12.05.2022 PDF

Gleich zwei Ostermärsche in Berlin (Text und Audio)

Wie die ideellen Feldherr*innen für Frieden sorgen wollen

 

In der Ukraine herrscht Krieg unter Beteiligung der militärischen und ökonomischen Weltmächte. Dagegen wurde auf dem traditionellen Ostermarsch protestiert. Diese Tradition haben einige Gruppen nicht ausgehalten und einen alternativen Ostermarsch organisiert. Worum ging es den Demonstrierenden und wo liegt ihr Zwist?

Aufmerksame Zeitungsleser*innen konnten bemerken, wie die EU, die NATO und Russland in den letzten 20 Jahren an der Ukraine herumgezerrt haben. Innerhalb der Ukraine hat das schließlich die politische Elite zerrissen. Zuvor haben sich sogenannte pro-russische Regierungen und mehr westlich orientierte Regierungen abgewechselt, ohne dass eine Seite vollends die eigene Linie durchgezogen hat. Das war 2014 mit dem Maidan-Putsch und dem Gegenputsch in den Separatistengebieten vorbei.

Die militärische Weltmacht Russland und der Block des freien Westens haben nicht erst seitdem, aber seitdem energischer, ihren Interessengegensatz zur militärischen Eskalation auf höherer Stufenleiter vorangetrieben. In der Ukraine dominieren seit 2014 Regierungen, die sich die Souveränität nicht nehmen lassen wollen, ein Bündnispartner der NATO zu werden, sie lassen sich vom Westen ausrüsten und die aktuelle Regierung verheizt ihre männliche Bevölkerung für ihr nationales Behauptungsprojekt.

So geht es zu, wenn Staaten ihre Gegensätze zuspitzen. Sie nehmen die Ökonomie und die Leute, über die sie herrschen, in die Pflicht und opfern sie für die Selbstbehauptung gegen andere Staaten. Sie zerstören die gegenüberliegende Ökonomie, militärische Einrichtungen und Untertanen, um den feindlichen Staat in die Knie zu zwingen.

Das sollte einem zu denken geben, in welcher Welt man hier eigentlich unterwegs ist. Die Ostermarsch-Aufrufe zeugen allerdings von einem sehr eigentümlichen Nachdenken über diese Welt:

Sie stellen sich als ideelle Feldherr*innen hin, messen die reale Führung an ihrem Ideal der „guten Herrschaft“ und adressieren sie mit konstruktiven Vorschlägen für eine moralisch einwandfreie Durchsetzung deutscher Interessen auf internationaler Ebene.

Ostermarsch 2022 in Berlin

Diese Demo mit dem Unterslogan „Waffen nieder“1 spart sich jede Analyse über den Grund oder die Gründe des aktuellen Krieges. In einer Situation, wo die Staaten allseitig aufrüsten, Krieg führen und die Grünen zeigen, wie flugs der Übergang in eine kriegsführende Regierungsverantwortung geht, da rufen sie schlicht dazu auf, keinen Krieg zu führen und abzurüsten.

Man mag vielleicht ja noch dran denken, dass weniger Waffen eben weniger Möglichkeiten zum Kriegführen bieten. Nur muss man dann auch deutlich machen, wer eigentlich der Akteur sein soll, der die Waffenproduktion und die Waffenlieferungen logistisch unterbindet. Ansonsten bleibt die Parole „Waffen nieder“ eine komische Überlegung angesichts von Regierungen, die über potente Ökonomien verfügen und fleißig aufrüsten und Waffen verteilen.

„Alles an diplomatischen und politischen Anstrengungen zur Deeskalation zu unternehmen ist oberste Pflicht der deutschen Regierung!“

Da zeigt die aktuelle Regierung, welche Freiheit sie in Sachen Kriegsbeteiligung hat (Stichwort 100 € Mrd. Schulden für Aufrüstung), weil sie über Deutschland und damit über eine ökonomische Macht in der Welt herrscht und die Demonstrierenden sagen ihr eine gegenteilige „Pflicht“ nach.

Klar wissen die Demonstrierenden auch, dass Deutschland gerade das Gegenteil von Deeskalation macht und das heben sie auch hervor. Diese Pflicht, die sie der Regierung andichten, dient ja auch nur dazu, die aktuelle Regierung in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Das ist aber keine Kritik der Interessen Deutschlands, sondern ein alternatives Regierungsprogramm für Deutschland.

