Im August 2008 erreichte uns folgender Leserbrief in Reaktion auf den Text: Hauptsache gesund! Behinderung und Krankheit als Super-GAU des bürgerlichen Individuums. Unsere Antwort folgt darunter
Hallo, ich "freue" mich über den neuen Text über die kulturelle Konstruktion von "Behinderung". Der Text trifft genau ins Schwarze. Mir selbst haben sich beim Lesen weitere Fragen aufgeworfen, die in etwas größerem Kontext stehen, aber nicht minder auf Ausschluß abzielen: 1. zunächst würde ich mich interessieren, wie ausgehend von einer Definition von "Behinderung" innerhalb bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft ein Bogen geschlagen werden kann zu neuen Techniken auch innerhalb der Medizin. Es wurde zum Schluss des Textes schon angerissen: Pränataldiagnostik, Gentests etc. Im Ganzen das Feld der Molekularbiologie, die öffentlich gern als neue "Chance" betrachtet wird, Leben zu schaffen. Eindeutig ein Fall von "Biopolitik", wo dies staatlich goutiert und lanciert wird (Auftragsforschung, Gesetzgebung). Diesbezüglich hab ich mir selbst von einiger Zeit eine Notiz gemacht, die ich mal zitiere: /Der Gendiskurs ist nicht nur eine Kampfansage an soziale und medizinkritische Bewegungen, die auf die Rolle von Ausbeutungsstrukturen, Herrschaftsprozessen und kapitalistischen Produktionsverhältnissen für die Entstehung von Krankheiten hinweisen; er funktioniert auch als Gegengewicht zu theoretischen Positionen, die auf die soziale Konstruktion und kulturelle Kontingenz von scheinbar natürlichen Entitäten wie Geschlecht oder Rasse aufmerksam machen. Es ist die vermeintlich geschlechtsneutrale Humangenetik, deren zentrale Referenz das »menschliche Genom« ist und die von einer prinzipiellen Gleichheit von Männern und Frauen vor den Launen der DNA ausgeht, die es erlaubt, geschlechtliche Differenzen und Asymmetrien biowissenschaftlich zu verankern. Der Gendiskurs ermöglicht erstens, die bipolare Geschlechterordnung scheinbar objektiv und wissenschaftlich neutral festzustellen, wobei alles Dritte oder Ambivalente als defizitär und behandlungsbedürftig ausgeschlossen wird; zweitens ist diese prinzipielle Geschlechterdualität auch hierarchisch strukturiert, da »weibliche« Faktoren und Merkmale zugunsten von »männlichen« abgewertet werden; drittens ist zu beobachten, dass im Kontext des genetischen Wissens neue Entscheidungszwänge und moralische Imperative auftauchen, deren primäre Adressaten Frauen sind. [Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik , VS Verlag: Wiesbaden 2007, S. 174]
daraus ergibt sich schon 2. wie nämlich auf der Grundlage von aktueller und zukünftiger medizinischer Diagnostik der Übergang von "gesund" und "krank" neu formuliert und wiederum gesamtgesellschaftlich quittiert und (miss)braucht wird. Auch hier ist der bürgerliche Staat als Sachwalter Nr. 1 zu verstehen, der dieser Art medizinischen Wissen produzieren und zirkulieren lässt (ihr hattet schon den Verweis auf "Die Archäologie des ärztlichen Blicks" gegeben. 3. Das Zitat zeichnet ja auch nach, wie Geschlechterdifferenzen neu herausgestellt werden und somit die "gender"-Problemmatik mal eben mit Verweis auf die Biologie ad acta legen. Nicht zu leugnen, dass stillschweigend politische Implikationen getilgt werden sollen. Ein klarer Fall von Pathologisierung am Horizont.
