausländer ihre Fingerabdrücke nicht erst am Tatort jener Verbrechen hinterlassen, die sie als Fremde früher oder später doch begehen werden. Übrigens ist mit der Fingerabdrucksammlung auch schon die wesentliche Änderung im Umfang der Datensammlung genannt: Seinen Vorläufer hat das geplante Europäische Informationssystem EIS längst im Schengen Informationssystem SIS, und sein viel älteres Vorbild in einer bundesdeutschen Datensammlung, dem Ausländerzentralregister AZR. Entscheidender als die Änderung im Umfang der Ausländer-Datensammlung EIS ist vielmehr ihre Ortsungebundenheit und ihre Präsenz für staatliche Organe auf praktisch jeder Ebene. Noch bis in ihre letzte Verästelung greift die Staatsgewalt auf diese Datensammlung zu und verwendet sie: vom Streifenpolizisten, der eine Person ohne deutschen Paß auf der Straße anhält und als erstes mit ihrem persönlichen Datensatz abgleicht, bis zur zentralen Rasterfahndung, die gleich Millionen individueller Datensätze auf Verdächtiges durchforstet. Anders als von Orwell-Anhängern gern behauptet ist es eben nicht so, daß der Staat, weil er die technischen Mittel dazu hat, alle Landeseinwohner unter einen permanenten Generalverdacht stellt. Obwohl er längst viel bessere und effektivere Mittel hat als in 1984 geschildert läßt er es sich nicht nehmen, seinen Verdacht sehr genau zu dosieren. Und Nicht-EU-Ausländer sind ihm allesamt ein Sicherheitsrisiko besonderer Güte, aus den oben dargestellten Gründen. Er muß aus dem rassistischen Kriterium seiner Verdächtigensortierung auch kein Geheimnis machen, denn all das ist seinen Bürgern geläufig und einleuchtend - meistens übrigens auch denen, die hinsichtlich ihrer eigenen Person großen Wert auf Privatsphäre, Datenschutz usw. legen.
Die Verwandlung des Flüchtlings in einen rundum-kontrollierten Antragsteller in Deutschland...
Im ersten Schritt ist der Flüchtling von einem Sicherheitsrisiko, das er als "Fremder" hier ohnehin ist, zu einem kalkulierbaren, jederzeit zu identifizierenden und wiederaufzufindenden Sicherheitsrisiko geworden. Das reicht natürlich noch nicht aus. Als nächstes prüft ihn der Apparat der Grenzschützer, Verwaltungsbeamten und Richter, und befindet ihn dann für würdig, die "Flüchtlingseigenschaft" "zu-" oder "aberkannt" zu bekommen. Das muß auch so sein, denn die staatliche Ordnung setzt, daß er zunächst auf jeden Fall unberechtigt hier ist. Er wird vor die Alternative gestellt, sich einem Haufen meist unerwarteter, jedoch immer ziemlich häßlicher Zwänge und Pflichten zu unterwerfen, um überhaupt hierbleiben können - oder gleich wieder abgeschoben zu werden. Diese gewaltsame Festlegung jedes Flüchtlings auf die Position eines Antragstellers, seine Verwandlung in einen Fall im Asylverfahren, bedeutet vor allem eine eingehende Prüfung der Person der Flüchtlings, seiner Fluchtmotive und seines Herkunftslandes. Alles wird einzeln und in Kombination miteinander in Abgleich gebracht zu den staatlich eingerichteten Tatbeständen des "Asyls" oder der "Duldung". Auch all diese Daten des Asylverfahrens sollen stets aktuell im persönlichen EIS-Datensatz abrufbar sein - und das ist keineswegs blinden Perfektionismus geschuldet. Vielmehr sind mit jedem Zustand im Asylverfahren ganz bestimmte Sanktionen verbunden, denen die Flüchtlinge dauerhaft unterworfen werden. Wer in Deutschland Asyl beantragt hat oder geduldet ist darf z.B. den Landkreis, in dem er lebt, nur in Ausnahmefällen und mit Genehmigung der Ausländerbehörde verlassen ("Residenzpflicht").
...und demnächst in ganz Euroland
Wie immer das gesamteuropäische Asylverfahren letztlich aussehen wird - Deutschland, ob schwarz-gelb oder rot-grün regiert, wacht stets darüber, daß es nicht zu liberal, sondern eher an der deutschen Vorlage orientiert sein wird. Bereits die de-facto-Abschaffung des deutschen Asylrechts 1993 war damit begründet worden, man nehme damit nur eine Vereinheitlichung der Asylpolitik auf repressiverem Niveau vorweg. Dazu passend erging die Forderung ans benachbarte Ausland, die neue deutsche Rechtslage nicht durch liberalere Regelungen infragezustellen oder gar in ihrer Wirksamkeit zu gefährden. Und so werden Flüchtlinge in Europa ab 2004 z.B. auf eine Variante der deutschen Drittstaatenregelung stoßen - die ganze EU will sich mit einer "weißen Linie" solcher Länder umgeben, in denen Flüchtlinge aus ferneren Ländern Asyl beantragen müssen, bevor sie das in der EU dürfen. Man kann wohl davon ausgehen, daß die "vertrauensvolle Zusammenarbeit" der EU-Grenzschützer mit den Asylbehörden auf der weißen Linie alles Nähere regeln wird. Und auch der Tatbestand des "Familiennachzugs" wird, wenn es 2004 dann die gemeinschaftliche EU-Asylpolitik gibt, auf dem hohen Niveau der offiziellen deutschen Ausländerfeindlichkeit geregelt sein. Warum schließlich sollte ein Dreizehnjähriger seiner Familie hinterherziehen dürfen - in dem Alter kann man doch wohl Eigenständigkeit erwarten!
Der Flüchtling nach 1989: kein Ausweis von Gutmenschentum sondern Ruhestörung am Standort
In anderen Bereichen hingegen sind der "Harmonisierung" Grenzen gesetzt. So schreibt die Genfer Flüchtlingskonvention ihren Teilnehmerstaaten immer noch verbindlich vor, daß Bürgerkriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte nicht sofort in ihr Herkunftsland abgeschoben werden dürfen. Falls sie Gelegenheit dazu haben, die "Berechtigung ihres Antrags" zu begründen, also den Soldaten, Polizisten, Verwaltungsbeamten und Richtern, deren tägliches Geschäft das Abschieben ist, eine Besonderheit ihrer Notlage verständlich zum machen, werden sie also auch in Zukunft nicht wie viele andere in den Abschiebeknast wandern. Sondern unter Sonderauflagen wie Residenzpflicht, Arbeitsverbot und Ernährung unter dem Sozialhilfeniveau durch Lebensmittelgutschein und Suppenküche sowie die Bewachung durch Ausländerbehörden und regelmäßiger Prüfung des Fluchtgrundes von "ihrem Recht" Gebrauch machen. Hier will schließlich niemand einen Schönheitspreis gewinnen durch eine nette Behandlung (oder auch nur schlicht in Ruhe lassen) seiner Flüchtlinge. Dieser Schönheitswettbewerb endete zusammen mit dem Kalten Krieg, als es noch zu beweisen galt, wer hier der Hort der Freiheit und Fluchstätte der gequälten Massen sei, und wer nicht. Heute, als EU, will man nur noch erfolgreicher Standort sein - ungestört durch unnütze Opfer dieses Erfolgs. Diese Ruhe ist nur durch einen permanenten, gemeinschaftlich ausgeübten Gewaltakt herzustellen. Sie nennen ihn europäische Grenz- und Flüchtlingspolitik.
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29.06.2002
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