„Politische Lösungen sind das Gebot der Stunde!“ Diese Parole streicht einfach durch, dass derzeit mit Waffengewalt allseitig Politik gemacht wird. Der Aufruf macht damit kenntlich, welche hohe Meinung die Demonstrierenden von der Politik überhaupt haben. Echte Politik würde nämlich gar keine Waffen brauchen. Spiegelbildlich spricht der Aufruf den realen politischen Kriegsakteuren allseitig ab, überhaupt Politik zu machen. Zugleich schmiegt sich der Aufruf ganz realpolitisch an lauter Aussagen von Putin, Biden, Scholz und Selenski an:

„Für eine neue Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok!“

Alle führenden Staatschefs im aktuellen Krieg haben deutlich gemacht, dass es ihnen um nichts weniger geht, als eine bestimmte Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok. Alle wollen sie, dass die staatliche Waffengewalt abgestimmt funktioniert. Die Staaten wollen das zwischenstaatliche Einigkeit herrscht darüber, welcher Staat wo welche Waffensysteme in welcher Anzahl stationieren, Manöver durchführen und militärische Beistandsverpflichtungen eingehen darf – nur schließen sich die Vorstellungen, welchen Inhalt das haben soll, völlig aus. Russland hält eine Sicherheitsarchitektur, die in direkter Nachbarschaft NATO-Stützpunkte unterhält, für keine. Die Ukraine und die NATO halten dies für die einzig richtige Sicherheitsarchitektur. Letztlich geht es in diesem Krieg um die Frage, welcher Staat sich wie einem anderen Staat unterzuordnen hat.2 Dargestellt wird das in der Rede von der Sicherheitsarchitektur für und in Europa so, als ginge es den Staaten dabei nur um einen Zustand des dauerhaften Friedens in dem dauerhaft die Waffen schweigen könnten. Das gehört dann ins Reich der Kriegslegitimationen. Und der Ostermarsch knüpft einfach an dieser Legitimation an, kümmert sich nicht um die gewaltträchtigen Interessen der Mächte (also die Gründe des Krieges), und sagt: So einfach ginge es doch. Diese Art und Weise, den aktuellen Krieg zu betrachten, zieht sich dann fort:

„Jeder weitere Tag, an dem die Waffen sprechen und die Gewalt und der Hass sich weiter ausbreiten, fordert nur mehr Tote, mehr Flüchtende und unendliches Leid.“

Das sagen ja sowieso alle Staatschefs und legitimieren damit ihr Engagement: Sie stellen ihren Krieg als Leidverminderungsprogramm dar, indem sie alles dafür tun, ihn zu gewinnen.

Der Krieg in der Ukraine muss beendet werden!“

Das wollen auch alle Seiten, aber eben zu ihren Konditionen. Deswegen führen sie Krieg.

„Sie müssten sich doch nur mit Vernunft und Diplomatie einbringen statt mit Waffenlieferungen, Sanktionen und Aufheizen der Emotionen.“

Die Diplomatie macht nie Pause. Noch während der Waffenlieferungen und Kriegshandlungen sagen die Staatschefs sich wechselseitig unter welchen Kapitulationsbedingungen sie bereit wären aufzuhören. Reden und Krieg sind kein Gegensatz, sie gehören zusammen.

„Dazu braucht es den Willen Russlands und der Ukraine, Verhandlungen mit Kompromissbereitschaft von beiden Seiten aus zu führen, die vernünftigerweise eine neutrale Ukraine zur Folge haben müssten.“

Das ist eine sonderbare Tour den Interessengegensatz der kriegsführenden Staatenwelt zu leugnen, weil der Vorschlag so willkürlich ist. Genauso gut könnte man ja auch schreiben: ‚‚Kompromissbereitschaft von beiden Seiten, die vernünftigerweise eine Rückgabe der Krim und die Akzeptanz der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zur Folge haben müssten.“ Gerade weil die Ukraine nicht neutral sein will, zum Frontstaat gegen Russland hochgerüstet wird und weil Russland die damit einhergehende Herabstufung als militärische Weltmacht nicht akzeptiert, führt Russland Krieg. Einen „Kompromiss“ den sie für „vernünftig“ halten, versuchen die Kriegsparteien gerade mit Waffengewalt zu erzwingen.

