Im Krieg lassen die Staatsführungen ihre Untertanen gegeneinander antreten. Letztere sollen ihre Existenz in der Schlacht aufs Spiel setzen, um die Interessen des Staates gegen einen anderen Staat durchzusetzen. Die Besonderheit des aktuellen Krieges liegt darin, dass die NATO als Kriegspartei offiziell keine Kriegspartei sein will. Bislang schickt sie ihre Waffen nicht mit eigenen Soldaten ins Gefecht. Zugleich betont das Kriegsbündnis, dass die eigene „Freiheit“ von Russland angegriffen wird, setzt umfangreiche Wirtschaftssanktionen um und beliefert die Ukraine mittlerweile nicht mehr nur mit „leichten“ Waffen, um den Sieg Russlands möglichst schwer zu machen, sondern mit schweren Waffen, um den Sieg Russlands zu verhindern.
Der Grund eines Krieges liegt in den außenpolitischen Staatsinteressen, von denen die Führer*innen meinen, dass sie sich ausschließen. Davon zu unterscheiden sind die Kriegsrechtfertigungen, die eine doppelte Funktion haben: Erstens teilen sich die Staatsführer wechselseitig mit, was sie vom anderen wollen, aber in einer ideologischen Form. Diese Ansagen richten sich insbesondere an den unmittelbaren Gegner, zugleich an die übrige Staatenwelt. Zweitens richten sich die Kriegslegitimationen an die eigene Bevölkerung, die aufs Mitmachen eingeschworen werden soll. Die Verkehrtheit gängiger Kriegsrechtfertigungen und ihr Zweck sollen in dieser Text-Reihe aufgezeigt werden. Als Material dienen Aussagen der wichtigsten Protagonisten Putin, Selenski, Scholz und Biden. Dass sie alle dieselben Argumentationen bemühen, könnte einem zu Denken geben. Der erste Teil der Reihe hat folgendes Thema:
Alle Seiten in diesem Krieg behaupten, dass die anderen angefangen haben. Alle Seiten behaupten, dass sie nur den Frieden wollen, den die andere Seite verhindern will.
„Die Ukraine will Frieden. Europa will Frieden. Die Welt sagt, sie will nicht kämpfen, und Russland sagt, es will nicht angreifen. Einer von uns lügt.“ (Selenski am 19.02.2022)1
Kurz vor dem Einmarsch russischer Truppen am 24.02.2022 spießt der ukrainische Präsident die Eigentümlichkeit auf, dass mitten in der Eskalation von Kriegsdrohungen, alle nur den Frieden wollen. Freilich löst er die Sache in seinem Vortrag auf der Münchner Sicherheitskonferenz dann so auf, dass alleine Russland hier unwahres Zeug erzähle, also alle anderen echt keinen Waffengebrauch in Betracht ziehen würden. Er kritisiert die Friedensbeteuerungen seitens der russischen Regierung auch nicht wirklich, sondern sagt umstandslos, dass da eine bewusste Täuschung vorliege – Russland „lügt“. Selenski unterstellt im Vorwurf der „Lüge“, dass der Friedenswille einen Gegensatz zum Kriegswillen darstellen würde und das trifft die Sache nicht. Worum es bei den Friedensabsichten geht, die alle Staatschefs auf die eine oder andere Art verkünden, soll zunächst anhand des deutschen Bundeskanzlers besprochen werden:
„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen (…). Wir stehen ein für den Frieden in Europa. Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik. Wir werden uns immer starkmachen für die friedliche Lösung von Konflikten. Und wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist.“ (Scholz im Bundestag, 27.02.2022)
Scholz ist zwar nicht der Bundeskanzler einer militärischen, aber schon einer ökonomischen Weltmacht. Er ist der Regierungschef eines Staates mit etwa 250.000 Polizist*innen und 200.000 Soldat*innen, beteiligt an diversen Kriegsschauplätzen dieser Welt und es treibt ihn nicht die Schamesröte ins Gesicht, wenn er sagt, dass er sich nicht damit abfinden kann, dass „Gewalt als Mittel der Politik“ gebraucht wird. Selbstverständlich ist Gewalt ein ständiges Mittel der Innen-, wie der Außenpolitik. Aber schon im Innern der Gesellschaft gibt es die durchgesetzte Ansicht, dass die Gewalt des Staates eigentlich keine Gewalt ist. Sie sorge ja nur durch die Unterdrückung privater Gewalt (also etwa von Demonstrant*innen, Räuber*innen und Betrüger*innen) für gesellschaftlichen Frieden. Und selten kommt jemand auf die Idee, die Sache so herrum zu betrachten: Wenn der zivile Frieden soviel Gewalt in Form von Polizist*innen und Gefängsniswärter*innen braucht, dann muss das „friedliche“ Zusammenleben lauter Gründe für Gewalt hervorbringen. Und wenn das zivile Leben so konfliktreich ist (man denke an alle Formen der Konkurrenz), dann wird dieses gesellschaftliche Leben eben nur durch ein allem überlegenden Gewaltmonopol, den Staat, eingerichtet und aufrechterhalten. So mag es aber kaum jemand sehen. Stattdessen gilt staatliche Gewalt einfach nicht als Gewalt, sondern nur diejenigen Aktionen von Bürger*innen, die sich gegen die mit staatlicher Gewalt aufgeherrschten Gesetze versündigen. Von der Bürger*in wird Gewaltverzicht gefordert, was gleichbedeutend ist mit der Anerkennung, dass nur der Staat die Regeln in der Gesellschaft setzen darf. Kurzum: Staatliche Gewalt sei keine Gewalt, weil sie legitim ist. Private Gewalt sei pure Aggression, weil sie illegitim ist.
