Disclaimer: Der Text wurde von der Frankfurter Gruppe – Antinationale Linke in Frankfurt (ALiF) – verfasst. Auf diesen Text konnten sich GKN insgesamt nicht einigen.
Der Stellvertreterkrieg zwischen NATO und Russland in der Ukraine geht in sein drittes Jahr. Die zu klärende Machtfrage, ob Russland eine selbstständige Ordnungs- und Weltmacht, mit anerkannten „Einflusssphären“ und Interessen, oder nur ein rohstoffreiches Land unter vielen ist, wird weiter ausgeschossen und -gebombt.1
Für den Westen, also die NATO-Länder, läuft es dabei zur Zeit alles andere als rund. Das ist erstaunlich und erklärenswert, immerhin sind hier die potentesten kapitalistischen Mächte versammelt, die zusammen bislang die Welt geordnet haben, und deren Reichtum und Waffengewalt kombiniert nach wie vor keiner anderen Macht oder Machtgruppierung eingeholt werden kann.
So sieht es aus: Weder haben die wirtschaftlichen Sanktionen Russland bislang in die Knie gezwungen oder wenigstens einen Putsch unzufriedener Oligarchen oder sonstiger Elitenangehöriger herbeigeführt, noch zeichnet sich eine nennenswerte Schwächung der russischen Streitkräfte ab (also nicht genügend Tote). Die ukrainischen Streitkräfte haben nicht genügend Munition, und auch nicht die Waffen, die sie nach eigener Auskunft bräuchten, um die russischen Truppen effektiv zu bekämpfen, und leiden an personeller Auszehrung (also zu viele Tote). In den westlichen Ländern ist der Krieg nicht übermäßig beliebt, seine Folgen (Inflation, Mehrausgaben für Militär, ukrainische Lebensmittel im EU-Binnenmarkt) schon mal gar nicht. Politische Kräfte, die den westlichen Kriegskurs in Frage stellen oder sich ihm gegenüber distanziert zeigen, werden laut Umfragen stärker. In den USA wird die Militärhilfe für die Ukraine von der republikanischen Partei sabotiert und z.T. in Frage gestellt, ein Wahlsieg Trumps dürfte die gesamte westliche Kriegskalkulation auf den Kopf stellen. Aber auch innerhalb der EU gibt es deutliche Differenzen, wie wichtig es ist, diesen Krieg nicht zu verlieren und wie stark das direkte westliche Engagement sein darf und soll.
Woran liegt das alles?
Problem 1: Ein Krieg, der nicht total werden soll
Russland ist eine Atommacht. Anders als andere unbotmäßige Staaten kann und will der Westen darum nicht mit Russland in einen direkten Krieg eintreten. Denn die eskalative ‚Logik‘ des Krieges ist den westlichen und östlichen KriegherrInnen wohlvertraut: Wenn es um die Existenz des Staates und die Behauptung seiner Souveränität geht, treten alle anderen Berechnungen zurück. Sie wissen das voneinander und spielen damit als Drohkulisse (z.B. russische Gedankenspiele eines ‚begrenzten‘ Atomschlags). An einem Einsatz von Atomwaffen haben aber beide Seiten vorderhand kein Interesse, nicht aus Humanismus, sondern weil ein nuklearer ‚Schlagabtausch‘ am Ende den Zweck aller imperialistischen Betätigung durchstreicht; die Machtausweitung zur Sicherung und Ausweitung der eigenen nationalen Reichtumsproduktion2 bleibt bei den dann entstehenden Verwüstungen auf der Strecke. Eine Garantie, dass es bei einer konventionellen Auseinandersetzung bleibt, ist das aber nicht.