Kurzum: Diese Friedensfreund*innen wollen nichts von der Notwendigkeit von Kriegen zwischen Gesellschaften, die kapitalistisch mit einer staatlichen Herrschaft organisiert sind, wissen. Sie wollen auch nicht die verbreiteten Kriegslegitimationen auseinandernehmen, sondern übernehmen sie und führen sie umstandslos gegen die reale Politik ins Feld. Wo die Staaten, bis an die Zähne aufgerüstete Gewaltmonopole, eine große Schlachtbank herrichten, da stellen sie sich hin und sagen, dass man als Staaten doch locker harmonieren könnte: „Alle Energien in eine Politik des Ausgleichs und Miteinanders!“ Und wo die Herrschaft die Gesellschaft rücksichtslos in die Pflicht nimmt, da versuchen sie die Kriegstreiberei der eigenen Regierung noch daran zu blamieren, dass man selber nicht gefragt wurde:

„Sie wird Kriegspartei, durch Waffenlieferungen, durch grundlegende wirtschaftspolitische Entscheidungen über die Köpfe der Bevölkerung hinweg, ohne zu bedenken, dass im Falle einer Ausweitung des Krieges unser Land das Schlachtfeld sein wird.“

Und nur das noch: Natürlich weiß die Regierung, dass Deutschland zum Schlachtfeld werden kann und mit diesem Szenario kalkulieren sie risikobewusst. Daraus könnte man lernen, was für eine brutale und zynische Angelegenheit der Kapitalismus mit seiner notwendig dazugehörigen nationalstaatlichen Gewalt ist. Die Friedensfreunde verschwenden ihre demonstrative Energie dagegen auf den Lehrsatz: „Es müsste alles nicht so sein“, ohne sich über das „Es“ und das „alles“ geistig Rechenschaft abzulegen.

Alternativer Ostermarsch 2022: Stoppt russische Kriege – für Freiheit und Gerechtigkeit

Nun gab es in Berlin noch einen Ostermarsch von anderen „Friedensfreund*innen“, der explizit als Gegenprogramm zum herkömmlichen organisiert wurde.

„Ukrainische und syrische Aktivist*innen organisieren gemeinsam einen ‚Alternativen Ostermarsch‘, denn von der ‚Friedensbewegung‘ fühlen sich viele von ihnen verraten. Die russische Aggression gegenüber der Ukraine erwähnt der Aufruf zum ‚Berliner Ostermarsch‘ mit keinem Wort. Das Ausblenden der Perspektiven von Kriegsopfern ist dabei kein Einzelfall.“3

Da protestieren Leute im herkömmlichen Ostermarsch gegen eine Welt, in der Millionen Tonnen Waffen von Staaten angesammelt und angewendet werden und bekommen erstmal einen „Verratsvorwurf“ serviert. Linke, gute Menschen, müssten vor allem Opfern zuhören und müssten sich dann solidarisch an deren Ideen, was man jetzt zu tun hätte, halten. An diesem Prinzip hätten sich die herkömmlichen Ostermarschierer*innen vergriffen – und deswegen die Opfer des Krieges und zugleich die in ihren Augen vernünftige linke Moralität „verraten“.

Die versammelten „Opfergruppen“ des alternativen Ostermarsches aus der Ukraine, Syrien und Weißrussland und ihre solidarischen Unterstützer*innen wollen die Regierungen in Russland, Syrien, Weißrussland und der Türkei loswerden und finden, dass der Westen und insbesondere Deutschland da viel zu lasch gegen vorgehe.

