Im Januar 2008 erreichte uns folgender Leserbrief in Reaktion auf diesen Text. Unsere Antwort folgt darunter.
C. aus L. schreibt:
"Ihr schreibt:
"Schon diese bloße Möglichkeit, die Natur mittels der Vernunft für den Menschen zu nutzen [...] lehnen die VeganerInnen ab."
Wie kommt man auf die Idee, Veganer würden es ablehnen, mittels ihrer Vernunft die Natur zu nutzen? Sind sie alle Pfahlsitzer auf einer Insel, die im Momente der Erleuchtung ersticken, weil ihnen aufging, dass Atmen eine Ausbeutung der Natur darstellt?
Man mag es nicht glauben: ich habe von Veganern gehört, die in Häusern Leben, Kleidung tragen oder sogar Pflanzen essen!
Weiter schreibt ihr: "Recht kann nur willentlich, also nur von Menschen gesetzt werden."
Desweiteren können Rechte aufgrund ethischer Maßstäbe formuliert werden. Mehr noch: die Legislative kann ohne ethische Grundlagen überhaupt nix. Ethik hingegen kann man ohne ein zugrundegelegtes Rechtssystem vertreten - das mag schwierig sein, und vielleicht hauen sich deshalb jeden Tag etliche Philosophieprofessoren gegenseitig die Köpfe mit ihren Traktaten ein - aber als Anregung: man braucht niemals etwas von Rechten gehört zu haben, um Mitleid zu empfinden oder altruistisch zu handeln. Sogar Tiere können so etwas, und die meisten davon könnten nicht einmal das Wort schreiben ... Ich würde Vegetarismus/Veganismus also niemals mit Rechten erklären, sondern mit Rücksicht, Mitleid, Respekt und ähnlichem Zeug. Tut mir leid, dass ich das nicht begründen kann - aber wer das fordert, dem glaube ich nicht, dass er diese Werte nicht auch in sich trägt. Ich glaube ihm nur, dass seine Vernunft andere Prioritäten setzt. Dazu ein freies Zitat nach Forrest Gump: >>Tier ist der, der Tierisches tut.<<
Dabei erfordert jede Situation Entscheidungen. Es gibt schwarz/weiße, graue, bunte - es gibt unzählbare Grenzen, die man überschreiten kann oder denen man sich annähert. Manche davon kann man nicht festsetzen -trotzdem kann eindeutig sein, wann sie überschritten wurden. Zum Glück gibt es auch Bereiche, in denen Grenzen keine praktische Rolle spielen. Wenn deine Billardkugeln nicht aus Elfenbein sind, kann ich das Spiel noch so schlecht finden (oder schlecht können), mir fehlt jegliche Grundlage, es unter ethischen Gesichtspunkten zu kritisieren.
Weiter schreibt ihr: "[...] sie sind dem gesellschaftlichen Zwang unterworfen, mit ihrem Betrieb Profit zu machen. Tun sie dies nicht, gehen sie pleite und ein anderer Betrieb nimmt ihren Platz ein."
Natürlich verstehe ich, dass das ein Problem ist. Aber seit wann ist: dann hätte es eben ein Anderer gemacht ein Argument? Als ob jeder Mensch im Kapitalismus ohne Prinzipien leben würde...
Weiter: "Käme mal jemand auf die Idee, alle Produkte zu boykottieren, die unter Ausbeutung von Menschen produziert werden [...]"
Ich glaube es ist kein Zufall, dass gerade Leute, die zu Veganismus tendieren, gleichzeitig Ideen wie den FairTrade unterstützen und umgekehrt. Aber wir haben eine Schublade dafür: Gutmenschen. Die gehören ja eh abgeschafft...
Unsere Antwort:
Hallo C., danke für deinen Kommentar! Entschuldige bitte, dass die Antwort so lange auf sich warten ließ.
Zu deinem ersten Absatz. Du kritisierst, dass in dem Artikel so getan wird, als ob alle Vegane einen vernünftigen Gebrauch der Natur ablehnten - und stellst heraus, dass das Unsinn sei. Ich stimme deiner Kritik in diesem Punkt voll zu. Die Position, jede Nutzung der Natur mittels der Vernunft abzulehnen (bzw. die, dass der Mensch als solcher das Unheil für die Natur sei) gibt es zwar auch im politischen/politisierenden Veganismus, stellt aber eine minoritäre Strömung dar. Der Artikel generalisiert diese Position falsch als eine Allgemeine.
