Diskussionen unter der Überschrift „gestiegene Lebenshaltungskosten” drehen sich um die Belastungen von Lohnabhängigen, deren Gehälter nicht mit der Inflation Schritt halten. Nun könnte mensch denken, dass der Lebensunterhalt der Lohnabhängigen als Sorgegegenstand gesehen wird, wenn die Inflation hoch ist. Tatsächlich trifft das Gegenteil zu: Kommentator*innen warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale, bei der höhere Löhne zu weiterer Inflation führen und deswegen am besten vermieden werden müssen.
Entscheidend ist also, ob die Unternehmen in der Lage sind, höhere Kosten für Vorprodukte in den Preisen weiterzureichen und ob die Arbeitnehmer daraufhin höhere Löhne durchsetzen können. Ist dies der Fall, droht eine Lohn-Preis-Spirale. — Klaus Bauknecht, Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank
Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ist real. — Christian Linder, Bundesfinanzminister
Der nachfolgende Text wurde zunächst in Großbritannien für ein britisches Publikum geschrieben.1 Deswegen werden vor allem Aussagen der Bank of England, also der englischen Zentralbank, zitiert. Die Ideologie der „Lohn-Preis-Spirale” und auch die Funktionsweise der Geldpolitik sind aber nicht spezifisch für das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland. Deswegen sind die unten im Text zitierten Aussagen der Bank of England exemplarisch für die Haltung und Politik anderer Zentralbanken.
Die Bank of England erklärt Inflation I: Löhne
Eine direkte Aussage derjenigen, die mit der Bekämpfung der Inflation betraut sind, der Bank of England (BoE):
Governor Andrew Baily sagte, dass steigender Lohndruck die Fähigkeit der BoE zur Kontrolle der Inflation bedroht, auch wenn die Haushalte den höchsten jährlichen Einkommensverlust wenigstens seit 1990 hinnehmen müssen. „Ich sage nicht, dass niemand eine Gehaltserhöhung bekommen soll, verstehen sie mich da nicht falsch. Aber ich denke, was ich sagen möchte ist, dass wir Zurückhaltung bei den Tarifverhandlungen sehen müssen, sonst wird sie [die Inflation] außer Kontrolle geraten”, sagte Baily der BBC in einem Rundfunkinterview am Freitag — William Schomberg und Alistair Smout. Bank of England calls for wage restraint to keep grip on inflation, Reuters, 4. Februar 2022
Der behauptete Zusammenhang von Löhnen und Preisen ist verkehrt. Es ist vielleicht am einfachsten, mit einem Beispiel zu beginnen. Nehmen wir an, Alice stellt Bob an, um irgendwelche Waren für sie zu machen. Sie zahlt ihm 10 Euro pro Ware, jede Ware benötigt 10 Euro für Werkzeuge und Rohmaterialien zu ihrer Herstellung und Alice schafft es, ihre Waren für 30 Euro zu verkaufen. Nachdem sie Bob und die Rohmaterialien bezahlt hat, bleiben ihr 10 Euro Gewinn, um Zigarren für ihren privaten Konsum zu kaufen. Nehmen wir nun an, dass Bob Alice davon überzeugen kann, ihm 15 Euro zu zahlen. Wenn sich sonst nichts ändert, geht Bob mit 15 Euro pro Ware nach Hause und Alice mit 5 Euro. Die Zigarren, die vorher von Alice verpafft wurden, werden nun teilweise von Bob konsumiert. Wir haben hier keine Inflation vor uns und keine erhöhte Kaufkraft, sondern wir haben eine Umverteilung.2
Aber vielleicht ist das ökonomische Ergebnis ja ein anderes, wenn wir unterstellen, dass (fast) alle Lohnabhängigen in einer Gesellschaft eine Lohnerhöhung bekommen, vermutlich das Szenario, über das die Bank of England sich Sorgen macht?
