Warum wir keine bessere Suchtprävention wollen, sondern keine
"ICH ICH ICH" prangte es dieses Frühjahr von Hamburger Plakatwänden; und kleiner darunter war zu lesen: "Sucht entsteht, bevor sie auffällt. Zum Beispiel, wenn jeder nur an sich selbst denkt." Urheber der Kampagne: die Hamburger "Landesstelle gegen Suchtgefahren", und zu befürchten ist, daß dieser Kokoleres im Bundesgebiet ausreichend Nachahmer findet. Denn Suchtprävention ist seit geraumer Zeit die Lichterkette der Drogenpolitik. Ob SozialpädagogInnen, Eltern oder SchülerInnen-FunktionärInnen, ob Freigabe- oder VerbotsbefürworterInnen, alle wissen, daß sie not tut. Schließlich wird inzwischen allem vorgebeugt, dem Verbrechen wie der Krankheit und eben auch der Sucht. Kein Wunder, daß bei solch Wohlgefühl, mit allen anderen ein gemeinsames Ziel zu teilen, der vereinzelt Einzelne schuldig gesprochen wird - schuldig an der Sucht, entweder der eigenen, wenn er zu sehr an den eigenen Genuß dachte, oder an der der anderen, um die er sich nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre, genügend gekümmert hat. Jener eingangs zitierte Slogan ist, mitsamt seines "Ich bin nichts, mein Volk ist alles"-Geraune, kein lächerlicher Fehltritt, sondern konsequentes Ergebnis der Logik der Suchtprävention.
Zum Geleit: Was soll Sucht eigentlich sein?
Vorbeugen soll die Suchtprävention der Sucht. Und was das ist, scheint allen so klar zu sein, daß darüber, mal abgesehen von Kalauern à la "Sucht kommt von suchen", kein Wort verloren zu werden braucht. Im "Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan" von 1990 beispielsweise findet sich nicht ein Wort der Definition. Umso leichter ist es, den Begriff "Sucht" dem gesunden Menschenverstand samt moralischer Aburteilung zu überlassen.
Doch wie jeder Begriff hat auch der Begriff "Sucht" so seine Geschichte, und die ist geprägt von der politischen Notwendigkeit wie der wissenschaftlichen Schwierigkeit, ihn in den Griff zu kriegen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde "Sucht" erstmals im Zusammenhang mit Drogen, speziell Alkohol, Cocain und Morphium, verwendet. Er bezeichnete getreu der damals gängigen allgemeineren Bedeutung übersteigertes Verlangen, jedoch im Sinne einer ethischen Verwerflichkeit und nicht einer Zwangshandlung, zu der der oder die einzelne nichts könne. Erst 1952 definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) "Sucht" als "überwältigendes Verlangen (zwanghafter Art)" nach kontinuierlicher Drogeneinnahme, gekoppelt mit Dosissteigerung, physischer und psychischer Abhängigkeit und "zerstörerischer Wirkung auf Individuum und Gesellschaft". So vage bzw. unzutreffend diese Beschreibung daherkam, so haargenau paßte sie zum gewünschten Zweck. Politische Aufgabe der WHO war es nämlich gewesen, die Legitimation der Internationalen Suchtstoffabkommen, die bestimmte Drogen weltweit verboten und noch verbieten, wissenschaftlich nachzuweisen. Dazu war es notwendig, die "Suchtgefahr" als "Gefahr" zu beschwören, zweitens die "Suchtgefahr" als nicht dem liederlichen Lebenswandel der GebraucherInnen, sondern den "Suchtstoffen" selbst innewohnend zu beschreiben, und drittens allen Substanzen die identische Gefährlichkeit, nämlich suchtbildend zu wirken, nachzuweisen, um das Totalverbot genau dieser Substanzen (Opiate, Kokain, Cannabis) zu rechtfertigen.
Je offensichtlicher aber wurde, daß diese Definition von Sucht kaum dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch der verschiedenen kriminalisierten Substanzen zu fassen vermochte, je mehr Substanzen aber auch weltweit verboten wurden (Amphetamine und Barbiturate z.B.), desto vager wurde der Suchtbegriff. 1964 gab die WHO ihn schließlich zugunsten des Dachbegriffs "Drogenabhängigkeit" auf, der nur noch die "wiederholte, kontinuierlich oder periodische erfolgende Einnahme einer Droge" beschrieb, d.h. faktisch jeden Drogengebrauch ohne ärztliche Genehmigung.
