Die Frage, was das Volk ist, ist nicht so einfach beantwortet, weil mit dem Volk sowohl bei den Rechten als auch bei allen anderen Parteien Unterschiedliches gemeint ist. Hier ein knapper Versuch, die unterschiedlichen Facetten zu ordnen.
Erstens definiert der Staat, wen er als sein Volk behandelt.
Ob man eine Bürger*in der Bundesrepublik Deutschland ist oder nicht entscheidet sich nach den Staatsbürgerschaftsgesetzen. Der Staat definiert, wer nach welchen Regeln automatisch deutsch ist oder nach bestimmten Kriterien deutsch werden kann, wenn man es beantragt. Diese Regeln werden auch hin und wieder geändert. Somit ist klar: Das Volk ist ein Produkt der staatlichen Gewalt. Es ist eine Menschenansammlung, die der Staat durch seine Gesetze definiert und dann als die Seinige beansprucht.
Ihre Aktivitäten sollen seine Macht mehren. Der demokratische Staat wickelt sein Staatsprogramm über Rechte ab, die er den Bürger*innen gewährt. Er erlaubt den Bürger*innen also, ihre ganz eigenen Interessen zu verfolgen, solange sie sich an die Grenzen halten, die er ihrem Wollen setzt. Im Regelfall schreibt er ihnen nicht explizit vor, was sie tun müssen. In den Rechten, die er ihnen gewährt, steckt der Auftrag oder die Pflicht immer zugleich mit drin. So enthält z.B. das Recht darauf, mit seinem Eigentum zu tun und zu lassen, was man will, die direkte Pflicht, das Eigentum Anderer und deren willentliche Willkür darüber anzuerkennen. Indirekt folgt daraus, dass man sich um das Geldverdienen in Konkurrenz zu den Anderen kümmern muss. Dieser staatliche Auftrag ist ein Herrschaftsprogramm – das Privateigentum in der Gesellschaft soll wachsen. Diesen Zweck hat sonst niemand in der Gesellschaft, denn die Privaten sind ja damit beschäftigt, ihr Privateigentum gegen andere zu verdienen oder als Kapitalist*innen zu vermehren. Dem Staat kommt es aber auf das Gesamtergebnis aller Aktivitäten an, denn darauf beruht ein Gutteil seiner Macht und Handlungsfähigkeit (Steuern, Kreditwürdigkeit, wirtschaftspolitisches Druckpotential gegen andere Staaten).
Zweitens ist das Volk ein ständiger Berufungstitel der demokratischen Staatsgewalt.
Das Parlament ist die Volksvertretung und die Justiz urteilt im Namen des Volkes. Bundespräsident*in wie Bundeskanzler*in müssen folgenden Eid leisten: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden […] werde.« In dieser Hinsicht wird das Produkt der Staatsgewalt in einen Auftraggeber des Staates verwandelt. Der Herr über das Volk soll zugleich „Diener des Volkes“ sein.
Hier wird es schon schwieriger, die Objektivität von der Einbildung zu trennen. Zunächst kann man sagen, dass es schlicht eine Unwahrheit ist. Wenn jemand Bundeskanzler*in wird, dann ist sie Niemanden auf der Straße verpflichtet. Es gehört ja auch zum üblichen demokratischen Sprachgebrauch dazu, sich als Amtsinhaber*in „nicht dem Druck der Straße“ beugen zu dürfen.
Zugleich kann man dann sagen, dass das „Durchregieren“ gegen Interessen in der Gesellschaft in der Vorstellung eines Volksdienstes auch drin steckt: Versprochen wird, dass man dem Volk dient und nicht irgendeiner besonderen Interessensgruppe, die sich auf Demonstrationen zu Wort meldet. Da in der kapitalistischen Gesellschaft, also eine Gesellschaft, die sich über die Form der Konkurrenz abwickelt, mit Notwendigkeit keine einheitlichen ökonomischen Interessen vorhanden sind, kann die Politik mit der Berufung auf das Volk prinzipiell jedes besondere Gruppeninteresse zurückweisen. Da meldet sich ja nur ein Sonderinteresse, z.B. als Mieter*in oder als Vermieter*in, zu Wort und kein allgemeines Interesse (dafür steht dann Volk).