Damit haben sie ein eigenes politisches Programm, dass sie auf zivilgesellschaftlichen Wege vorantreiben wollen. Sie setzen ihre politischen Schlüsse gleich mit dem Begehren aller Opfer in der Ukraine oder Syrien. Diese Gleichsetzung stimmt selbstverständlich faktisch nicht. Es mag sehr viele Ukrainer*innen geben, die sich nichts mehr wünschen als dass der Westen mit aller Embargo- und Waffengewalt gegen Russland vorgehen möge, es sind aber eben längst nicht alle.4 Bezogen auf die Ukraine wollen die alternativen Ostermarschierer*innen nicht trennen zwischen dem Staatsprogramm der ukrainischen Regierung und dem Willen der Bevölkerung. Alle sind sie eins, also eine Nation.5 Aber selbst, wenn alle Bürger*innen der Ukraine dasselbe wollten, wie der ukrainische Staat, wäre das noch kein Grund zu sagen: „Akzeptier und unterstütz das.“

Auf- und Ausrüstung im Namen der Opfer

„Wir finden: Es ist an der Zeit, endlich den Opfern der Kriege zuzuhören! (…) „Wir aber sagen, es ist legitim, wenn sich Syrer*innen oder Ukrainer*innen Unterstützung wünschen, damit ihre Häuser, Schulen, Bäckereien und Krankenhäuser nicht weiter bombardiert werden.“

Eine allseitig übliche Kriegslegitimation ist die Begründung eines Waffenganges mit den zivilen Opfern. Russland hat das gemacht (der Militäreinsatz diene dem Schutz der Menschen im Donbass, die täglich an der Kontaktlinie von Kiewer Truppen beschossen wurden), die EU- und NATO-Staaten machen das (Kinder, Frauen und Alte müssen vor „dem Russen“ geschützt werden), der ukrainische Staat macht das sowieso. Man selbst greife nur zu den Waffen (oder liefert sie), weil der andere Staat unschuldige Leute töte und soziale Infrastruktur zerstöre. Das ist Kriegspropaganda. Wo Staaten gegeneinander um Über- und Unterordnungsverhältnisse ringen, wo sie bereit sind, ihre Bevölkerung und gegnerische Leute zu opfern, da tun sie so, als wenn es ihnen nur um einen moralisch motivierten Schutz schwacher Menschen ginge. Die Praxis der Staaten widerlegt anschaulich diese Kriegslegitimation.

Die alternativen Ostermarschierer*innen übernehmen diese aber umstandslos und reiben sie den Pazifist*innen des anderen Ostermarsches unter die Nase. Dass das Gegenprogramm (Einsatz der bestehenden ukrainischen Streitkräfte plus Aufrüstung), um den Sieg der russischen Armee zu verhindern, ebenso russische Soldaten tötet, vermeintliche oder reale Kollaborateure drangsaliert und Zivilbevölkerung, die aufgrund von Armut oder körperlicher Gebrechen nicht fliehen kann, ebenso abschießt (weil zielgenaue Schüsse und Raketen ein Kriegspropaganda-Märchen sind), das will der alternative Ostermarsch nicht wahrhaben.

Da will man sagen: „Leute, wenn ,eure‘ Männer mit ordentlich Munition, Raketen und Panzer ausgestattet werden, die eine Übernahme der Stadt durch den russischen Gegner verzögern oder letztlich vielleicht sogar verhindern, glaubt ihr wirklich, dass dadurch keine Häuser, Schulen, Bäckereien und Krankenhäuser bombardiert werden – und zwar durch ,eure‘ Leute?“

Aber eigentlich argumentiert man so an den alternativen Ostermarschierer*innen vorbei. Wenn sie die Perspektive der Opfer einfordern, dann geht es ihnen nicht um die Vermeidung weiterer Opfer im Krieg, sie fordern vielmehr weitere Opfer, um die tatsächlichen oder angedichteten Gerechtigkeitsphantasien der bereits aufgehäuften Opfer zu befriedigen: „Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen!“ Das scheint unterhalb eines Weltkrieges gegenüber „Putin“ aber wohl nicht drin zu sein.