Inzwischen meinen einige schlaue Köpfe die Widersprüche, die sich aus dem Konzept der Drogensucht ergeben, logisch aufgelöst zu haben. Auf die polemische Frage, wenn Cannabis süchtig mache, ist nicht dann auch mein Verlangen nach der morgendlichen Zeitung Sucht, antworten sie frech mit ja. Rolf Harten, Suchtpräventionsvordenker aus Schleswig-Holstein, hat inzwischen die Liste der 120 Süchte vorgelegt, und so erfahren wir: Bei uns allen hat sich "ausweichendes Verhalten" verfestigt, weil wir nicht rechtzeitig aufgepaßt haben. Und nun müssen wir damit leben. So werden aus Vergewaltigern schon mal Sexsüchtige, Süchtige wie du und ich. Was da so radikal klingend daherkommt, paßt aber bestens in eine Gesellschaft, deren Mitglieder wissen, daß es auf sie als Person ohnehin nicht mehr ankommt. So sind sie stets bereit, die nutzlos gewordene Verantwortung für ihr eigenes Handeln, ihre Autonomie als Subjekt, möglichst umgehend an den nächstbesten abzugeben - und sei es auch an einen Begriff wie "Sucht". "Sucht", wie sie im Konzept "Wir alle sind süchtig" bestimmt wird, will nichts mehr erklären, sondern alles mit Ähnlichkeit schlagen; "Eifersucht" wird "Geltungssucht" wird "Kaufsucht" wird "Todessehnsucht" wird "Sucht". Wer immer schon Mißtrauen gegen die individuelle, nicht- normierte Gefühlsregung verspürte, erkennt sie plötzlich im Gegenüber wieder und die Last der Individualität von sich genommen. Die Institution sanktioniert eines jeden Verhalten als ganz normal abnormal und weiß zugleich das Maß der wahren Normalität (und Spaß machen braucht dem einzelnen zum Glück auch nichts mehr).
Zugleich weiß doch ein jeder, daß solch Suchtbegriff nur Metapher ist, denn zugleich muß es ein Unterscheidungsmerkmal zu den "wirklich Süchtigen" geben. Denn so gern sich die BürgerInnen mit ihresgleichen gleich machen wollen, so wenig mögen sie mit dem Junkie vom Bahnhofsvorplatz gemein haben.
Von Sucht und Krankheit
Daß "Süchtige" krank sind, ist daher ebenfalls ein Allgemeinplatz des gesunden Menschenverstands. Doch ebenso schwierig, wie es ist, ein bestimmtes Verhalten als "Sucht" dingfest zu machen, ist es, dieses Verhalten als Krankheit zu brandmarken, ohne in Widersprüche zu geraten. Daß auch dies nichtsddestotrotz geschieht, ist, wie im Fall der Bestimmung des Suchtbegriffes, interessegeleitet.
Sucht als gesundheitliches Problem ging als erstes im großen Maßstab der Nationalsozialismus an. Die Nazis unterschieden zwischen den therapierbaren Volksgenossen, denen in "Trinkerheilanstalten" genannten Arbeitslagern moralische Besserung angediehen werden sollte, und denen, deren Sucht als angeborenes Merkmal minderwertiger Rassen begriffen wurde und die im Interesse der "Volksgesundheit" zu Tausenden sterilisiert wurden; von da an war es zur später erfolgten Vernichtung nur noch ein kleiner Schritt. In den USA nahm die Diskussion einen anderen Verlauf: Nach dem Scheitern des Alkoholverbots in den 30er Jahren wurde dort Alkoholismus erstmals als Krankheit verhandelt, die zwar auch als unheilbar galt, sobald sie einmal ausgebrochen war, deren TrägerInnen aber geholfen werden sollte. Per Totalabstinenz sollten die Symptome (zunehmender Kontrollverlust) unterbunden werden. Die am Alkoholismus gewonnene Vorstellung von "Sucht-als-Krankheit" wurde später weltweit auf alle Drogen verallgemeinert. Wenn aber Menschen als "Süchtige" und Süchtige als "Kranke" definiert werden, ist damit auch definiert, wer für sie verantwortlich ist: nicht sie selbst, sondern der Gesundheitsbetrieb. So wurde 1968 in der BRD festgelegt, daß Krankenkassen Alkoholismus- (und kurz darauf auch andere Drogen-) Therapien zu zahlen haben. Was aber für manche eine Erleichterung war, bedeutete für andere, gegen ihren Willen zur Behandlung gezwungen, psychiatrisiert oder entmündigt zu werden. Denn da nicht sie, sondern die ÄrztInnen das Auslegungsrecht über Krankheit haben und jede Sucht als Krankheit gilt, gibt es angesichts der Vagheit des Suchtbegriffes nur eine einzige Möglichkeit, den freien Willen beim Konsum von Drogen nachzuweisen: den Konsum einzustellen.