Desweiteren weist du darauf hin, dass eine vegane Einstellung sich nicht notwendig durch einen Bezug auf Tierrechte begründen muss, sondern z.B. sich auch durch Mitleid mit dem Tier zu begründen versucht. Auch in diesem Punkt stimme ich dir zu. Der Artikel tut so, als ob alle Vegane tierrechtlich argumentieren würden. Das ist falsch. Es gibt auch ökologische, moralische, gesundheitliche, religiöse, ... Begründungen für Veganismus. Ich werde vorschlagen, dass der Artikel eine Vorbemerkung bekommt, in der herausgestellt wird, dass es sich primär um eine Kritik des tierrechtlichen Veganismus handelt. In der Kritik dieser Begründungsart des Veganismus trifft der Artikel wesentliche Bereiche richtig. Aber mit dieser Kritik hast du dich in deinem Leserbrief ja nicht gesondert auseinandergesetzt, sondern hauptsächlich auf eine andere Begründungsart des Veganismus hingewiesen. Um diese Art, die du richtig findest, soll es im Weiteren gehen.
Ich vermute, bei "vegan leben" denkst du nicht nur daran, dass du es persönlich ablehnst/ekelig findest, Tierprodukte zu verwenden oder zu konsumieren, und als Privatperson damit nichts zu tun haben willst, sondern du denkst vermutlich außerdem auch, dass Vegetarismus und Veganismus eine gute und richtige Sache ist, eine Sache, die man machen sollte, wenn man ein ethisch bewußter Mensch ist; die am Besten eigentlich alle auch zu ihrer Sache machen sollten, aus ethischer Einsicht. Ich weiß nicht, ob du denkst, dass wenn alle nur ihr Mitleid (was du wohl als das Gute im Menschen begreifst) mehr ausleben würden, es dann keine (weniger) Gewalt und "Böses" in der Welt gäbe. Ich vermute, dass du dir eine Veränderung der Gesellschaft so vorstellst, dass immer und immer mehr Einzelne sich lediglich ethisch korrekt verhalten müssten. In dieser ethischen Sichtweise kriegst du die politischen und ökonomischen Gesetze der Gesellschaft erst gar nicht in den Blick.
Im Folgenden will ich v.a. auf zwei Punkte eingehen: Im ersten Punkt will ich deinen Versuch kritisieren, deine Haltung/Einstellung (die du dir m.E. für alle wünschst, für alle richtig findest) so zu begründen, wie du es gemacht hast (es geht mir dabei nicht um deine Gefühle und deinen Lebensstil - dagegen habe ich nichts). Im zweiten Punkt will ich allgemeiner die "Methode" kritisieren, mit einer ethischen Kritik die Gesellschaft zu beurteilen.
Du willst Vegetarismus/Veganismus nicht durch ein Recht oder einen Rechtsanspruch legitimieren/ begründen/fundieren, sondern durch ein Gefühl, nämlich Mitleid.: >br> "Man braucht niemals etwas von Rechten gehört zu haben, um Mitleid zu empfinden oder altruistisch zu handeln. Sogar Tiere können so etwas, und die meisten davon könnten nicht mal das Wort schreiben... Ich würde Vegetarismus/Veganismus also niemals mit Rechten erklären, sondern mit Rücksicht, Mitleid, Respekt und ähnlichem Zeug. Tut mir leid, dass ich das nicht begründen kann - aber wer das fordert, dem glaube ich nicht, dass er diese Werte nicht auch in sich trägt. Ich glaube ihm nur, dass seine Vernunft andere Priöritäten setzt."
Ich fasse deinen Gedanken nochmals in meinen Worten zusammen: Deines Erachtens ...
ist Menschen und (allen oder vielen) Tieren gemeinsam, dass sie Mitleid in sich haben. Dieses Mitleidsgefühl, dieser Mitleidsinstinkt existiert und wirkt unabhängig davon, ob diese Wesen vernünftig denken können. Der Mensch kann vernünftig denken. Das kann dazu führen, dass sein Denken ihn dazu bringt, nicht seinem Mitleid zu folgen. Du kannst diese These, dass jede/r den Wert des Mitleids in sich trägt, nicht begründen. Aber wenn jemand dem widerspricht, dann glaubst du ihm/ihr nicht.