Darum ist das offiziell ausgegebene Kriegsziel des Westens: Russland darf nicht gewinnen bzw. die Ukraine darf nicht verlieren. Es heißt mit gutem Grund nicht: Russland soll verlieren, die Ukraine soll gewinnen. Mit dieser schönen Formulierung ist aber auch eingestanden, dass Russland auch nach einem – wie auch immer gearteten, für den Westen akzeptablen – Frieden eine atomar bewaffnete Großmacht sein wird. Diese Formulierung des Kriegsziels enthält das Angebot eines gesichtswahrenden Narrativs an die russische Führung für den Fall, dass Russland zurückkehren will zum imperialistischen Normalgeschäft: Nämlich die Klärung von Machtfragen zur Benutzung der Souveränität anderer Staaten via Diplomatie, Weltmarkt und Stellvertreterkriegen in Afrika und Asien, Industriespionage statt Cyberterrorismus.
Dass der Westen eben nicht all seine Machtmittel einsetzen will, zeigt sich in den zähen Diskussionen, welche Waffensysteme mit welcher Reichweite und welchem westlichen Ausbildungs- und Bedienungspersonal an die Ukraine geliefert werden können, ohne direkt Kriegspartei zu werden. Auch unterhalb eines Atomwaffeneinsatzes könnte Russland diesen Krieg nämlich noch härter führen (z.B. Belorussland in den Krieg ziehen, damit eine richtige Nordfront aufmachen usw.). Das würde dann noch teurer für den Westen und noch tödlicher für viele ukrainische Soldat*innen, und könnte den Westen am Ende zur direkten Unterstützung zwingen, sofern er sein Kriegsziel erreichen will. Außer der ukrainischen Führung hat an direktem westlichen Engagement zur Zeit keiner Interesse, und auch die wird eher kalkulieren, welche Ausweitungen westlicher Militärlieferungen Russland sich bieten lässt, ohne den Krieg zu eskalieren, als dass sie wirklich auf eine Eskalation des Krieges hinarbeitet (denn auch die Ukraine möchte nicht, dass Russland Atombomben auf sie schmeißt).
Wie dieser Krieg zu Ende gehen wird, ist unklar, sei es durch „Einfrieren des Konflikts“, sei es mit Verhandlung und Vertrag, Wie aber der ‚Frieden‘ höchstwahrscheinlich aussehen würde, wenn keine dramatischen Veränderungen eintreten, lässt sich schon in groben Umrissen sagen (annektierte Gebiete bleiben bei Russland, Ukraine wird EU—, aber wohl eher nicht NATO-Mitglied), aber nicht in den Details (Sanktionen, andere Krisenherde, entmilitarisierte Zonen usw.). Gleichzeitig hoffen alle Beteiligten nach wie vor, das Gegenüber werde vielleicht durch politische, soziale, wirtschaftliche, ökologische oder medizinische Ereignisse so geschwächt, dass ein für die eigene Seite noch vorteilhafterer Frieden erreicht werden kann. Und so geht das Töten und Sterben jeden Tag weiter.
Problem 2: Ein Gegner, der viel zu ähnlich tickt
Russland ist nicht die UdSSR. Zwar benutzt die russische Führung die Sowjetnostalgie plus antifaschistischer Rhetorik für ihr großrussisches Projekt. Auch sind die Machtansprüche auf eine russische Einflusssphäre zunächst einmal an den Grenzen der verblichenen Sowjetunion orientiert . Aber da enden die Gemeinsamkeiten; Putin ist nicht Breschnew. Das zeigt ein Vergleich in allen wesentlichen Fragen. Die UdSSR hatte tatsächlich auf ihrem Territorium das Privateigentum abgeschafft, um das einzurichten, was die Marxisten-Lenisten für eine Planwirtschaft hielten. Tatsächlich haben sie eine Marktsimulation eingerichtet, weil sie glaubten, die staatlichen Betriebe mit der Aussicht auf Gewinne zur bestmöglichen Produktion und Verteilung der benötigten Dinge anstacheln zu können. Der moderne russische Staat hat sich zwar seit den 2000ern die Kontrolle über seine Wirtschaft gesichert. Aber nicht um eine andere Gesellschaft zu errichten, sondern um den Abfluss von Reichtum in den Westen zu verhindern. Das sowjetische Projekt einer anderen, aber leider eben nicht sehr anderen Gesellschaft, musste sich praktisch seit seinem Beginn gegen seine Wiederabschaffung wehren; zunächst im Bürgerkrieg, in den auch westliche Staaten intervenierten, dann im Zweiten Weltkrieg, als Deutschland im Bündnis mit Ungarn und Rumänien die Sowjetunion überfiel.