Mit diesem Selbstbewusstsein geht Scholz (und auch die anderen Staatsführer*innen) jetzt auf die Außenpolitik los: Eigene Gewalt sei gar keine und der andere Staat dürfe keine Gewalt anwenden. In dieser Art den Krieg darzustellen, unterstellen alle Parteien, dass es jedem vernünftigen Menschen und damit auch den Staatschef*innen alleine auf einen Zustand ankommen könne, in dem nicht geschossen wird. Damit wird unterschlagen, dass der Zustand namens Frieden auch im zwischenstaatlichen Verhältnis einen Inhalt hat, also politische und ökonomische Regeln enthält, deren Existenz und Auslegung von den Machtverhältnissen zwischen den Staaten geprägt sind. Das geht über die Benutzung der Weltmeere, Zollpolitik, Schutz von geistigen Eigentum bis hin zu militärischen Regeln – im Extremfall das Recht Atomwaffen zu besitzen oder eben nicht. Damit wird unterschlagen, dass es genau diese zwischenstaatlichen Regeln und ihre gültigen Interpretationen sind, weswegen sich Staaten aufmachen, sie militärisch abzusichern oder zu ändern – und zwar gegen andere Staaten. Der nationale ökonomische Bereicherungswille und der Wille zum politischen Machtzuwachs in der Welt, den die zwischenstaatlichen Regeln realisieren sollen, schließt sich allseitig aus. Deswegen ist der Krieg für einen Frieden, der dem nationalen Interesse nützt, immer mal wieder fällig. Im Anspruch, dass das eigene nationale Interesse zum Zuge kommen soll, indem der andere Staat sich den Regeln, die man selbst für richtig hält, unterordnen soll, schreibt man sich selbst ganz harmlose, selbstlose – oder eben legitime Ziele zu, die auf gar keinen Fall gegen den anderen Staat gerichtet seien. Ein gegnerischer Staat, der sich diesem Anspruch wiedersetzt, wird zum Gegner, dessen nationale Interessen schlicht illegitim sind.
Mit dieser heuchlerischen Masche der Staatschef*innen à la „ich will doch keinen Streit von Zaun brechen“ wird zugleich dem Gegner ein grundloses Kämpfen-Wollen untergeschoben. Der Gegner wolle einfach Gewalt anwenden, sei also ein Staat, der pur aggressiv sein will – „kaltblütig“. Indem der Staat dann gegen diese Aggressivität vorgeht („Und wir werden nicht ruhen“), stellt er sich selbst bei aller Gewalt, die er jetzt mobilisiert, in das moralisch gute Licht eines Friedensstifters.
In Richtung Putin sagt Scholz mit dieser Tour: Ich will mein Staatsinteresse an bestimmten Regeln in der Welt als Recht von dir anerkannt haben. Das Ziel des Krieges ist eben ein neuer Frieden, in dem Russland sich dazu bekennen soll, dass das deutsche Interesse an einer Ukraine als zukünftiger EU- und NATO-Staat, der den Donbas und die Krim einschließt, rechtmäßig ist. Russland soll damit zu einem Mittel des deutschen Interesses gemacht werden: Russland soll sich zukünftig freiwillig an diese neuen Regeln halten, die damit einhergehende strategische Entmachtung also aushalten.