Kritische WissenschaftlerInnen haben inzwischen darauf hingewiesen, daß selbst beim Paradefall "Alkoholismus" der Krankheitsbegriff kaum anzuwenden ist: Zu ungleich ist die Verlaufsform, und eine einheitliche Ursache kann schon gar nicht benannt werden. Vielmehr handele es sich um ein Geflecht aus Zwang, erlerntem Verhalten und freiem Willen, für das eben deswegen kein allgemeiner Umgang bestimmt werden kann. So macht es auch wenig Sinn, sich den Kopf über bessere Sucht-Krankheits-Definitionen den Kopf zu zerbrechen. Maßstab kann nur sein, daß die, die Hilfe wollen, gleich welcher Art, sie bekommen; was darüber hinaus als "objektive Bestimmung" eines Verhaltens als "süchtig" bzw. "krank" daherkommt, ist stets Kampfbegriff mit dem Ziel, ungewünschte Verhaltensweisen unter Kontrolle zu bekommen.
Wem beugt die Suchtprävention vor?
Als der Suchtbegriff noch einfach war, war es auch die Prävention. Auch wenn man nicht genau wußte, was es war, waren die Drogen schuld, und vor ihnen wurde gewarnt. Die Gefahren der "Abhängigkeit beim ersten Mal" wurden in leuchtenden Farben geschildert, indem den Drogen wer weiß was für Kräfte zugeschrieben wurden. Personengruppen, in denen es so riecht (der Aufklärungspolizist entzündete ein Stück Haschisch), waren zu meiden (es war schließlich Kulturkampf gegen die rebellierenden 68erInnen); und die Polizei verteilte Broschüren an die Autoritäten (Eltern vor allem) mit Checklisten, ob das Kind auch wirklich keine Drogen nimmt: Wäscht es sich regelmäßig? Wechselt es den Freundeskreis und zieht sich aus der Familie zurück? (Nicht nur was, sondern auch wer böse war, war einfach in jenen Tagen.)
Inzwischen haben die Verantwortlichen bemerkt, daß solcherlei Geschichtchen ebenso wie das, was einzig von einer Zwangsanstalt zur Wissenvermittlung, so man sie denn ertragen muß, zu akzeptieren wäre, leidenschaftslose Stoffkunde, nur die Neugier wecken. Statt aber diesen Befund zum Anlaß zu nehmen, die Drogenpolitik zu überdenken, waren neue, effektivere Konzepte schnell gefunden: "Um sozialen und individuellen Entstehungsbedingungen vorzubeugen, sind weit im Vorfeld süchtigen Verhaltens Bedingungen zu schaffen, die Einstellungen, Erlebnisfähigkeit und individuelle wie soziale Handlungskompetenz fördern, die ein konstruktive Bewältigung von Konflikten zulassen und für ein sinnerfülltes Leben motivieren", fordert der Nationale Rauschgiftbekämpfungsplan. Uff.
