Ein Text der Frankfurter Gruppe ALiF
Das ist eine Frage, die manche Linke bewegt, die sowohl gegen Kapitalismus als auch gegen Antisemitismus sein wollen. Zum einen gibt es Linke, die anderen Linken den Vorwurf machen, „strukturell antisemitisch“ zu sein; häufig taucht das im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt auf. Zum anderen wird es gerne von Liberalen und Konservativen benutzt, um jede Kapitalismuskritik als eigentlich antisemitisch zu denunzieren. Sie sind zum Beispiel irritiert, dass klassische Darstellungen von „den Kapitalisten“ sich häufig nur durch die Nasenlänge von klassischen Darstellungen „der Juden“ unterscheiden. Da stellt sich die Frage: Wie kommt das? Liefern wir als Linke – unabsichtlich – den Antisemit*innen etwa Material?
Antisemit*innen wettern häufig gegen „das Großkapital“ oder „die Hochfinanz“ und kritisieren einen globalen, „entfesselten“ Kapitalismus. Viele Linke haben darum früher den Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerls“ betrachtet, also als eine antikapitalistische Einstellung von Leuten, die nur noch nicht zur richtigen Kapitalismuskritik vorgedrungen sind. Auch heute noch wird manchmal behauptet, beim Antisemitismus handele es sich um eine „verkürzte“ Kapitalismuskritik – also um eine in der Stoßrichtung schon vernünftige, aber nicht durchdachte, und vor allem nicht zu Ende gedachte Kapitalismuskritik. Antisemit*innen, zum Beispiel die Nazis, sahen es dagegen so: Die marxistische Kritik an Kapitalist*innen überhaupt sei falsch, nur das „raffende“ Kapital sei im Gegensatz zum „schaffenden“ Kapital das Problem.
Leute, die Kapitalismus für eine gute Sache halten, haben in den letzten zwei Jahrzehnten gerne das Argument bemüht, Kapitalismuskritik würde letztlich dem Antisemitismus den Weg bereiten, also Stereotype, Vorstellungen und Kritiken verbreiten, die an den vorhandenen gesellschaftlichen Antisemitismus anknüpfen, ihn bestärken und ihn mit am Leben erhalten.
Als ob es nur eine Kapitalismuskritik gäbe! Nun ist es zwar so, dass manche verkehrte Kapitalismuskritik tatsächlich etwas mit Antisemitismus teilt. Aber nicht, weil die entsprechenden Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat*innen oder Leninist*innen etwas gegen Jüd*innen haben (was durchaus auch der Fall sein kann). Sondern weil sie ein Ideal von der Gesellschaft haben und sie ausbleibende Erfolge oder gesellschaftliche Umstände, die ihnen negativ auffallen, auf das moralisch schlechte Handeln einzelner Akteur*innen zurückführen. Der Schritt, eine bestimmte Gruppe, die sowieso allerhand negative Attribute zugesprochen bekommen hat, dafür verantwortlich zu machen, ist kein notwendiger, aber ein nicht allzu fernliegender.1 Würde mensch davon ausgehen, dass die Bürger*innen in der Gesellschaft überwiegend verdorben seien, dann bliebe wenig Hoffnung. Da hilft der folgende Gedanke: Eigentlich seien die Bürger*innen von Natur aus anständig oder zumindest zu Anstand fähig, leider seien sie aber verführt worden. Das Ideal der guten, anständigen Bürger*innen wird gerettet über die Identifizierung einer Gruppe, deren ganze Natur darin bestünde, unanständig zu handeln.
Antisemit*innen können am Geld, am Profit, am Kapital, am Grundeigentum, am wirtschaftlichen Wettbewerb und an Firmenübernahmen an sich nichts erkennen, was das Leben in der Marktwirtschaft ungemütlich macht. Auf die moralische Einstellung kommt es ihnen dagegen sehr an: Geldgier, Profitsucht, raffendes Kapital, Miethaie, gnadenlose Konkurrenz und Ausplünderung durch Heuschrecken – dies sei der Grund allen Übels. Eine Absage an Geld, Profit, Kapital, Miete, Konkurrenz etc. ist das nicht. Gegen diesen „entfesselten Kapitalismus“ halten die den gefesselten Kapitalismus hoch, der, wenn nicht „das beste aller schlechten Systeme“ doch zumindest weit menschlicher sei.