Um vor solchen Angriffen in Zukunft sicher zu sein, , hat die UdSSR sich nach 1945 mit einem Kordon aus wohlgesonnenen Staaten zu umgeben versucht. Und da das angesichts sehr grundsätzlichen westlichen Feindschaftserklärung nicht anders ging, dann 1946-1952 den dort ansässigen ‚kommunistischen‘ Parteien die komplette Machtübernahme und die Einführung eines Staatssozialismus erlaubt bzw. aufgetragen. Der moderne russische Staat hat da einen anderen Gegensatz zum Westen: Nicht, weil er eine andere Welt proklamiert, sondern weil er in eben dieser kapitalistischen Welt eine Weltmachtrolle spielen will, erfreut er sich der Gegnerschaft der NATO-Staaten. Die wollen Russland auch nicht abschaffen, zerstören oder erobern, sondern es zum Rohstofflieferanten degradieren.
Die Gründung des Ostblocks beruhte auf rein defensiven Motiven. Sie zielte nie darauf ab, die Bevölkerung und die anderen Reichtümer der Ostblockstaaten für die eigene Reichtumsproduktion zu nutzen. Im Gegenteil: Die UdSSR hat die anderen Ostblockstaaten mehr oder minder stark subventioniert, z.B. durch Lieferung von Erdöl zu zu Preisen unterhalb des Weltmarktpreises. So war denn auch der Lebensstandard in fast allen anderen Ostblockstaaten höher als in der UdSSR. Da setzt das moderne Russland andere Maßstäbe: Es will seine Nachbarstaaten und ihre Reichtümer schon gerne benutzen. Ob es das kann, ist eine ganz andere Frage.
Im Ziel – die Welt und ihre Reichtümer nutzbar zu machen für die eigene Ökonomie, dafür und damit die eigene Nation als weltweit zuständige, anerkannte und respektierte Ordnungsmacht zu etablieren – gleicht Russland also seinem westlichen Gegenüber. Aber: Russland hat weniger attraktive Angebote an die Nationen zu machen, es muss darum vor allem mit staatlicher Gewalt die ökonomischen Beziehungen zu anderen Staaten regeln und sie in dauerhafte politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten bringen. Denn Russland kann sich nicht darauf verlassen, dass die eigene Ökonomie wegen der überlegenen Produktivität in der Konkurrenz gewinnt, wenn sie politisch genügend unterstützt wird. Das unterscheidet Russland vom Westen. Noch in den üblichen Anklagen (die schon weitgehend stimmen werden) über Korruption, Luxusleben und Mafia-Methoden innerhalb der herrschenden Kreise zeigt sich , dass es in Russland eben heute auch um echtes,weltweit gültiges Geld als Zweck der Wirtschaft geht.
Die UdSSR war sehr berechenbar, spätestens seit sie die „friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“ als einen ganz wichtigen Teil der „Epoche des Übergangs vom Imperialismus zum Sozialismus“ verkündet hatte und alle Welt von der garantierten Harmlosigkeit ihrer Politik durch Vertragstreue und „Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ überzeugen wollte.
Das heutige Russland hat hingegen den gleichen Zweck wie die westlichen Staaten und darum entgegengesetzte Ziele – und die sind der Sache nach maßlos, wenn auch durch die jeweiligen Mittel beschränkt. Das macht „Putin“ so „unberechenbar“: Er, also die russische Führung, stellt den Weltordnungsanspruch des westlichen Imperialismus grundsätzlich und global in Frage und testet die Fähigkeiten von USA, EU und ihren Verbündeten ihre „regelbasierte Weltordnung“ durchzusetzen; nicht nur, aber vor allem in der Ukraine. Und damit ist der russische Staat nicht allein.