Angestrebt wird also der Zugriff auf Denken und Fühlen der Betroffenen weit vor der konkreten Handlung, eventuell eine Droge zu konsumieren. Frappierend die Übereinstimmung mit jener Geheimdienstarbeit, wie sie seit neuestem auch von der Polizei im Rahmen "präventiver Verbrechensbekämpfung" geleistet werden soll: weit vor einem konkreten Verbrechen potentielle VerbrecherInnen am verdächtigen Verhalten ausfindig zu machen, zu überwachen und an der eventuellen Tat zu hindern. Genausowenig, wie die "präventive Verbrechensbekämpfung" noch etwas mit liberaler Rechtsstaatlichkeit zu tun hat, hat die Vorstellung, der Staat möge über den Sinn des Lebens der Individuen entscheiden, noch etwas mit einem humanistischen Bildungsauftrag gemein. Bereits für Kindergartenkinder sollen die Erziehungsziele dergestalt reformuliert werden, daß später Suchtresistente herauskommen; zu ihrem Glück fallen den PräventionistInnen wenig Konzepte ein, die über das hinausgehen, was die Aktion Sorgenkind in ihrem Suchtvorbeugungsratgeber empfiehlt: "Kinder brauchen seelische Sicherheit, Freiräume und gesunde Ernährung". Zwar sollten ErzieherInnen dies nun ohnehin beherzigen, können jetzt aber mit dem guten Gefühl an ihre Arbeit herangehen, daß sie nicht mehr bloß die Bedürfnisse des einzelnen Kindes im Blick haben, sondern die "Drogengefahr" als ganzes.
Was diesen Kindern aber in der Schule blühen soll, formuliert der Nationale Rauschgiftbekämpfungsplan, die Katze aus dem Sack lassend, so: "Hierzu sind Strategien [...] zur Steigerung der psychischen Belastbarkeit zu entwickeln"; oder auch die SPD-Kultusministerin aus Schleswig-Holstein: "Schwierigkeiten, unterschiedliche Situationen zu bewältigen oder aushalten zu können, gehören mit zu den Ursachen für die Entstehung von Suchtverhalten." Gegen Sucht helfen die Eigenschaften, wie sie den Eliten im Hightech-Kapitalismus zukommen sollten, Flexibilität, die Fähigkeit, sich aufs jeweils Gefragte (und sei es Eigenverantwortlichkeit) umstandslos einrichten zu können; mit anderen Worten, die Fähigkeit, das Selbst als reines Reflexbündel verwalten zu können.
Nun steckt nicht mal darin Wahrheit, denn Speed oder Kokain lassen sich zu diesem Zwecke hervorragend einsetzen. Doch zielt das Konzept der Suchtprävention (mögen seine UrheberInnen es auch glauben) nicht auf Suchtfreiheit, was auch immmer das wäre. Die werden sie auf diesem Wege genausowenig erhalten wie auf anderem, denn die ausgemachten "Risikogruppen" sind eh die, die sich von der Schule nichts mehr sagen lassen. Wer würde im Ernst glauben, daß jenes abgeschriebene Drittel der Gesellschaft, das auf die Hauptschule gezwungen wird, nur deswegen nicht zur Spritze greifen würde, weil es die Schule statt abzuschaffen immerhin begrünen darf, wie es Suchtpräventionserlässe so gern vorschlagen? Nur sind sie in diesem Falle selbst schuld an ihrem abnormen Werdegang, schlugen sie doch die Angebote der Gesellschaft aus.
Im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit gibt es zuhauf ökonomisch Überflüssige. Die Suchtdefinition definiert eine der wenigen ihnen verbliebenen Handlungsoptionen, den Drogengebrauch, als abnorm, das Drogenverbot bekämpft das so geschaffene Lumpenproletariat, was als Junkies o.ä. in Erscheinung tritt, und die Suchtprävention weist ihnen für ihr Schicksal die Verantwortung dafür zu. Vorstellbar ist, daß sie in Zukunft stärker noch als Frühwarnsystem eingesetzt wird, "problematische Charakterstrukturen" im Kindesalter zu erkennen, auszusondern, eventuell, sollte es sich lohnen, zu entschärfen, ansonsten aber ihre Kontrolle sicherzustellen (und eventuell auf genetisch bedingtes Suchtverhalten zu verweisen, denn das wird zunehmend wieder diskutiert). Denn alle kann der Kapitalismus nun mal nicht gebrauchen und versorgen; und das ist der Wert der Suchtprävention schon heute für die, die es (als GymnasiastInnen meistenteils) schaffen werden. Sie hilft ihnen trainieren fürs erfolgreiche Schicksal, und sie gibt ihnen das Gefühl, das dieses Schicksal kein Zufall ist und kein armseliges, sondern ihr Glück:
Ich berge kein Risiko. Ich bin gesund.