Im Juni 2008 erreichte uns folgender Leserbrief. Unsere Antwort folgt darunter
F. aus Z. schreibt:
Hallo Junge Linke, Wir sind in unserem linken Zusammenhang gerade einige grundsätzliche Punkte des Marxismus am durchdiskutieren und da sind wir nun beim bürgerlichen Staat angelangt.
Ein kleines Problem haben wir nur bei der Frage der Demokratie insbesondere bei den Wahlen oder der „Mitbestimmung“ der Bürger am Staatsgeschehen. Wir finden eure Analyse ist was Deutschland und andere indirekte Demokratien genannte Staaten absolut korrekt. Der Haken ist jetzt aber, wir schreiben euch aus der Schweiz und da läuft das etwas anders. Bei uns hat der Bürger nämlich deutlich mehr Mitbestimmungsrechte, als in den meisten anderen Staaten. Ich weiss nicht genau, inwiefern ihr mit dem politischen System der Schweiz vertraut seid aber wahrscheinlich reicht ein Blick auf Wikipedia, um da durchzublicken. Insbesondere mittels der Volksinitiativen und der Referenden kann die Schweizer Bevölkerung Gesetzes- und Verfassungsänderungen bewirken, für die die Zustimmung des Parlamentes nicht nötig ist. Ausserdem werden die wichtigsten politischen Fragen in der Schweiz so gut wie immer auch vom Volk mittels Abstimmungen mitbestimmt (Altersvorsorge, Atomkraftwerke etc. etc.)
Wir wären sehr daran interessiert, eure Meinung darüber zu hören, warum so etwas in einem kapitalistischen Staat möglich ist und der Kapitalismus auch bei uns trotzdem wunderbar läuft. Haben die Schweizer Bürger möglicherweise das Prinzip des kapitalistischen Sachzwanges so sehr verinnerlich, dass auch sie mittlerweile als eine Art ideeler Gesamtkapitalist funktionieren? Ich (bzw. wir) fänden es spannend eure Meinung dazu zu hören.
Grüße, F. aus Z.
Unsere Antwort:
Liebe GenossInnen,
unsere Antwort anbei. Da wir faul sind und den Text gleich auch noch für ne Erklärung der deutschen Zustände benutzen wollen, haben wir nicht sofort auf Eure Frage geantwortet, sondern Sachen einführend vorgeschaltet, die euch vielleicht schon klar sind. Wir hoffen, euch damit Eure Frage beantwortet zu haben und wären ins Besondere, ob unsere Antwort schweiz-mäßig taugt, an einer Rückmeldung interessiert. Per e-mail, aber natürlich noch lieber direkt und persönlich auf nem Seminar oder Sommercamp. :-)
Viele Grüße, Tom, jungelinke
Warum und wann lässt der bürgerliche Staat seine Bürger direkt bestimmen?
I. Die indirekte Demokratie... Die normale bürgerliche Demokratie läuft so: Leute wählen Abgeordnete; und damit ist die Bürgerbeteiligung auch schon zu Ende. Zwar sollen sich alle engagieren, gerne auch in Parteien, eine Meinung haben und äußern dürfen – aber an mehr ist nicht gedacht. Sondern Unterordnung ist gefragt unter die Entscheidungen der gewählten Machthaber.
Demokratie ist dann die Auswahl zwischen verschiedenen Eliten, ausgetragen als Konkurrenz von Parteien, die behaupten, dass Allgemeinwohl als partikulares Interesse zu haben - also dass sie als einzige das Allgemeinwohl in der richtigen Fassung in ihrem Programm haben. Demokratie ist damit eine Ordnung, die das allgemeine Interesse am Laufen der kapitalistischen Konkurrenz gegen die einzelnen Konkurrenten besonders gut durchsetzen kann, weil sie eben von den ganzen Konkurrenzteilnehmern dazu ermächtigt worden ist. Ob Arbeiter oder Kapitalist, der Staat fordert alle Bürger alle vier, fünf Jahre zur Ermächtigung auf, das Allgemeinwohl gegen die Privatinteressen durchsetzen zu dürfen. Die Konkurrenz um Wählerstimmen soll sicher stellen, dass alle Bürger sich auch angemessen repräsentiert fühlen und die Staatsagenten zwingen, auch tatsächlich nur das Staatswohl im Auge zu haben.