und 4. Darüber hinaus der Zusammenhang zwischen "Behinderung" und - ihr hattet es schon erwähnt - "Geistesgesundheit", die dem bürgerlichen Individuum als Lebensgrundlage dient und dienen soll. Kurzum: Psychatriediskurse; neuerdings im Verbund mit Neurologie/Hirnphysiologie. Auch daraus werden neuen "Abweichungen" konstruiert, die bspw. an Schülern (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mittel Psychopharmake und Verhaltenstherapie) exemplarisch vollzogen werden. Behinderung rekurriert also auf Pathologisierung, Sexualisierung, Psychiatrisierung und damit letztlich Internierung, denn, und auch das hattet ihr durchblicken lassen, übrigens in einem unschlagbaren Satz ("/Abstrakt wird niemand gezwungen, in der Konkurrenz mitzumachen, konkret aber muss eine, die Hunger hat, Geld haben, um sich was zu essen zu kaufen. Dieses Geld sollte sie sich besser durch legale Praktiken wie Lohnarbeit, Lottogewinn oder Erbschaft verdient haben, sonst droht schlimmstenfalls der Knast."/), jeder, der nicht den aktuellem kulturellen Idealbild des Körpers entspricht, gilt als deviant. Nur dass die Kriminologie (als positivistische "Wissenschaft vom Verbrechen" [sic!]) nicht mehr auf Triebstruktur und Stirnhöhe verweist, sondern auch in ihr Verfahren die gesamte medizinisch-psychiatrische Terminologie einflicht, um daraus ihre (Seelen)Bestrafungen zu formulieren. Kurzum: Wie verhält es sich in der Kriminologie mit der Renaturalisierung und Biologisierung gesellschaftlicher Dispositive? Wie groß ist der Einfluss von Hirnforschung, Molekularbiologie, Neuropsychologie oder Psychiatrie auf den "Täterdiskurs"? Ich hab gesehen, dass ihr ein Seminar zur Biologie und Biologismus plant. Ich denke, die verschiedenen Themengebiete lassen sich gut miteinander verknüpfen, denn was sind unterm Strich nicht "bloß": Aussbeutungsstrategien auf der Kapitalistenseite, Selbsttechnologien auf der individuellen Ebene. Und staatlich betrachtet "Biopolitik", wo sie zu aktiven Durchgreifen gemahnt. Also mehr Anregungen, denn Kritik am Text. Gruß, A.
Hallo Alexander, vielen Dank für Deine Weiterführung unseres Textes (deine Mail darunter). Da viele Punkte nur angerissen waren, ist es toll, wenn wir sie weiter ausführen können - also gerne mehr davon! Den Bogen zu medizinischen Diszplinierungs- und Normalisierungspraktiken hast Du ja in Deinem Text bereits geschlagen. Auf jeden Fall ist unser Text ergänzungsbedürftig in der Frage, wie die Festschreibung der Norm in Bezug auf Geschlecht der Festschreibung von Gesundheit und Krankheit gleicht. Das müssten wir bald mal näher ausführen. Generell erscheint der Körper im Gen- und Bioethik-Diskurs offenbar rein als zu bewertendes und verwertendes Material, das nur, wenn es bestimmten Standarts entspricht, seinen vollen Wert zugesprochen bekommen. Bleibt die Frage, warum bestimmte Formen der Beeinträchtigung noch im Rahmen dieser Standards akzeptiert werden und manche nicht - und woher diese Grenzziehung kommt. Da kommen, glaube ich, wieder die bürgerlichen Anforderungen an die Dienstbarkeit des Körpers ins Spiel: Kontrollfähigkeit, Ästhetische Normerfüllung und (potentielle) Fähigkeit zur Lohnarbeit. Interessant ist, dass diese Standarts sehr flexibel gehandabt werden - beispielsweise haben Länder, in denen die Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt ist, jeweils unterschiedliche Richtlinien, was auszusortieren ist und was nicht, und diese ändern sich auch immer mal wieder. Man müsste zukünftig mal beobachten, wie sich a) die Grenzen verschieben und in welche Richtung, und b) ob das Auseinanderklaffen zwischen der zunehmenden gesellschaftlichen "Integration" (tolerierter) Behinderter und Kranker und ihrer gleichzeitigen Verhinderung durch Pränataldiagnostik weiter zunimmt oder irgendwann wieder abnimmt. Ein Beispiel: Routinemäßig werden Föten mit Down-Syndrom "herausgescreent", die Geburtenrate von Säuglingen mit Down-Syndrom hat in den letzten Jahren rapide abgenommen, gleichzeitig scheinen Menschen mit Down Syndrom kulturell zunehmend aktzeptiert zu werden, z.B. als geachtete SchauspielerInnen wie Juliana Götze, die vor einigen Wochen eine vielgelobte Hauptrolle in der ARD Krimireihe "Polizeiruf 110" spielte. Ob solche Normalisierungsschübe tatsächlich ein Umdenken auf der individuellen, identifikatorischen Ebene bewirken können, ist meines Erachtens noch überhaupt nicht raus. Wir würden uns freuen, mit dir beim Biologismus-Seminar weiter zu diskutieren, oder auch dich bei einem unserer anderen Seminare zu sehen! Beste Grüße, die Textautorin.
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