Der Staatschef Scholz will, dass die deutschen Interessen an und in der Welt, von Russland anerkannt werden. Dann brauchte es keine unmittelbare Gewalt und dann gäbe es Frieden. Umgekehrt heißt das: Weil Russland das nicht macht, ist Scholz leider gezwungen friedensstiftende Gewalt einzusetzen, die dann eigentlich gar keine Gewalt mehr sei.
Gegenüber der eigenen Bevölkerung tritt der Staat (hier am Beispiel Scholz) mit dieser Tour, nach dem er nur Frieden wolle, aber leider mit Gewalt für Frieden sorgen müsse, weil der andere Staat pure Aggressivität in die Welt bringe, in der gewohnten Manier auf. Auch im sonstigen Alltag behauptet der Staat von sich, eine „neutrale“ Instanz zu sein, die ganz selbstlos das gesellschaftliche Leben regele. Polizeiliche Gewalt sei nur deswegen nötig, weil Kriminelle mal wieder den gesellschaftlichen Frieden stören. Wenn Scholz (oder die anderen Staatsführer) dasselbe „Argument“ jetzt auch im Außenverkehr vorstellig macht, dann holt er sich damit Zustimmung bei seinem Volk für die Kriegsopfer, die jetzt zu machen sind. Im Falle Deutschlands sind die Opfer zunächst steigende Lebenhaltungskosten und das Verbot von Geschäftsmöglichkeiten mit Russland durch die Sanktionen. Weiter ist klar, dass der Staatshaushalt zuungunsten von sozialen Leistungen Richtung militärischer Leistungen umgeschichtet wird. Die massive Staatsverschuldung heizt zudem die Inflation an. Aushalten soll die Bevölkerung auch, dass die massive Unterstützung des ukrainischen Selbstbehauptungswillen und die Erweiterung der NATO mit Schweden und Finnland, einen atomaren Krieg wahrscheinlicher macht. Wenn Putin und Selenski aktuell mit Friedensabsichten bei ihrer Bevölkerung Werbung machen, dann geht es zudem darum, die Soldat*innen zu motivieren, ihr Leben für eine friedliche Welt hinzugeben.
Eine methodische Zwischenbemerkung: Dem Statement von Scholz (und den folgenden Statements der anderen Staatsführer) kann man entnehmen, worum es formal im Krieg geht: Das eigene staatliche Interesse soll in der Staatenwelt als Recht anerkannt werden. Dafür werden Kriege geführt. Allerdings kann man dem Statement nicht direkt entnehmen, welchen Inhalt die Interessenkollisionen haben. Weder spricht Scholz so explizit an, welche Interessen Deutschland eigentlich in und an der Ukraine hat, die er durchgesetzt sehen will, noch spricht er die entgegengesetzten russischen Interessen explizit an, wenn er da nur Aggressivität sehen will. Die Beschäftigung mit den Kriegsrechtfertigungen und deren Kritik ist wichtig, aber die Analyse der Gründe des Krieges ist nochmal eine gesonderte theoretische Anstrengung. Diese Analyse ist in einem anderen Text zu finden.2 Hier soll bei den Kriegsrechtfertigungen geblieben werden, jetzt anhand von Putin:
„Die USA und NATO sind zur rücksichtslosen Einbeziehung des Territoriums der Ukraine als Schauplatz für potenzielle Kampfhandlungen übergegangen. Die regelmäßigen gemeinsamen Übungen haben eine klare anti-russländische Ausrichtung. (…) Okay, sie wollen uns nicht als Freund und Verbündeten sehen. Aber warum machen sie aus uns einen Feind? Es gibt nur eine Antwort: Es geht nicht um unser politisches Regime, es geht um nichts anderes, sie brauchen einfach kein so großes unabhängiges Land wie Russland. Das ist die Antwort auf alle Fragen. Dies ist auch die Quelle der traditionellen amerikanischen Politik gegenüber Russland. Daher die Haltung zu all unseren Vorschlägen im Bereich der Sicherheit.“ (Putin 21.02.2022)3
Putin tippt hier die eine Seite des Kriegsgrundes durchaus an: Die NATO soll sich nicht in der Ukraine einrichten, um sich damit neue Freiheiten hinsichtlich militärischer Drohungen gegenüber Russland zu verschaffen. Vor dem Krieg hat er deutlich gemacht, dass dies die Bedingung für Frieden ist und damit zugleich die rote Linie markiert, die er nicht bereit ist auszuhalten. Korrekt ist auch die Einschätzung, dass es nicht das politische System in Russland ist, das die USA bekämpfen wollen. Die USA und auch die übrigen NATO-Staaten haben keine Probleme mit autokratischen Regimes zusammenzuarbeiten, wenn es ihnen nützt (z.B. Saudi-Arabien). Wenn Putin sagt, dass die USA Russland als „großes unabhängiges Land“ nicht will, dann wäre man fast noch geneigt zu sagen, auch hier trifft er was. Die USA halten es nicht aus, dass ihre Vorstellung der Weltordnung und ihre Auslegung der völkerrechtlichen Prinzipien anhand von konkreten Fällen (Kosovo, Irak, Libyen, Syrien) nicht von Russland akzeptiert werden – und Russland dabei durchaus die Fähigkeiten hat, diesem Einspruch auch praktisch etwas entgegen zu halten (Syrien, Libyen).