Wenn, einerseits, die Ware in unserem Beispiel für Güter steht, die von Lohnabhängigen und Unternehmer*innen (entweder als Unternehmer*innen zum Betrieb ihrer Geschäfte oder für ihren persönlichen Bedarf als Privatpersonen) gekauft werden, dann sind die Alices dieser Welt mit einer Marktlage konfrontiert, in der ein Teil ihrer Kundschaft (die Lohnabhängigen) mehr Geld hat und ein anderer Teil weniger (die Unternehmer*innen). Alice versucht nun also die Preise zu erhöhen, um den verringerten Profit aufgrund der Lohnerhöhung auszugleichen. Nun sind in unserem Beispiel ja fast alle Unternehmer*innen vor diese Situation gestellt, weil die Lohnerhöhungen fast alle Lohnabhängigen betrifft. Alice und ihre Wettbewerber*innen können dann zwar mehr an Lohnabhängige verkaufen, aber weniger an ihre Mitunternehmer*innen. Die gesamte Zahlungsfähigkeit hat sich aus dem gleichen Grund wie oben nicht erhöht: Eine Lohnerhöhung ist eine Verringerung der Profite und umgekehrt umgekehrt.
Wenn, andererseits, die Ware in unserem Beispiel für Güter steht, die nur von Lohnabhängigen gekauft werden, dann haben die Kund*innen von Alice tatsächlich mehr Geld zum Ausgeben. Dann könnte Alice mit ihrer versuchten Preiserhöhung erfolgreich sein. Aber als Kehrseite haben die anderen Unternehmer*innen weniger Kaufkraft die sich auf ihre Waren richtet. Damit würde sich die Marktlage beispielsweise für Dosenbier verbessern, während es auf dem Markt für Zigarren oder Sportwagen zu Problemen käme. Alice, von der wir hier annehmen, dass sie in der Brauereiindustrie ist, würde in dieser Situation einen ordentlichen Profit machen, während ihre Mitunterehmer*innen, die Zigarren herstellen, das nicht täten, die sehen alt aus. Nach derselben Logik wie oben fielen deswegen die Preise für Zigarren.
Das heißt, es wäre es nicht einmal inflationär, wenn Alice und ihre Wettbewerber*innen erfolgreich höhere Preise für Waren durchsetzen würden. Nur weil eine Ware teurer wird, bedeutet das nicht, dass das Geld an Wert verliert. Wenn der Preis von einigen Waren steigt, dann bedeutet dies für sich dass es weniger Kaufkraft zum Kauf anderer Waren gibt. Wenn es in der Gesellschaft 100 Euro an Zahlungsfähigkeit gibt und nun 35 Euro anstelle von 30 Euro für eine Ware ausgegeben werden, dann bleiben für den Kauf anderer Waren nur noch 65 Euro anstatt 70 Euro übrig.
Schlussendlich werden, wenn der Zigarrenmarkt schlecht läuft, andere Unternehmer*innen ihre Produktion von Zigarren auf Dosenbier umstellen, was Druck nach Unten auf den Dosenbierpreis auswirken wird. Die Ausgaben in der Gesellschaft werden so umverteilt, aber insgesamt nicht erhöht.
Der entscheidende Punkt ist der: Verkäufer*innen können Preise nicht einfach so setzen, dass sie ihrem gewünschten Gewinn entsprechen. Damit sie Preise erhöhen können, muss vorher die Zahlungsfähigkeit anderer erhöht worden sein. Lohnsteigerungen erhöhen die Zahlungsfähigkeit in der Gesellschaft aber nicht, sie verteilen sie nur um.3
Die BoE erklärt Inflation II: Kreditfinanzierte Geschäfte
Tatsächlich gibt die Bank of England mit ihrer eigenen Geldpolitik praktisch zu, dass sie der Theorie einer Lohn-Preis-Spirale selbst nicht so ganz glaubt. Durch Anpassung des „Geldangebots”, d.h. des Zinssatzes der BoE erkennt sie an, dass sie selbst weiß, dass Inflation mit dem Geld zusammenhängt, das sie ausgibt. Damit hat die BoE einen Satz von Antworten auf die Frage: „Wo kommt die Inflation her?“, die sie in ihrem Brief an den britischen Finanzminister gibt. Da steht die „Lohn-Preis-Spirale” gleich neben „starker Nachfrage” und „Energiekosten”. Eine andere Antwort gibt sie in ihrer Geldpolitik. In diesem Fall ist ihre praktische Antwort auf die Frage nach der Inflation: „Angebot und Nachfrage” von Geld.