Du unterstellst also nicht nur eine bestimmte, in diesem Falle „positive“ Natur des Menschen (d.h. ein Wesen des Menschen, welches durch den Wert Mitleid charakterisiert ist), sondern darüber hinaus auch, dass die Natur der (oder vieler) Tiere genauso beschaffen sei. „Mitleid“ scheint bei dir nicht nur zu einer anthropologischen Eigenschaft schlechthin stilisiert zu werden, sondern wird zugleich zu einer biologischen Eigenschaft schlechthin aufgeblasen, die den (oder vielen) Tieren ebenso eigen sei. „Mitleid“ taucht in deinem Denken als eine Art Natureigenschaft, als eine Art Naturinstinkt auf, welcher auch in die menschliche Natur hereinragt, hereinwirkt. Dieser "Mitleidsinstinkt", dieses Mitleidsgefühl könne nur dadurch in ihm unterbunden werden, indem der Mensch mittels seiner Vernunft etwas anderes als wichtiger setze.
Warum soll denn überhaupt Mitleid in jedem Menschen stecken? Ist Mitleid eine rätselhafte Natureigenschaft des Lebendigen? Oder können Menschen Mitleid überhaupt nur unter bestimmten gesellschaftlichen, sozialen und persönlichen Bedingungen entwickeln? Ein Mensch, der in seinem Leben nie Empathie und Liebe durch andere erfahren hat, wird es zumindest äußerst schwer haben, anderen gegenüber einfühlsam zu sein, sein zu können. Nicht, weil er einen "Naturdefekt" hat, auch nicht, weil seine Vernunft ihn davon ablenkt, sondern weil die individuelle Entstehung der Fähigkeit von Mitfühlen-/Mitleidenkönnen an soziale Umstände gebunden ist, die da sind oder eben nicht da sind.
Ist die emotionale Fähigkeit zu Mitleid bei einem Menschen mal entstanden, dann kann Mitleid ohne jede vernünftige Reflexion willkürlich bis verrückt sein: so konnte z.B. die deutsche Soldatenfrau im Nationalsozialismus etwa Mitleid mit ihrem angeschossenen Mann haben, der von der Ostfront kommt, aber nicht mit den Menschen, die er dort umbrachte, oder mit den jüdischen Nachbarn, die ins KZ kamen. Mitleid scheint extrem selektiv beim Einzelnen zu sein; und zwischen verschieden Gruppen von Menschen scheinen ebenfalls extrem unterschiedliche Maßstäbe für die Objekte des Mitleidens zu gelten.
Ich habe den Eindruck, dass ein Beispiel für die Herausbildung von Gruppen-Maßstäben für Mitleid auch ist, dass "vegan werden" bei einigen TierfreundInnen durch eine "Mitleidstour" angefeuert wurde: teils wurden sich "Tierhorrorvideos" (Filme über Massentierhaltung und Schlachtung) immer wieder angesehen, um sich Ekel und Mitleid sozusagen anzutrainieren bzw. zu verstärken. Auch diese Gefühle sind also nicht einfach so in ihnen vorhanden und fordern von sich aus bestimmte Handlungen, sondern werden bewusst verstärkt und absichtsvoll in Dienst genommen, um den Verzicht auf Lebensmittel, die vorher zum eigenen Speiseplan gehörten, zu erleichtern.
Des Weiteren: Du willst deine Sichtweise aus einem individuellen und konkreten Gefühl heraus begründen. Aber dabei verwandelt, transformiert sich dieses Gefühl bei dir, man weiß nicht wie, in einen "Wert", also in etwas Abstraktes; in etwas, über das also der Verstand urteilt. Mit dem Wert (bzw. der Wertigkeit), den (die) du einem Gefühl zuordnest, ist die Vernunft immer schon mit im Spiel; auch schon, wenn du überhaupt nur ein Gefühl von dir selbst bestimmen willst, es zur Sprache bringen willst - es z.B. inhaltlich/bedeutungsmäßig mit dem Begriff Mitleid assoziierst. Mittels deines Vernunftvermögens fällst du Urteile über Tatbestände, die implizit den Anspruch haben, allgemein gültig, wahr zu sein ("alle haben diese Werte in sich") - wenn du so etwas behauptest, finde ich, dann müsstest du dich auch auf eine vernünftige Auseinandersetzung einlassen, ob das denn stimmt, was dir dein Denken sagt - oder es eben sein lassen, von deinem Gefühl aus auf die Menschheit schließen zu wollen.