Problem 3: Eine Welt voller Nicht-Verbündeter des Westens
Der westliche Imperialismus hat sich die Welt als Betätigungsfeld gesichert. Ungehindert vom Ostblock hat er die Regeln seines Wirtschaftens weltweit durchgesetzt und die Bodenschätze, Arbeitskräfte, Märkte aller Länder als Mittel kapitalistischer Reichtumsproduktion und nationalen Wirtschaftswachstums definiert. Trotz der US-Invasionen in Sudan, Irak und Afghanistan und des Kosovo-Kriegs war dabei die Vernichtung anderer Souveräne nie das Mittel erster Wahl, sondern ihre Einbindung und Benutzung. Also das Angebot, sich für die eigenen nationalen Ziele am kapitalistischen Weltmarkt zu beteiligen; das nationale Wirtschaftsleben der Konkurrenz des Weltmarkts auszusetzen, um weltweit anerkanntes Geld zu verdienen; damit zu versuchen, die global herrschenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse für sich auszunutzen und zu verändern. Bis auf wenige Ausnahmen (Kuba, Nordkorea, Iran) ist dieses ‚Angebot‘ auch an Staaten gegangen, die bislang andere Erfolgswege versucht hatten (z.B. Ex-Verbündete der UdSSR wie z.B. Indien und Vietnam, aber eben auch China). Andere Staaten wurden durch den Internationalen Währungsfond (IWF) und die weltweite Währungskonkurrenz belehrt, sich den Regeln der globalen Konkurrenz zu unterwerfen.
Dass es dabei auch zum Aufstieg nicht-westlicher Staaten kommt, war nun sicher nicht das Ziel dieser Politik, aber eine mögliche, akzeptierte und für die eigenen Ziele ausgenutzte, Konsequenz.
Diese nicht-westlichen Staaten haben in der heiligen Dreifaltigkeit freie Marktwirtschaft (= Zugriffsmöglichkeit des westlichen Kapitals auf Märkte, Rohstoffe, Arbeitskräfte), funktionierender Rechtsstaat (= Schutz des westlichen Kapitals vor Benachteiligung und Enteignung) und parlamentarischer Demokratie (= als Ideal, wie Herrschaft am besten geht, mit der schönen Möglichkeit, oppositionelle Gruppen mit Machtoption zu unterstützen, die eine gefälligere Politik machen) das erkannt, was es der Sache nach eben ist: ein Anspruch, wie „good governance“ geht, der die westliche Dominanz durch permanente Einmischung in „innere Angelegenheiten“ sicherstellen soll. Die – von diesen Staaten selbst her- und sichergestellte – Armut ihrer Bevölkerung, wo vorhanden, ist zwar ein gerne genannter Anklagepunkt dieser Stimmen des „globalen Südens“. Gemeint ist aber damit nur, dass die relative Armut der Bevölkerung sich nicht genügend produktiv für die eigene Nation ausnutzen lässt. Dass der Westen die Einhaltung seiner „Werte“ sehr daran relativiert, wie politisch und wirtschaftlich nützlich die südlichen Menschenschinder*innen jeweils so sind, bestärkt diese darin, in den Anklagen über Menschenrechtsverletzungen usw. eine rein instrumentelle Infragestellung der eigenen Souveränität zu sehen. Dem Westen das heimzuzahlen und dabei noch gute Geschäfte zu machen, lässt lauter Staaten, die sonst „nationale Souveränität“ zum höchsten Wert erklären, den russischen Versuch, die Ukraine zu annektieren, ziemlich lahm und schaumgebremst kritisieren.
Dass China, Indien, Saudi-Arabien, Südafrika und Brasilien zusammen mit anderen Staaten des „globalen Südens“ dem Westen nicht nur nicht in seiner Politik folgen, sondern im Gegenteil z.T. Russland offensiv unterstützen (China), z.T. gute Geschäfte machen (Indien, Brasilien), z.T. die entstandenen Probleme noch ausnutzen (Saudi-Arabien) mindert die Schlagkraft westlicher Sanktionen und unterminiert den westlichen Weltordnungsanspruch noch mal anders als nur ein Krieg irgendwo im Osten Europas.