Was aber jede* in der Gesellschaft braucht, egal ob man Kapitalist*in, Grundeigentümer*in oder Lohnarbeiter*in ist, ist eine Staatsgewalt, die die rechtlichen Bedingungen des Konkurrierens stiftet. Das hat es also mit diesem „Dienst“ auf sich: Die demokratische Herrschaft verpflichtet alle auf das Geldverdienen und stellt allen gleichermaßen den rechtlichen Rahmen, dieser Verpflichtung nachzukommen. Dass man aber bei dieser Gleichberechtigung als Lohnarbeiter*in systematisch die Arschkarte zieht ist kein Widerspruch zum Versprechen der Gleichbehandlung, sondern die sachgerechte Konsequenz. Wer schlechte Voraussetzungen bei der Gleichbehandlung mit sich bringt, der schneidet bei ihr – wie beim Schiedsrichter-geprüften 100 Meter-Lauf – eben schlechter ab.
Damit der Staat die allgemeinen Regeln der Gesellschaft gut durchsetzen kann – nach Innen wie nach Außen – muss er handlungsfähig, also stark sein. Die Ökonomie soll florieren, damit der Staat daraus seine Herrschaftsmittel zieht. Und seine Macht setzt er im wesentlichen wiederum dafür ein, die kapitalistische Ökonomie am Laufen zu halten und zu fördern. Dieser Zweck-Mittel-Kreislauf fasst sich dann in dem Programm einer jeden Partei zusammen, die Nation oder eben Deutschland stark zu machen. Der „Dienst am Volk“ hat dann die sachgerechte Konsequenz, die Bevölkerung so in die Pflicht zu nehmen oder zu unterstützen, dass das Gesamtresultat einen immer besseren nationalen Goldesel ergibt.
Drittens wird dieses Herrschaftsprogramm von den betroffenen Menschen nicht nur akzeptiert, sondern sie identifizieren sich damit.
Und das macht jede*, die sich als Deutsche fühlt oder aufführt. In jeder Hobbydiskussion am Stammtisch, am Küchentisch oder am Arbeitsplatz sind die Menschen gewohnt die disparatesten Themen im Namen des „Wir“ zu führen. Z.B.: „Sollen wir in Afghanistan die Truppen verstärken oder lieber abziehen?“; „brauchen wir mehr Kita-Plätze?“ Im Konkreten ist diese Weise über politische Fragen zu diskutieren in aller Regel folgenlos. Die Entscheidungen werden im Parlament und von der Regierung getroffen und die eigene Meinung ist dabei egal. Auf einer allgemeineren Ebene ist dieser Hobbynationalismus nicht folgenlos: Die Vorstellung, dass die Konkurrenzgesellschaft und die über ihr thronende Staatsgewalt im Grunde ein Gemeinschaftswerk sei, erleichtert der Staatsgewalt ihr Programm umzusetzen. Keine Herrschaft funktioniert reibungsloser als eine, zu der die Unterworfenen im Prinzip Ja sagen, weil sie sich mit ihr identifizieren.
Viertens: Um der Idee dieses erfundenen Gemeinschaftswerkes willen, erhält die Frage „was ist deutsch?“ die wunderlichsten Antworten:
Blut, Gene, Boden, Sprache, Kultur, Geschichte und Werte würden die Substanz des Deutschen ausmachen. In der Mehrheit werden alle Varianten zugleich gedacht. Zum Teil werden die Antworten exklusiv gedacht. Alle Antworten sind falsch. Sie eint, dass sie das Deutsche quasi als vorstaatliche Eigenschaft denken. Das objektive Urteil, dass die Gemeinsamkeit aller Deutschen allein die staatlicher Gewalt über sie ist (siehe erster Punkt), steht im Widerspruch zur Vorstellung von der selbstbewussten und selbstverständlichen Gemeinschaft.