Falls du in die Richtung denkst, dass die "eigentliche" Natur des Menschen "positiv" sei, und sie das mit (allen oder vielen) Tieren gemeinsam hat (zumindest in Hinblick auf Mitleid und Altruismus) - wie verhältst du dich dann zu Menschen, die anderes oder gegenteiliges behaupten? Und die auch wie du den Anspruch haben, dass ihre Sichtweise, ihr Gefühl die ethisch korrekte Einstellung sei? Du willst dich gegen vernünftige Kritik und Diskussion immunisieren: Du schreibst, dass du nicht glauben willst, dass es Menschen gibt, die nicht auch deine beschriebenen und beurteilten Werte in sich tragen (sondern nur, dass die Vernunft einen anderes wichtiger finden lassen kann). - Was, wenn einer behauptet, die Menschennatur sei „eigentlich“ durch Mitleid charakterisiert, und ein anderer, sie sei „eigentlich“ durch (z.B.) Egoismus charakterisiert? Beide könnten auf "Beispiele" in der Wirklichkeit hinweisen. Wer hat nun „recht“? Wenn man (explizit oder implizit) Bestimmungen/Behauptungen darüber aufstellt, was den Menschen ausmacht, ist immer schon Vernunft nötig. Damit diese nicht willkürlich-beliebig ausfallen (dann sagen alle immer nur „ich habe recht!“ - „nein, ich!“; oder derjenige setzt sich durch, der mehr Macht hat) ist es des Weiteren nötig, dass man sich dazu ein paar vernünftige Gedanken macht, und sich darüber austauscht, also versucht, das Ganze gemeinsam vernünftig zu durchdenken. Wenn du gar nicht erst versuchen willst, das vernünftig zu durchdenken, dann kommt bestenfalls immer nur Beliebigkeit ohne Folgen heraus, und schlechtestenfalls setzt sich der Stärkere gewaltsam durch.
Wenn du damit „argumentierst“, dass deine Sicht richtig ist, die Sache trifft, weil du das im Gefühl hast, das fühlst, dann hast du immer sofort das Problem, dass andere Menschen anderes dazu fühlen können, und ihr euch nicht darüber vernünftig verständigen könnt, wenn alle immer nur auf ihr Gefühl als die "Wahrheitsquelle" pochen. Denn Gefühle sind nunmal bei jedem Menschen anders. Man kann einen anderen Menschen nicht davon überzeugen, ein bestimmtes Gefühl zu einer bestimmten Sache zu haben. Wohl aber kann man die durchdachten Gründe für eine Entscheidung oder Forderung vortragen, zur Diskussion stellen und damit dem/der anderen die Möglichkeit geben, diese nachzuvollziehen und selbst zu entscheiden, ob sie inhaltlich stimmen, oder zu begründen, warum nicht, oder nur teilweise. - Gefühle für sich genommen können also nicht sinnvoll zum Maßstab der gemeinsamen Kritik an etwas werden, vernünftige Erklärungen und Gründe schon.
Wie willst du z.B. einem Rassisten widersprechen, wie gegen ihn argumentieren, wenn er behauptet, „in echt“ gäbe es höher- und minderwertige Menschenrassen, und die Natur seiner Rasse sei zum Herrschen berufen, er fühle das in sich? Dann kannst du dem mit deiner Sichtweise nicht sinnvoll widersprechen, sondern ihm halt nur dein eigenes Gefühl zu der Sache abstrakt und von außen gegenüber stellen. Ich denke, dass man mehr und anderes tun kann, als sich anders (oder besser) als die Faschisten zu fühlen, wenn man solche Positionen hört. Statt ihnen nur entgegenzusetzen „ihr habt unrecht, ich fühle das“ und ihnen nur ein „anderes Menschenbild“ gegenüberzustellen – kann man das aufgrund vernünftigen Denkens mit Argumenten als falsch kritisieren, und darüber hinaus versuchen zu erklären, warum solche Positionen in dieser Gesellschaft immer wieder auftauchen, also worin seinerseits das seinen Grund hat – um eben diesen Grund, der mit der eigentümlichen Einrichtung dieser Gesellschaft zusammenhängt, dann am Besten praktisch aus der Welt zu schaffen. Wie wir diese Gründe bestimmen, bzw. wie wir uns die Entstehung faschistischen und rassistischen Bewußtseins erklären, kannst du in den entsprechenden Texten unserer Homepage nachlesen (und dich mit uns darüber argumentativ auseinandersetzen, wenn du denkst, dass da etwas inhaltlich falsch ist, denn wir sind immer an Kritik interessiert).