Auf- und Ausrüstung im Namen höchster Werte

Während der herkömmliche Ostermarsch den Feldherrenhügel betritt, um zu sagen „wenn alle sich ein wenig zurückhalten, dann kann das schon klappen mit dem Frieden“, sagen die alternativen Feldherr*innen:

„Viel zu lange hat man in Europa geglaubt, dass ein Krieg durch Annäherung an Russland verhindert werden kann.“

Dies ist derzeit auch die offizielle Selbstkritik der deutschen Regierung, mit der klar ist, wohin die Reise jetzt gehen muss. Das ist freilich eine hart verzerrte Sicht auf die deutsche Politik gegenüber Russland in der Merkel-Ära. Es stimmt schon, dass sie 2008 gegen den NATO-Beitritt der Ukraine war, aber hat die deutsche Regierung in den letzten Jahren irgendetwas anbrennen lassen in Sachen EU-Regeln-Ausdehnung bis an die Grenze Russlands? Hat sie nennenswert Einspruch erhoben bei der Umstellung der ukrainischen Militär-Kommandostruktur auf den NATO-Standard? Hat sie mit dem Minsker Abkommen wirklich Russland besänftigt oder nicht vielmehr dafür gesorgt, dass die damals schon eingekesselten Kiew-orientierten Soldaten wieder frei gekommen sind, um sich neu gruppieren zu können entlang der Kontaktlinie?

Sicher hat sie zugleich die Vorschläge aus den USA, Polen und dem Baltikum härter gegen Russland vorzugehen, ein wenig abgemildert. Aber hat sie das gemacht, weil sie einen Krieg wirklich verhindern wollte? Deutschland hat erstens an dem Projekt der USA, „Russland als militärische Weltmacht herabstufen“, mitgearbeitet. Zweitens hat es versucht, dieses Projekt so zu verfolgen, dass Russland dabei Zumutungen portionsweise verdauen könne, damit es nicht gleich zur militärischen Eskalation komme. Dabei hat Deutschland darauf gesetzt, dass das existierende und ständig weiterentwickelte Drohpotential der NATO Russland von der großen militärischen Eskalation abhalten werde.

Dieses (scheinbar widersprüchliche) Vorgehen hat schlicht seinen Grund in dem Anspruch Deutschlands, Osteuropa als seine Einflusssphäre zu behaupten. Im Falle eines Krieges wandert die Entscheidungshoheit in der Eskalation mit Russland von der Wirtschaftsmacht Deutschland hin zur Militärmacht USA. Das wollte Deutschland verhindern. Das ist bereits 2014 partiell passiert und Deutschland hat mit dem Minsker Abkommen und dem Normandie-Format die Lage wieder in seine Handlungsmacht bringen wollen. Jetzt ist die militärische Eskalation von Russland vorangetrieben worden und Deutschland will den Machtverlust wettmachen durch eine nachholende Entwicklung, indem ihre ökonomische Weltmacht mit militärischer Macht unterfüttert wird.

Nur weil sich Deutschland jetzt der Front anschließt, Russland direkter zu entmachten, ist das Urteil „Deutschland hätte sich vorher Russland annähern wollen“ völlig verkehrt.

„Man wollte die Folgen anderer Kriege von Europa fernhalten. Dabei sind diejenigen aus dem Blick geraten, die in anderen Teilen der Welt schon lange unter Kriegen leiden und fliehen müssen. Viel zu lange hat Europa die Interessen der betroffenen Bevölkerungen ignoriert, um sich nicht einmischen zu müssen.“

So geht dann die zivilgesellschaftliche Kritik an Deutschland. Während die Grünen heute die SPD und Merkel dafür kritisieren, dass sie Deutschlands Interesse geschadet hätten mit ihrer vormaligen Politik, werfen die alternativen Ostermarschierer*innen Deutschland vor, die weltweite Bevölkerung nicht im Blick zu haben.

Damit sind sie radikale Kinder der Kriegslegitimationen des Westens in seinen Kriegen. Der hat in seinen diversen Kriegen immer behauptet, dass er die Menschen und deren Rechte nur gegen Autokraten verteidigen würde. Den Afghanistan-Krieg sollte man sich als Kampf um Frauenrechte verplausibilisieren, den Krieg im Irak, in Libyen und die Unterstützung diverser Kampfverbände gegen Assad (inklusive Kampfverbände, die Al Quaida nahe standen) sollte man sich als Kampf um freie Wahlen, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit einleuchten lassen. Darum ging es dem Westen objektiv nicht. Auffallen zumindest könnte einem das allein schon daran, dass der freie Westen mit zahlreichen autokratischen Regimen in der Welt wunderbar kooperiert und ihre Staaten mit Krediten und Waffen überhaupt über Wasser hält (z.B. Ägypten). Statt die Berufungstitel des Westens zurückzuweisen, halten die alternativen Ostermarschierer*innen die Legitimationen der Kriege gegen die reale Politik. Überall sei der Westen einfach zu luschig unterwegs, lasse sich (völlig unverständlich) auf Deals mit den Autokraten ein. Wenn die Regierungen des Westens sich dazu entscheiden, einen staatlichen Gegner eher auf lange Sicht mit dosierten Wirtschaftssanktionen fertig zu machen, da schreien die alternativen Ostermarschierer*innen nach harten Sanktionen oder bedingungsloser Aufrüstung von Kampfverbänden, die sie als Streiter für das Menschenrecht einsortieren.