Folgerichtig stört es Antisemit*innen auch nicht, dass es eine Lohnhierarchie in der Gesellschaft gibt und unterschiedliche Leute unterschiedlich viel Geld verdienen. Auch das in Maßen, versteht sich, der „individuellen Leistung für die Gemeinschaft“ entsprechend. „Sozialistische Gleichmacherei“ wollen sie aber nicht, denn „Leistung soll sich schließlich lohnen“. Einen ganz schlechten Ruf hat das „arbeits- und mühelose Einkommen“, welches das „raffende Kapital“ auf Kosten des „schaffenden Kapitals“ und des „Gemeinwohls“ durch Spekulation oder Wucher erziele. Die Trennung zwischen „schaffendem“ und „raffenden“ Kapital hat es in sich. Das erste steht für den Zweck, die Leute mit ganz vielen nützlichen Dingen zu versorgen und somit dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Das letzte steht für pure Bereicherung und den Eigennutz der Spekulant*innen. Das erste tue Gutes, das letzte bringe Übles hervor.
Mit solchen Kritiken ist der Antisemitismus nun gerade nicht allein. Dazu zwei Beispiele: „Die Menschen merken und missbilligen, dass der gute Unternehmer klassischer Prägung Konkurrenz durch Raubritter bekommt, und das verstärkt das Unwohlsein, das viele Menschen ohnehin schon haben. Sie merken ja, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet.“ Also: Der klassische (Familien-)Unternehmer hat noch das Wohl der Betriebsfamilie vor Augen gehabt, und damit die Gesellschaft zusammengehalten. Aber jetzt kommen böse Figuren, und die Firmen werden aus Profitsucht „zugrundegewirtschaftet oder ausgeweitet, zerschlagen, eliminiert“. So schreibt ein Marktliberaler, Marc Beise.2
„Statt ‘Maß und Mitte‘ galten jetzt Gier und Bereicherungssucht als noble Charakterzüge, zumindest in der Privatwirtschaft. […] Statt um Fleiß und Disziplin ging es jetzt um eine oberflächliche Scheinkreativität und Erfolg. Das spiegelte [...] die wachsende Rolle und Macht des Finanzmarktes wider, auf dessen Parkett [...] Glück, Zufall oder Betrug weit mehr helfen als Anstrengung und Ehrlichkeit“, meint Sahra Wagenknecht, Spitzenkandidatin der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen, über den guten alten produktiven Kapitalismus der 1950er bis 1970er Jahre im Vergleich zu heute.3
In beiden Zitaten ist von Jüd*innen nicht die Rede; sie sind vermutlich auch nicht gemeint und beide Autor*innen würden es bestimmt weit von sich weisen, sie seien Antisemit*innen.
Die Gemeinsamkeit mit antisemitischer Kapitalismuskritik ist offensichtlich: Fehlende Moral, übermäßiges Gewinnstreben, rücksichtslose Durchsetzung von Privatinteressen gegen das ‚Allgemeinwohl‘, Zerstörung von gutem produktiven Reichtum. Kritisiert wird nicht der Kapitalismus, sondern seine angeblichen „Auswüchse“; auf diese wird das Leiden von Menschen zurückgeführt. Weil es im Kapitalismus notwendig Gewinner und Verlierer gibt und weil der Kapitalismus notwendig jede Menge Elend produziert, gehört Unzufriedenheit und Kritik notwendig dazu. Allerdings: Armut scheint gar nicht das Hauptproblem zu sein, sondern alles wird schon in Bezug auf den Zusammenhalt der Gesellschaft besprochen. Dafür ist die Moral als Basis für das Funktionieren der Gesellschaft wichtig und die Tugenden Ehrlichkeit und Fleiß werden dadurch zu Sorgeobjekten. Bewaffnet mit dem Ideal, dass die bürgerliche Gesellschaft eigentlich etwas Gutes für alle sei und mit dem Wunsch, es könne doch irgendwie besser oder gerechter zugehen, sind viele, wenn nicht die meisten Kritiker*innen schnell dabei, unmoralisches Verhalten einzelner Akteur*innen zu geißeln. In dieser Sorte Kritik sind sich viele Linke einig mit Liberalen und Konservativen.