Ich hoffe, ich konnte verdeutlichen in was für Probleme du kommst, wenn du deine "politische Haltung" mittels eines Gefühls "begründen" willst.
Meines Erachtens ist damit auch der Versuch gescheitert, Vegetarismus/Veganismus auf die Art zu begründen, die du "vorschlugst". Gescheitert in dem Sinne, dass man dann mit gleichem Recht das eine und zugleich das genaue Gegenteil davon "begründen" kann; man sich dann nicht vernünftig damit auseinandersetzen kann, und man so letztlich in Beliebigkeit endet.
Etwas anderes wäre es, wenn du versuchtest, deine (veganen) Inhalte vernünftig zu begründen. Das ist sicher viel schwieriger, als nur einem Gefühl Ausdruck zu geben und sich in seinen Forderungen darauf zu berufen. Aber es könnte ggf. dazu führen, dass andere das als vernünftig einsehen können und entsprechend handeln könnten. Ein Handeln aus Einsicht, aus Vernunft, ist nicht durch Willkür oder Gewalt zustande gekommen, sondern in Freiheit, denn der/die DiskussionspartnerIn kann selbst, durch eigenes Nachdenken über diese Begründung, entscheiden, ob sie stimmen und sonst wiederum begründen, warum nicht. Darüber kann man dann diskutieren und ggf. zu einer gemeinsamen Kritik kommen. Du findest Mitleid einen "Wert", der als Grundlage für eine Ethik für alle von dir gewünscht wird. Du misst vermutlich dich selbst und deine Mitmenschen daran, vergleichst und beurteilst Handlungen in der Welt anhand deines ethischen Anspruchs/Maßstabs. Jedoch kann Ethik nicht nur nicht vernünftig über ein Gefühl begründet werden, sondern es ist auch schon an sich verkehrt, eine Ethik entwickeln zu wollen, um damit auf die Welt loszugehen - statt sich die Welt vernünftig zu erklären, um die Herrschaft abzuschaffen. Das soll im Weiteren erläutert werden.
Von überhaupt irgendeiner "ethischen Grundlage" als Basis einer Kritik/Sichtweise auszugehen, und "Ethisches" zur Richtschnur des individuellen (und gemeinschaftlichen) Handelns zu setzen, finde ich falsch. Denn es reduziert die allgemeinen, gesellschaftlichen, miesen Zustände auf besondere Verhaltensfragen Einzelner, nämlich auf die Frage: Wie (nach welchen Maßstäben) kann ich mich ethisch in dieser Welt, die oft Scheiße ist, die unsere gesellschaftliche Welt ist, verhalten? Wie kriege ich es hin, mein Ich möglichst wenig "schmutzig", sondern "rein" zu erhalten? Damit wird eine individualistische Perspektive (ein individueller "Lösungsversuch") auf die Probleme und Härten geworfen, die durch die Gesellschaft als Ganze erst produziert werden. Gesellschaft ist gerade nicht die Summe der jeweils einzelnen Handlungen, sondern diesen Handlungen als gesellschaftlicher Rahmen vorausgesetzt. Dieser "Rahmen" taucht in deinem Denken erst gar nicht auf. Wenn man z.B. in unserer Gesellschaft Lebensmittel (Wohnung, Essen, Kultur etc.) in der Regel nur gegen Geld bekommt, und in der Regel Lohnarbeit nötig ist, um an Geld zu kommen, dann ist daran, dass Lohnarbeit herrscht, nicht die Summe der Einzelnen "schuld". Genauso wenig kann Lohnarbeit einfach durch eine Verhaltensänderung abgeschafft werden, sondern erst durch eine Überwindung der in der Gesellschaft herrschenden politischen und ökonomischen Gesetze, die eben allen Einzelnen und ihren individuellen Handlungsspielräumen jeweils den Rahmen und die Bedingungen setzt/aufherrscht.