II. ... und ihre Probleme
Bei der Aufgabe, die der bürgerliche Staat hat, ist Unmut vorprogrammiert. Die Bürger sind notorisch sauer, weil der Staat tut, wozu sie ihn ermächtigen – nämlich das Interesse seiner Bürger am Funktionieren der Gesellschaft durchzusetzen gegen die Bürger. Deren borniertes Interesse am Erfolg bei der Konkurrenz um den gesellschaftlichen Reichtum ist ihnen zwar durch staatliche Setzung aufgeherrscht (Privateigentum usw.) gerät aber häufig in Konflikt mit dem staatlichen Interesse am Erhalt der Gesellschaft. (Genaueres hierunter: http://www.junge-linke.de/staat_und_nation/der_brgerliche_staat_eine_einf.html) Wird der Unmut auf die Politik bei keiner Oppositionspartei heimisch, setzt sich gar die sachlich richtige, aber fast nie kritisch gemeinte Einsicht durch, die Parteien unterschieden sich doch gar nicht ("die da oben machen ja doch was sie wollen" usw.) hat die Demokratie zwar nicht sofort ein Problem, wünschenswert ist dieser Zustand für eine stabile Herrschaft auf Dauer aber nicht. Denn dann klappt das Einschwören auf den Staatszweck qua Stimmabgabe nicht mehr und die behauptete Identität von Bürgerwillen und Staatshandeln kommt in Gefahr.
Das heißt dann auf bundesdeutsch "Parteienverdrossenheit" oder gar "Politikverdrossenheit".
III. Direkte Demokratie als Ergänzung und Mittel der Parteienkonkurrenz
In vielen Staaten und in immer mehr Bundesländern der deutschesten aller Republiken erhält das Volk die Möglichkeit seine Meinung formalisiert zu sagen, die berühmten "Volksbegehren". Dieses Belebungsmittel für die parlamentarische Demokratie ist der Sache nach zwar Kinderkacke – im Regelfall muss sich die Regierung nicht dran halten, es darf keine Auswirkungen auf den Staatshaushalt haben, und manchmal zwingt man dem Parlament mit dem ganzen Aufwand auch nur eine zusätzliche Debatte auf. Aber es soll ernsthaft symbolisieren: Dem Staat ist die Meinung seiner Bürger nicht egal. Die Ernte diese symbolischen Bemühungen sollen die Parteien einfahren.
Klar ist, dass Volksbegehren, aber auch Volksabstimmungen immer auch als Mittel der Parteienkonkurrenz genutzt werden: Indem sich eine Regierung ein "Ja" gegen eine lautstarke Opposition holt, in dem die Opposition die Regierung in Bedrängnis bringt oder indem man irgendeine Frage gleichzeitig mit der Wahl zur Wahl stellt, und so die "richtigen" Leute an die Wahlurne motiviert. (In den USA gerne, in dem man die Homo-Ehe verbieten will, das treibt das fromme Christenvolk dann doch an die Wahlurnen)
Nun sind die Leute zwar bescheuert, aber doch nicht doof: Und wenn der Regierende Bürgermeister von Berlin erklärt, dass ihm piepegal ist, wieviel Leute dafür stimmen, dass ein überalterter Stadtflughafen noch zwei Jahre länger aufbleibt, dann kapieren auch genug Hauptstadtbewohner, dass der Gang zum Tempelhof-Volksbegehren sich nicht lohnt. Nur: DAS ist nun eigentlich nicht der Sinn der Sache. Und bestätigt die Bürger in ihrer schlechten Meinung. Und führt dann ab und zu zum neidischen Blick über die Landesgrenzen, in die Schweiz, die USA, Irland usw. – wo die Bürger über alle wichtigen Fragen entscheiden können.