Die Aufgabe der Bank of England ist die Bestimmung der Geldpolitik – ein Werkzeugkasten, der benutzt wird, um die Inflation gering und stabil zu halten. Wir tun dies hauptsächlich durch Zinssätze. Ein Zinssatz ist der Geldbetrag, den Leute für ihre Spareinlagen erhalten. Es ist auch der Preis, den sie für Kredite und Hypotheken zahlen müssen. Was ist also die Verbindung zwischen Zinssätzen und Inflation? Höhere Zinssätze machen es für die Menschen teurer, Geld zu leihen und ermutigen sie zum Sparen. Das bedeutet, dass sie insgesamt weniger ausgeben. Wenn Menschen insgesamt weniger für Güter und Dienstleistungen ausgeben, werden die Preise in der Tendenz langsamer steigen. Das verringert die Inflationsrate. — Bank of England. What is inflation? 3. Februar 2022
„Geld leihen” – Bestaunen wir die Existenz dieser „Menschen”. Die Kaufkraft, die den meisten Leuten zur Verfügung steht, kommt nicht vom billigem Kredit, sondern dem Verkauf von irgendetwas, typischerweise ihrer Zeit an eine*n Unternehmer*in. Sie müssen ihre Fähigkeit zu arbeiten an ein Unternehmen verkaufen, weil sie selbst für das Nötige zahlen müssen: Miete, Essen, Telefonrechnungen, usw.
„Ermutigung zum Sparen” – Die „Krise der Lebenshaltungskosten” wird weit und breit diskutiert, weil diese Notwendigkeiten eben ziemlich notwendig sind. Leute fragen sich nicht, ob sie mehr oder weniger sparen wollen, sondern, wie sie mit dem Geld bis zum Ende des Monats auskommen. Angesichts dessen ist es arg schräg zu behaupten, dass eine Entscheidung „der Menschen”, höhere Zinssätze beim Sparen mitzunehmen, die Preise senken würde. Die Lohnabhängigen haben schlicht kaum Geld zum Sparen. Die Bank of England kann sich ankumpeln wie sie will, was sie hier beschreibt sind nicht „die Menschen”.
Die Bank of England kann nur die Unternehmen meinen, wenn sie davon redet dass höhere Zinssätze das „Leihen“ verändert. Aber dann muss die Erklärung auch behandeln, dass die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen anders zustande kommt als bei den meisten Leuten. Unternehmen sind in ihren Ausgaben nicht durch die Geldsumme beschränkt, die sie bereits verdient haben, sondern geben – regelmäßig und in großem Umfang – geliehenes Geld aus. Aber die Bank of England (wie jede andere Zentralbank auch) hat noch nicht einmal direkt mit den Unternehmen zu tun, sondern mit Geschäftsbanken.
„Wir tun dies hauptsächlich durch Zinssätze. Ein Zinssatz ist der Geldbetrag, den Leute für ihre Spareinlagen erhalten.” Der Fehler steckt in „ein”. Die BoE setzt nämlich nicht den Zinssatz fest, den Leute oder Unternehmen bekommen oder zahlen müssen.4 Diese Zinssätze werden von Finanzinstitutionen nach ihren eigenen Berechnungen festgesetzt (auf Grundlage der allgemeinen Marktbedingungen und ihrer Konkurrenz miteinander). Die BoE bestimmt die Zinssätze, die Finanzinstitution zahlen, wenn sie von der BoE Geld leihen (oder bekommen, wenn sie der BoE Geld verleihen). Das hat normalerweise einen Einfluß auf die Zinssätze, die von Privatbanken gefordert werden. Allerdings ist diese Beziehung, zum Frusst der BoE, seit 2013 alles andere als direkt.5