Das Problem an einer ethischen Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und Erscheinungen besteht darin, dass letztere nicht erst begriffen werden, also erklärt würde, warum sie so sind, wie sie sind, warum diese Gesellschaft immer wieder genau diese hervorbringt. Sondern statt dessen vergleicht sie die Verhältnisse und Erscheinungen bloß mit einem (ethischen) Ideal und beurteilt sie danach. Eine solche Verfahrensweise ist auch eine bestimmte Verhaltensweise des eigenen Denkens der Gesellschaft gegenüber. In ihr werden mit einem willkürlich gesetzten Maßstab Sachen, Dinge, Zustände gemessen/beurteilt (über die man eigentlich doch etwas Stimmiges aussagen will, von denen man sich einen richtigen Begriff bilden will, die man verstehen will), und dadurch werden diese Sachen/Zustände verfehlt, nicht begriffen, missverstanden - eben weil der ethische Maßstab der beurteilten Sache äußerlich bleibt, ihr dadurch nicht gerecht wird, ihr bloß willkürlich von außen Wertigkeiten zuschreibt. Ich habe sehr den Eindruck, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft mit einer ethischen Kritik/Sichtweise in ihrem Kopf herum laufen, und daher auch nicht verstehen, wie hier und heute die Gesellschaft und alle ihre Mitglieder durch Herrschaft zugerichtet werden - sie fragen gar nicht nach Gründen, sondern empören sich meist bloß. Und wenn´s Fragen gibt, dann meistens die: Wer ist schuld? Damit wird nach jeweils mangelhaften Charaktereigenschaften von Personen oder gar Gruppen gefahndet, und nicht nach den gesellschaftlichen Bedingungen und der gesellschaftlichen Logik von Handlungen gefragt; damit werden die herrschenden Verhältnisse dem Gesichtsfeld und damit der Kritik entzogen.
Während du behauptest, PolitikerInnen könnten erst gar nicht handeln ohne Ethik, geht die übliche ethische Kritik an der Politik in diesem Punkt eher umgekehrt zu deiner: es wird den PolitikerInnen und StaatsführerInnen unterstellt, sie hätten einen Mangel an Ethik, und würden aus diesem Grunde eine "schlechte" Politik betreiben. Es wird ihnen vorgeworfen, sie würden nicht genug "Gutes tun" für die soziale Gerechtigkeit/Frauen/Homosexuellen/Kinder/Umwelt/Tiere/Gesundheit/ usw. Üblicherweise wetteifern alle PolitikerInnen rhetorisch darum, dass genau ihre Partei am besten das sog. Allgemeinwohl vertreten würde, also für alle "gerechte", "gute" etc. Zustände verwirklichen wollen würde (und nur durch andere Parteien/ das Ausland/ die Globalisierung/ das Finanzkapital/ xyz daran gehindert würde). Es wäre naiv, nicht unterscheiden zu wollen zwischen den wirklichen Gründen für Politik einerseits (wie wir uns diese Gründe erklären, kannst du ebenfalls unserer Homepage entnehmen), und andererseits den Behauptungen über die Gründe für Politik durch die PolitikerInnen. Ebenso naiv wäre es, eine Art Wunschzettel an die Politik heranzutragen, und zu bemängeln, dass dieser nicht verwirklicht werde.
Diese "ethische Kritik"-Verfahrensweise taugt nichts für eine Erklärung der Realität, denn sie misst diese an einem behaupteten Ideal (und kritisiert halt einen Mangel der Wirklichkeit im Verhältnis zum Ideal), statt diese Wirklichkeit selbst zu erklären. Und statt sich zu fragen, ob diese Wirklichkeit denn überhaupt vernünftig eingerichtet ist. Denn das ist sie nicht. Weder gibt es einen vernünftigen Umgang der Menschen untereinander, noch zwischen Mensch und Natur. Nicht wäre die Vernunft dafür zu kritisieren, dass sie den Menschen von seinem angeblichen Mitleidsinstinkt abbringen kann, sondern zu kritisieren wäre, dass diese Welt in Wahrheit so unvernünftig eingerichtet ist, und daher mit System soviel überflüssiges Leid entsteht.