Fünftens: Die AfD stiftet eine neue Ernsthaftigkeit über die Frage, was das Volk sei
Lange Jahre waren die Debatten darüber, was das Deutsche jetzt eigentlich ausmache, gar nicht so intensiv. Manchmal haben sich Professor*innen im Feuilleton darüber in die Haare gekriegt, aber in der Regel war es egal. Niemand hat die Debatte ernsthaft zu Ende führen wollen. Mit dem Erfolg der AfD ist das jetzt anders. Sie tritt mit dem Vorwurf an, dass die anderen Parteien gleich gar nicht mehr dem Volk dienen wollen, sondern „fremden Interessen“. An der aktuellen Flüchtlings-, Einwanderungs- und Staatsbürgerschafts-Politik könne man das sehen. Die AfD bemerkt hier die Tatsache, dass nur der Staat durch seine Gesetzgebung definiert, wer Deutscher ist oder sich auf seinem Territorium aufhalten darf und durch eine Änderung dieser Rechtslage auch neue Deutsche schaffen kann (erleichterte Einbürgerung). Genau in diesem Akt des staatlichen Willens sieht sie aber die größte Pflichtverletzung des Staates. Der Staat sucht sich glatt sein Staatsvolk selbst aus, anstatt sich als Diener eines vorstaatlich entstandenen völkischen Kollektivs zu betätigen. Die AfD betrachtet so das deutsche Staatsvolk wie es durch die bis vor ca. 20 Jahren geltende Rechtslage definiert war, als natürliche und vorstaatlich existierende Einheit. Alle Deutschen, die aufgrund der verschiedenen Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts in den letzten 20 Jahren hinzugekommen sind, gelten der AfD nicht als richtige Deutsche, sondern nur als „Passdeutsche“.
Auf dieser Grundlage stellt sich die AfD nicht einfach nur als wählbare Alternative auf, sondern stachelt die Bevölkerung auf, sich gegen die imaginierte Diktatur einer volksvergessenen Regierung und die ausgemachten „Fremden“ im Volk aufzulehnen. In dem Maße, wie es der organisierten Rechten gelingt, in Wahlen den etablierten Parteien Stimmen abzujagen und darüber größere Demos zu organisieren, auf denen Bürger die etablierten Politiker schlicht als Verräter beschimpfen; in dem Maße, wie die Rechten ihrer Fremdenfeindlichkeit Gehör verschaffen, reagieren die etablierten Parteien. Sie fangen selber an, ständig den Zustand des Wirs als prekär zu beklagen und machen ebenfalls den Übergang, politische „Sachfragen“ im Lichte des Wirs zu propagieren: Die AfD spalte die Gesellschaft, heißt es von CSU bis Linkspartei. So sprechen die Parteien die Menschen nun nicht mehr selbstverständlich nur als „Wir“ an, um dann irgendeine politische Forderung in die Welt zu setzen. Jetzt wird das „Wir“, d.h. die Frage, wer eigentlich zum deutschen Volk gehört (Punkt 4), vermehrt selbst zum Thema in der demokratischen Öffentlichkeit. Und für alle Seiten ist das Ziel, endlich wieder eine selbstverständliche geistige Einheit im Volk herzustellen, also ein funktionierendes Volk (siehe Punkt 3).
Dieser Text ist der elfte in der Reihe 50 Fragen 50 Antworten - Über den Rechtsruck – und wie man ihn besser nicht kritisiert.
Nach einer Pause veröffentlichen wir jetzt wieder wöchentlich eine weitere Kurzanalyse über rechtsradikale Standpunkte, schlecht gemachter Kritiken an der AfD und Stichwörtern in der Debatte über den Rechtsruck.