Zum Antisemitismus braucht es dann noch zwei Schritte. Erstens, die fehlende Moral als quasi unveränderliche Charaktereigenschaft festzumachen. Auch das ist hierzulande weit verbreitet, wenn z.B. Menschen, die ein Gesetz übertreten haben, eine innere Kraft namens „krimineller Energie“ angedichtet wird. Diese Sorte Kritik ist der demokratische Sumpf auf dem und in dem der Antisemitismus gedeiht und immer wieder neue Anhänger*innen findet. Dieser suchende Blick nach von Grund auf verdorbenen Charakteren in die Gesellschaft kann sich an allerlei Sachen festmachen. An Individuen (das ist so einer!), an Familien (der Apfel fällt nicht weit vom Stamm), an Klassen oder Schichten (z.B. Sarrazin, der meint, dass 20% jeder Gesellschaft von Natur aus unbrauchbar seien für eine Gesellschaft), an Regionen (ob die „Jammer-Ossis“ wirklich für Deutschland ein Beitrag sind, fragt sich ja mancher „Wessi“ immer noch). Oder eben an „Rassen“. Auf der einen Seite bezweifeln viele Bürger*innen mittlerweile, dass es sowas gäbe. Aber Ethnien, Völker und Kulturkreise stehen ja als Kategorien weiterhin hoch im Kurs und daran lässt sich ebenso gut anknüpfen, wenn man fündig werden will – im Kern sind es nur neue Wörter für denselben rassistischen Gedanken. Der letzte Schritt zum Antisemitismus besteht dann darin, alle tatsächlichen oder vermeintlichen Übel einer kleinen, sowieso übel beleumdeten und national irgendwie als unzuverlässig geltenden Gruppe anzulasten, die im Verborgenen wirke. Und so wird alles, was der moralisierenden Kapitalismuskritik vorher schon aufgestoßen ist und nicht so richtig erklärbar war, zum Argument gegen „die Juden“.4
Neben all diesen Kritiken, die den Kapitalismus falsch erklären und darum schlecht kritisieren, gibt es auch richtige Kapitalismuskritik. Die bemängelt nicht die angeblich falsche Politik, die Werte und Normen und das wirtschaftliche Handeln von Leuten, die ungleichen Eigentums- und Vermögensverhältnisse, die Aufstiegschancen oder Abstiegsbedrohungen oder die jüngste Umweltsauerei. Sondern sie erklärt all diese Dinge richtig, und zeigt: Die Misere liegt am System. So eine Kapitalismuskritik, die das Leid der Leute an den ökonomischen und politischen Sachverhalten prinzipiell festmacht, fördert den Antisemitismus gerade nicht. Im Gegenteil, die praktischen Konsequenzen dieser Kritik sind die einzige Hoffnung, dass sowohl der antisemitische als auch der gesellschaftlich sonst übliche Scheiß aufhört.5
P.S. Wie ist das mit dem „strukturellen Antisemitismus“?
Moralisierende Formen der Staats- und Kapitalismuskritik werden mitunter gerne als ‚strukturell antisemitisch‘ gekennzeichnet, im Glauben, dass sie damit auch schon widerlegt seien. Das geht aber an der Sache vorbei. Mit ‚strukturell antisemitisch‘ soll ja gesagt sein, dass diese Art von Kapitalismuskritik zum Antisemitismus führe oder sogar schon antisemitisch sei, auch wenn an Jüd*innen noch gar nicht gedacht sei. Aber viele Kritiker*innen der angeblich übergroßen Macht des Finanzsektors, wie z.B. Sahra Wagenknecht, machen als Grund für das angeblich schädliche Treiben der Finanzunternehmen keine jüdische Weltverschwörung aus. Das ist ein möglicher Übergang aus dem falschen Gedanken, der aber längst nicht notwendig aus ihm folgt. Deswegen hilft die Charakterisierung eines Standpunktes als ‚strukturell antisemitisch‘ bei der Kritik eines Fehlers nicht weiter. Anstatt dem Gegenüber eine mögliche Fortsetzung des Fehlers als eigentlich schon mitgedacht zu unterstellen (und die Diskussion damit auf die Ebene von Unterstellungen herunterzubringen, was das Gegenüber die ganze Zeit über eigentlich denkt), wäre aufzuzeigen, warum eine moralische und personalisierende Kapitalismuskritik ihren Gegenstand falsch kritisiert; unabhängig davon, ob an Jüd*innen gedacht ist oder nicht.
Ein Text der Frankfurter Gruppe ALiF
1 Wie es dazu kommt und wie das genau abläuft, versuchen wir in dem Text „Warum kommen so viele Nationalist*innen auf antisemitische Urteile“ zu zeigen. https://gegen-kapital-und-nation.org/warum-kommen-so-viele-nationalistinnen-auf-antisemitische-urteile-50f50a/
2„Eine ganz neue Firma“, Süddeutsche Zeitung v. 06. Mai 2021
3Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt a. M. 2021, S. 93 und 94.
4Um dieses Urteil zu prüfen, sei ernsthaft empfohlen sich Hitlers Schrift „Mein Kampf“ durchzulesen. Da zeigt sich, welche „normalen“ bürgerlichen politischen Drangsale ihn beschäftigen, die sich (abgesehen von der besonderen Lage der deutschen Nation 1923) wirklich nicht von heutigen Problemdiskussionen unterscheiden. Hitler entdeckt dann den Juden als Quelle all der Sachen, mit denen er in seinem Weltbild zuvor theoretisch nicht klar gekommen ist.
5Eine solche Kritik ist in unserem Buch zu finden: „Die Misere hat System: Kapitalismus.“ Kostenlos als PDF auf unserer Webseite zu erhalten. https://gegen-kapital-und-nation.org/page/die-misere-hat-system-kapitalismus/