Weil du eine individualistische und ethische Perspektive einnimmst, und die Welt primär so wahrnimmst und beurteilst, verfehlst du auch ein bestimmtes Argument im Artikel; dort heißt es: "Massentierhaltung ist keine schöne Sache, doch sie hat ihren Grund nicht in der verwerflichen Bösartigkeit der Massentierhalter. Diese haben sich nicht das Ziel gesetzt, möglichst viele Tiere zu quälen, sondern sie sind dem gesellschaftlichen Zwang unterworfen, mit ihrem Betrieb Profit zu machen. Tun sie dies nicht, gehen sie pleite und ein anderer Betrieb nimmt ihren Platz ein."
Du schreibst dazu: "Aber seit wann ist >dann hätte es eben ein Anderer gemacht< ein Argument? Als ob jeder Mensch im Kapitalismus ohne Prinzipien leben würde..."
Das Argument im Artikel war nicht "wenn ich nicht in der Tierindustrie arbeite, dann macht es eben ein anderer - also egal". Das Argument im Artikel wies auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Zwänge hin. Du verdrehst das zu einem Entschuldigungsversuch für die Einzelnen. Der Artikel wies darauf hin, dass der Grund für die Tierindustrie nicht in einer jeweils individuellen Bösartigkeit oder mangelnden ethischen Einsicht der Betreibenden besteht, sondern in den Gesetzen einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft zu suchen ist.
Im Kapitalismus müssen alle Produkte als Waren produziert, verteilt und konsumiert werden. So tauchen auch Tierprodukte als Waren auf, mit denen sich ein Geschäft machen läßt. Alle müssen sich aufgrund der kapitalistischen Gesetze jeweils individuell darum kümmern, über den Markt an Geld zu kommen, um zu überleben; entweder als bloßer Verkäufer ihrer selbst als Ware Arbeitskraft, oder als EigentümerIn eines Unternehmens, dass Arbeitskräfte einkauft, um durch den Verkauf der von ihnen produzierten Waren einen Profit zu erzielen. Da sich mit Tierprodukten offenbar ein Geschäft machen läßt, nutzt es nichts, wenn ein Kapitalist aus Mitleid seine Tierfabrik dicht macht (oder eine Arbeitskraft aus Mitleid dort nicht arbeiten will) - dann wird ein anderer halt seine Marktanteile übernehmen (oder ein anderer dort arbeiten) und sonst ändert sich nichts. Diese gesellschaftliche Realität nur dergestalt zu kritisieren, dass man den Betreffenden einen ethischen Vorwurf macht, blendet eben die gesellschaftlichen Zwänge aus, denen die Individuen unterworfen sind und fordert nur eine jeweils individuelle Gewissensentscheidung, die in dieser Gesellschaft eben bedeuten kann, dann keinen Job bzw. keinen Betrieb mehr zu haben, also auch keinen Lebensunterhalt bzw. nur noch Hartz4. Solange gewisse Prinzipien des gesellschaftlichen Funktionierens herrschen (z.B. dass der Zweck des ganzen Produzierens im Profitmachen, und nicht in einer vernünftigen Bedürfnisbefriedigung Aller besteht), werden keine individuellen Verhaltensentscheidungen diese gesellschaftlichen Prinzipien ändern.
Das soll nicht dagegen sprechen, dass Individuen sich innerhalb dieses gesellschaftlichen Rahmens entscheiden können, bestimmte Handlungen zu unterlassen (z.B. Fleisch essen) oder zu tun (z.B. FairTrade) - aber man sollte diese privaten ethischen Entscheidungen nicht mit politischem Handeln verwechseln: denn wer z.B. die Tierindustrie und die weltwirtschaftlichen Machtverhältnisse wirklich abschaffen will, muss zunächst begreifen, worin diese ihre Gründe haben, um sie dadurch vernünftig kritisieren und zielgerichtet angreifen zu können.
Falls du und dir politisch Nahestehende Interesse haben, über diese Themen mit uns zu diskutieren, dann melde dich ruhig noch mal! Viele Grüße, M.
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