Problem 4: Eine Kooperation von Konkurrenten
Die USA, Kanada, Großbritannien, Japan, die EU-Staaten, Australien und Neuseeland haben ein großes Problem dabei, die Ukraine so auszustatten, dass sie nicht verliert: sich selbst. Nur weil sie gemeinsam diese Weltordnung garantieren, und gemeinsam Russland zeigen wollen, dass sich „Regelverletzungen“ nicht auszahlen, hört ihre Konkurrenz untereinander nicht auf. Wer wie viel bezahlen muss, wo die Gelder landen, wer bestimmt, wie weit der Westen in der Unterstützung der Ukraine und in der Konfrontation mit Russland gehen darf – das alles ist Gegenstand der Konkurrenz untereinander und auch innerhalb der EU. In ihrem Mitmachen bei der Front gegen Russland bringen sie eben auch weiterhin Reichweite und Ausmaß ihrer Ansprüche, als Weltordnungsmacht zu gelten, zum Ausdruck – und das ist keineswegs reibungsfrei, selbst wenn bestimmte Hierarchien mehr oder weniger gesetzt sind.
Da der Krieg aber eben auch eine ökonomische Seite hat – sowohl in der Versorgung mit Militärgütern, als auch im Umgang mit seinen Folgen – versuchen alle beteiligten Nationen für ihre Rüstungsindustrie möglichst gewinnbringende Aufträge zu ergattern, und die Störungen und Belastungen für ihre Wirtschaft möglichst gering zu halten. Auf eine Kriegswirtschaft, wie in Russland, wollen die westlichen Staaten alle nicht umstellen, sondern fordern lieber ihre lieben Verbündeten zu verstärkten Anstrengungen auf. Innerhalb der EU nimmt das dann z.B. die Form der Auseinandersetzung über Ausmaß und Reichweite der Sanktionen, die Zulassung ukrainischer Waren zum Binnenmarkt, die Verwendung von EU-Geldern für Kriegsgerät und Wiederaufbau an. Auch das be- und verhindert die Ausstattung der Ukraine mit möglichst viel Tötungsmaterial in möglichst kurzer Zeit. Zusätzlich bedroht es den Erhalt der Ukraine als Land mit eigenen Einnahmen, wenn ihre Ausfuhren nicht mehr zollfrei sind oder sogar gar nicht in den EU-Binnenmarkt dürfen. Das aber macht die Kriegsführung und einen eventuellen späteren Wiederaufbau der Ukraine für den Westen noch teurer – weil die Ukraine eben weniger Geld hat.
Problem 5: Hauseigene Nationalismen mit lauter alternativen Berechnungen
Die Maßnahmen gegen Russland und für die Ukraine treffen die Staaten in unterschiedlicher Weise. Wer bislang trotz aller geopolitischer Gegensätze an Russland als wichtigstem Energielieferanten festgehalten hatte, hat andere Probleme als Länder, in denen ukrainischer Weizen den eigenen Bauern die Preise verdirbt. Zusätzlich hat – verstärkt durch die freundliche Mithilfe der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC-Staaten) – die Verteuerung fossiler Energien eine Reihe von Auswirkungen auf das Lebensniveau der Bevölkerung in den westlichen Staaten. Eine solide Grundlage für eine Reihe von Unzufriedenheiten mit dem heutigen Kurs, vorgetragen als Zweifel am nationalen Nutzen.
Die Frage, „was bringt das unserer Nation?“, ist den politisch Verantwortlichen wahrlich nicht fremd, sondern ihr Leitmotiv bei der Diskussion aller Fragen. Wenn nun größere politische Bewegungen, wie z.B. AfD oder Rassemblement National, mit dieser Frage bewaffnet die Konfrontation mit Russland und die Parteinahme für die Ukraine in Frage stellen, haben die regierenden Nationalist*innen ein Problem.