Aber: Der eigene russische Wille, in der ganzen Welt mitzureden und mitzubestimmen, um der nationalen kapitalistischen Reichtumsproduktion (derzeit vor allem Energie- und Rüstungsexport) und der russischen Staatsmacht zu mehr Größe zu verhelfen, ist dann mit „großes unabhängiges Land“ doch wiederum sehr harmlos ausgedrückt. Das russische staatliche Interesse, sich als Weltmacht Geltung zu verschaffen, wird als relativ harmloses Anliegen vorstellig gemacht, das sich doch wunderbar mit anderen staatlichen Großmachtsambitionen vertragen könnte – wenn die nicht so aggressiv wären. In diesem Sinne betätigt sich auch Putin genauso wie Scholz als jemand, der dem eigenen nationalen Interessen nur friedliche Absichten bescheinigt, die leider von den anderen „ohne jeden Grund“(!?) dauernd durchkreuzt werden:
„Diejenigen, die öffentlich, straflos die Weltherrschaft beanspruchen, erklären uns, Russland, und ich betone, ohne jeden Grund, zu ihrem Feind.“ (Putin am 24.02.2022)4
Und so hätte die oben zitierte Ansage von Scholz im Bundestag genausogut von Putin stammen können: „Wir werden uns immer starkmachen für die friedliche Lösung von Konflikten. Und wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist.“
Diese Sorte Kriegsrechtfertigung beherrscht der US-Präsident freilich schon lange:
„Im Laufe unserer Geschichte haben wir diese Lektion gelernt: Wenn Diktatoren keinen Preis für ihre Aggression zahlen, verursachen sie mehr Chaos; sie bleiben in Bewegung; und die Kosten, die Bedrohungen für Amerika – und Amerika, für die Welt steigen weiter. Deshalb wurde das NATO-Bündnis gegründet: um Frieden und Stabilität in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu sichern.“ (Biden)5
Die USA führen also das größte Militärbündnis der Menschheitsgeschichte nur an, um Bedrohungen abzuwehren und so Frieden zu schaffen. Von den bestimmten Interessen der USA in der Welt, die sie offensiv verfolgen und dann immer wieder verteidigen muss, ist so überhaupt keine Rede. Aggressiv ist nur der Gegner, den man mit aller Kraft (30 verbündete Staaten, höchster Militärhaushalt der ganzen Welt) klein machen müsse. Das Körnchen Wahrheit an solchen Reden ist: Frieden gibt es nur, wenn die eigenen nationalen Interessen in der Welt Geltung bekommen, also vom Gegner akzeptiert werden. Und insofern ist jede Beteuerung eines Staatschefs, dass es ihm um den Frieden in der Welt zu tun ist, immer zugleich eine Kriegsandrohung: Sie enthält die Beteuerung, dass man für den Frieden, der die eigenen nationalen Interessen sicherstellt, gewillt ist, den Krieg zu führen.
1 Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19.02.2022. Übersetzung des englischen Textes, den die staatliche ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform veröffentlicht hat (via Google Translate) auf https://www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/selenskyj-einer-von-uns-luegt-li.212932 [28.02.2022].
2 Über die Gründe des Krieges siehe den Text oder Audio-Vortrag: „Wer Frieden will rüste sich zum Krieg“.
3 Zitiert aus der Übersetzung in dgksp-Diskussionspapiere März 2022, S. 63 und 66; eingesehen am 11.05.2022.
4 Zitiert aus der Übersetzung in dgksp-Diskussionspapiere März 2022, S. 77; eingesehen am 11.05.2022.
5 Remarks by President Biden in State of the Union Address am 02.03.2022; eingesehen am 08.03.2022.