IV. Direkte Demokratie als Korrektiv: Verpflichtung von Staat und Volk auf das Allgemeinwohl
Über alle? Das entscheidet immer noch der Staat. In vielen Staaten, z.B. der Europäischen Union hat sich das Staatspersonal 2006 - 2008 entschieden, seine Bürger über die EU-Reform nicht mehr abstimmen zu lassen, nachdem die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden so grandios in die Hose gegangen sind. Die Profis der Politik unterstellen den Amateurpolitikern, dass ihnen der Blick fürs Große und Ganze fehlt, dass sie nicht die Sache der Nation als einzigen Gesichtspunkt haben, dass sie zu desinteressiert und desinformiert sind, um sie wirklich bestimmen zu lassen.
Das kann man aber – und das tun Politiker auch – genau anders herum sehen: Nämlich dass die regelmäßige Befragung der Bürger bei denen Verantwortungsbewusstsein und Interesse stiftet und sie zu guten Nationalisten erzieht. Denn die Gefahr ist allen Staatsagenten schon klar: Dass wenn die Politik sich zu weit von der Volksmeinung entfernt, der Unwille zu groß ist, dem Staat die Legitimität bei seinem harten Job flöten geht und die Gesellschaft vielleicht nicht gleich revolutionär oder faschistisch umgestaltet wird, wohl aber zunehmend außer Kontrolle gerät, weil der Staat nicht mehr respektiert wird. Darum gibt es Länder, die im Interesse der Stabilität der Herrschaft, die Handlungsmöglichkeiten des Staates einschränken, in dem sie direkt Volkes Willen erfragen. Das ist für die gewählten Volksvertreter oftmals ärgerlich: Da führt Dänemark den Euro nicht ein, die Schweiz tritt nicht dem EWR bei und die ganze schöne EU-Verfassung muss neu verhandelt werden – aber die Bürger sagen noch in ihrem "Nein" zu konkreten Projekten ihrer Herrschaft "Ja" zur Herrschaft überhaupt, "Ja" zu ihrer Unterordnung, "Ja" zu all den Gemeinheiten des kapitalistischen Alltags.
V. Wenn's fürs Schweizervolk zum Rütli-Schwur kommt
In der Schweiz, so würden wir sagen, hat die ganze Sache aber noch eine zusätzliche Korrektivfunktion, was vielleicht auch das ungewöhnlich hohe Ausmaß des direkten Volksbestimmens erklärt. In der Schweiz war nämlich bis vor Kurzem die Parteienkonkurrenz um Wählerstimmen zur Ermittlung der Staatsagenten weitgehend stillgelegt. Die Allparteienregierung ("Konkordanzmodell") sorgte dafür, dass vom eigentlichen Wahlakt nicht allzu viel abhing, weil bis auf ein paar Verschiebungen, sowieso alle relevanten Parteien in die Regierung und damit die Regierungsdisziplin eingebunden waren. Die Stabilität dieser Form des Regierens hat aber eben gerade den Nachteil, dass der Volkswillen von der Regierung nicht wichtig genommen werden muss – und entsprechende Entfremdungserscheinungen zwischen Volk und Staat auftauchen könnten. Historisch mag die ganze Volksabstimmerei in der Schweiz wegen der konfessionellen und sprachlichen Unterschiede entstanden sein, sozusagen als automatisch wirkende Rücksichtsverpflichtung auf alle Volksteile (ähnliche Regelungen gibt es auch im Wahlrecht der BRD mit dem ganzen Erststimmen-Zirkus, den drei Direktmandaten usw.) und/oder Einschwören des ganzen Schweizervolks auf den Staat gegen aller Sonderbündlerei – heute wirkt es als permanentes Korrektiv, dass dafür sorgt, dass der Staat seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist nachkommen kann, ohne allzu großen Legitimationsverlust als ideeller Gesamtschweizer zu erleiden oder gar sein Volk am Schweizer-Sein zweifeln zu lassen. Und im Regelfall zeigen die Bürger der helvetischen Konföderation, dass der Staat keinen Fehler macht, wenn er fragt, wie er ihren Interessen denn nun genau Gewalt antun soll.
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