Die Aufrechterhaltung einer passenden Kriegsmoral ist auf die Dauer immer schwierig – also wenn die Opfer und Einschränkungen deutlicher werden, die eine gewaltmäßige Klärung zwischenstaatlicher Machtverhältnisse für das Menschenmaterial des Staates immer bedeuten. Im Regelfall kann sich der bürgerliche Staat aber auf die Identifikation mit der Nation verlassen, also damit, dass sich noch der unwichtigste Knallkopf im großen kriegsführenden „Wir“ wiedererkennt und darum dem Vaterland die Treue hält – in schlechten wie in richtig miesen Tagen. (Was nicht heißt, dass die Politik nicht auch an die individuelle Moral appelliert und die Sparsamkeit als ökologisch-soziale Großtat verkauft.)
Nun hat sich der westliche Stellvertreterkrieg von Anfang als die Parteinahme für eine andere Nation dargestellt – „Slava ukraina!“. Zudem hat er den Bezug auf diesen Krieg eher in den wolkigen Bereichen von höchsten Werten und wahrer Moral hergestellt, als „Angriff auf unsere Lebensweise“, „Verteidigung der Freiheit“, „Einsatz für eine regelbasierte internationale Ordnung“. Neben den Pazifist*innen aller Couleur, die den herrschenden Frieden zu Unrecht für das glatte Gegenteil alljener Kriege halten, die dieser Frieden mit schöner Regelmäßigkeit hervorbringt, gab es schon immer Leute, die ihre Nation nicht an der Seite der USA, oder nicht im Konflikt mit Russland sehen wollten.
Und es ist ja so: Nirgendwo ist in Stein gemeißelt, dass die Interessen der jeweiligen Nation am Besten im westlichen Bündnis aufgehoben sind. Insbesondere dann nicht, wenn die wichtigste Hauptmacht, die USA, mittlerweile selber dieses Bündnis in Frage gestellt hat – und es vermutlich in den kommenden Jahrzehnten von der Republikanischen Partei verstärkt zur Disposition gestellt wird. So unattraktiv wie noch vor einem Jahrzehnt wäre ein Bündnis z.B. von Deutschland mit Russland und China eben nicht mehr. Insoweit liegt im wechselseitigen westlichen Einschwören auf die gemeinsame Frontlinie eben auch etwas Beschwörendes – der Westen dürfe sich nicht „auseinanderdividieren“ lassen, weil das eben eine reale globalpolitische Alternative darstellt.
Dazu kommt nun eine wachsende Anzahl von Nationalist*innen in allen möglichen Ländern, die angesichts ihrer privaten Belastung in Form von Heizkosten und Benzinpreisen, nicht einsehen wollen, was ihre Nation von dieser internationalen Frontbildung gegen Russland eigentlich hat. Bei gleichzeitiger Ermüdung der blau-gelben Solidarität und mit den für den Westen unangenehmen neuen Entwicklungen im Nahostkonflikt fällt die Aufrechterhaltung jener unbedingten Parteinahme für die Ukraine als westliche Kriegsmoral zunehmend schwer. Die ist aber vonnöten angesichts dessen, was der Westen leisten muss, um einen Krieg am Laufen zu halten, den er nicht wirklich führen will, eher nicht gewinnen kann, aber eben auf keinen Fall verlieren darf.
Problem 6: Völker, die ihre Herrschaft kritisch sehen und wählen dürfen
Rechtsradikale Politikangebote hat es in demokratischen Ländern fast immer gegeben und sie waren in den letzten 30 Jahren auch immer wieder mal erfolgreich. In der nunmehr zugespitzten Situation werden sie als Angebot alternativer Führung und alternativer Bündnisoption für den Westen darum gefährlich, weil sie sich mit weiteren Unzufriedenheiten mit dem liberalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts so gut verbinden:
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Der bürgerliche Staat bemüht sich verstärkt um einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen möglichen Konkurrenzen, z.B. Arbeits- und Wohnungsmärkte. Dazu gibt es einen kulturellen Überbau wie die Bekämpfung von allerlei Ressentiments und sprachlich-kulturelle Rücksichtnahme. Solche Versuche des Staates, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. nicht zu Konkurrenznachteilen zu machen, sehen rechte Leute als einen Anschlag auf das „Leistungsprinzip“ und eine Privilegierung fragwürdiger Gruppen in Form der angeblichen Diskriminierung der angeblich „normalen Leute“. Dass es dergleichen in Russland nicht gibt, und Feminismus und LGBTQI* dort als böse Kinderverführer*innen gebrandmarkt werden, gefällt solchen Leuten.