Im Namen der Opfer und der Menschenrechte für mehr Opfer

„Deshalb muss die EU dem russischen Regime jetzt sofort die wirtschaftliche Basis für seine Aggressionen und seine Kriegsverbrechen entziehen. Selbst wenn uns das etwas kostet, wir müssen endlich handeln, um Demokratie und Freiheit inner- und außerhalb Europas zu verteidigen.“

Mit „für Freiheit und Gerechtigkeit“ – also nicht für die Vermeidung von Toten – agitieren und marschieren sie für eine eindeutige Botschaft:

„Lieber Westen, wir als Betroffene stehen eindeutig hinter euch. Bitte macht Putin fertig, koste es, was es wolle. Das seid ihr den Opfern und uns schuldig und wir rufen alle dazu auf: Freiheit und Gerechtigkeit – dafür muss man die materiellen Kalkulationen des ökonomischen Alltags einfach sehr weit zurückstellen.“

Von so einer kritischen Zivilgesellschaft kann ein demokratischer Staat wie Deutschland, der nicht nur ökonomische Weltmacht sein, sondern eine militärische Macht werden will, nur träumen.

Ein Nachtrag zum Gerechtigkeitsfanatismus:

Den Wahnsinn, sich auf die Frage von Krieg und Frieden im Namen der Gerechtigkeit ernsthaft (und nicht legitimatorisch) zu beziehen, hat bei einer anderen Gelegenheit eine weitere „Betroffene“, nämlich Mariana Sadovska, eine Sängerin und Komponistin aus der Ukraine, ausbuchstabiert, als sie die Gelegenheit hatte, Olaf Scholz die Leviten zu lesen:

„Der NATO warf sie vor, sich allein von der Furcht vor atomarer Vergeltung davon abhalten zu lassen, eine Flugverbotszone einzurichten. Die Befürchtungen beschrieb sie nicht etwa als unbegründet; im Gegenteil, sie teilt sie mit den Verfassern des Briefes: ,Natürlich haben wir große Angst, dass dadurch alles eskaliert und es zu einem Atomkrieg kommt und die ganze Welt untergeht.‘ Damit war die Abwägung jedoch nicht beendet. ,Aber wir können doch nicht so einen Verbrecher wie Putin davonkommen lassen, nur weil er mit der Atombombe droht.‘ (…) ,Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen‘, sagte sie von dem Rednerpult aus, an dem wenige Minuten zuvor der Hausherr (Scholz; Autor) gesprochen hatte, ,dann soll es halt so sein!‘“6

Für die reellen Kriegsherren sind Freiheit und Gerechtigkeit Legitimationstitel ihrer nationalen Interessen gegen andere Staaten. Sie kehren solche Werte heraus, weil sie ihre Bevölkerung hinter sich bringen müssen und im Krieg freilich „Argumente“ wie, „mit dem Krieg wird es dir besser gehen“ nicht ziehen würden. Es braucht richtig hohe Werte, damit die Leute auch opferbereit oder noch besser begeistert in den Krieg ziehen, eben weil dadurch alles (auch das eigene Leben und dessen Verschleuderung) endlich einen Sinn mache. Wenn mit diesen hohen Werten dann das Leben von Soldaten für die edle Sache in Gefahr gebracht wird, warum dann nicht auch das Leben von allen Menschen?

2 Über die Gründe des Krieges siehe den Text oder Audio-Vortrag: „Wer Frieden will rüste sich zum Krieg"

5 Gegen diesen nationalistsichen Fehlschluss siehe den Text „Hört auf, "die Ukraine" und ihre Bevölkerung in einen Topf zu werfen"