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ergänzend dazu fällt solchen Leuten zur sozialstaatlichen Betreuung der Armut vor allem das angeblich gute Leben von faulenzenden Subkulturen auf Kosten der hart arbeitenden „Normalbevölkerung“ ein, das so nicht weitergehen kann. Das hat nun wenig mit dem russischen Staatsprogramm zu tun, passt aber ganz gut zu den Opfer-für-das-Vaterland-Parolen aus dem Kreml und der Darstellung des Westens als dekadent und verweichlicht.
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wenig einsichtig finden auch einige Leute, dass nun ausgerechnet ihr Land, ohne eigenen Nutzen, dafür sorgen soll, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre nicht zunimmt, und dafür Wirtschaft und Bürger*innen allerhand Vorschriften gemacht werden sollen, insbesondere wo es schön billiges russisches Gas gäbe, wenn man nicht gerade mit Russland einen Konflikt hätte.
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und schließlich befeuert der Zuzug „ortsfremder“ Leute, sei es zur Stillung des nationalen Arbeitskräftebedarfs, sei es aus anderen politischen Kalkulationen, die schon bestehenden Unzufriedenheiten zu einem grundlegenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der momentanen Herrschaft, weil sie den damit erbrachten Dienst an der „autochthonen“ Bevölkerung nicht erkennen kann. Hier sind der harte Anti-Migrationskurs illiberaler ‚Demokraten‘ a la Orban und der betonte russische Patriotismus schöne Anknüpfungspunkte.
Solche Kritik und umfassende Krisendiagnose fordert mindestens zu einer grundlegenden sittlichen Erneuerung und Renovierung der Nationalmoral im konservativen Geiste gegen „links-grüne Weltverbesserungsprojekte“ auf. Sie kann aber – und tut das auch – zur Aufkündigung des Konsenses führen, dass eine durch Wahlen in regelmäßigen Abständen entschiedene Parteienkonkurrenz die beste Form der Ermittlung und Durchsetzung des Volkswillens ist. Und damit ist – bekanntlich dürfen in einer Demokratie die Leute wählen und dabei eben auch alternative Nationalist*innen an die Regierung bringen – die Axt an das Staatsprogramm selber gelegt. Denn in der Konsequenz leuchtet solchen Nationalist*innen Putins Programm der sittlich-nationalen Erneuerung in Form einer „gelenkten Demokratie“ als Vorbild total ein. Warum dann noch Krieg gegen ihn führen? Noch sind solche Parteien nicht an der Macht, aber das muss nicht so bleiben.
Und die missliche Abwägung zwischen nationalpolitischen Notwendigkeiten und den eigenen (Wieder-)Wahlchancen bremst schon vorher westliche Politiker*innen darin, entschieden Werbung für das westliche Krieg-am-Laufen-Halten-Projekt zu machen, und kann im Endeffekt zu Festlegungen führen, die die Ukraine als Kriegspartei empfindlich schwächen. Dass innenpolitische Erwägungen durchaus zu globalen Niederlagen führen können, hat das Afghanistan-Debakel 2021 hinreichend gezeigt. Dergleichen kann sich der Westen in der Ukraine eigentlich nicht leisten.
1Zum Krieg in der Ukraine gibts hier weitere Texte: https://gegen-kapital-und-nation.org/page/krieg-in-der-ukraine-analysen-zum-zeitgeschehen/
2Wer sich eine etwas ausführlichere Erklärung des Imperialismus wünscht, sollte in unseren Text schauen: https://gegen-kapital-und-nation.org/was-ist-imperialismus/