Zusammengefasst bedeutet dies, dass – nach Aussage der Bank of England – der Zinssatz, den sie von Geschäftsbanken fordert und zahlt, sowie die privaten Kreditgeschäfte dieser Geschäftsbanken mit den Unternehmen irgendwie die Stabilität und den Wert des Geldes beeinflussen, das die BoE schafft und in die Welt setzt. Hier stimmt, dass Unternehmen, wenn sie Kredite aufnehmen und investieren, Waren produzieren, also Dinge, die sie selbst und ihre Arbeiter*innen mit Geld kaufen. An dieser Stelle kommen also beide Seiten zusammen: Zahlungsfähigkeit, die nicht von vorher erzielten Einnahmen herrührt, sondern von Kredit, und zusätzlich produzierte Waren. Irgendwie verläuft dieser Prozess im Moment so, dass er genau das Ding entwertet, mit dem der Erfolg des ganzen Prozesses, d.h. der Profit, gemessen wird: Geld. Dies geschieht gerade in einem Umfang, der der Bank of England Sorgen macht.6
Einerseits folgt daraus, dass eine Erklärung der Inflation bei von der Zentralbank gedeckter und kreditfinanzierter Profitmacherei anfangen muss und nicht bei den Löhnen.7
Andererseits ist das ein Hinweis darauf, warum die Bank of England wegen der Löhne so besorgt ist. Sie kennt den Zusammenhang von Profiten und Löhnen, auf den wir unsere Argumente im ersten Teil aufgebaut haben: Höhere Löhne verringern die Profite. Sie weiß auch, dass alles, angefangen beim Wert des von der BoE geschaffenen Geldes bis hin zum Lebensunterhalt aller Leute in dieser Gesellschaft, von der Profitabilität der Unternehmen abhängt, also ihrer Fähigkeit, (kreditfinanzierte) Vorschüsse in Gewinne zu verwandeln.
Die Bank of England warnt nicht vor einer „Preis-Preis-Spirale” und sie warnt auch nicht die Unternehmen davor, ihre Preise zu erhöhen. Sie warnt vor einer „Lohn-Preis-Spirale” weil sie die Notwendigkeit des Profits verstanden hat. Das wiederum liegt daran, dass die Reproduktion der Gesellschaft davon abhängig gemacht ist. Der Ratschlag an die Lohnabhängigen, dass sie ihren Lebensstandard zugunsten des Profitinteresses einschränken sollen, sagt viel über den Platz von Lohnabhängigen in dieser Gesellschaft aus: Ihr Lebensstandard ist nicht der Zweck, sondern ein Hindernis.
1 Von der Gruppe Critisticuffs, mit der wir zusammenarbeiten: https://critisticuffs.org/texts/wage-price-spiral
2 Es könnte eingewandt werden, dass Alice einen Teil ihrer Profite spart oder reinvestiert und dass die Wirkung von Bobs Lohnerhöhung auf das Sparen oder Investieren die Inflation antreiben könnte. Unterstellt das stimmt, müsste mensch von einer „Ersparnismangel-Preis-Spirale” oder einer “Investitionsmangel-Preis-Spirale” sprechen, wenn Spar- oder Investitionsquoten die Faktoren wären, die die Inflation entscheidend beeinflussen.
3 Wir verwenden den Begriff „Zahlungsfähigkeit” anstelle von „Geld”, um zu betonen, dass es schon sehr darauf ankommt, wer das Geld in der Tasche hat und es damit auch ausgeben kann, und nicht auf eine gesamte Geldmenge. Das steht in Gegensatz zu der gängigen Weise, über Inflation zu sprechen, in der eine Gesamtmenge Geld einer Gesamtmenge von Gütern gegenübergestellt wird a la „Viel Geld, wenig Güter also Inflation”. Die Kreisläufe von Geld und Gütern sind ineinander verwoben, Alice verkauft an Bob und kann mit den Einnahmen von Karl kaufen usw, und keine Gegenüberstellung der beiden Gesamtmengen. Ein Zehn-Euro-Schein kann z.B. an einem Tag für 100 Käufe verwendet werden; aber auch für keinen einzigen.
4 Das erklärt die Bank of England selber in Michael McLeay, Amar Radia and Ryland Thomas. Bulletin 2014 Q1: Money creation in the modern economy. 2014
5 Siehe auch “Die Abrechnung ist aufgehalten, schlechte Schulden sind allseitig in Wert gehalten worden – die Wirtschaft kommt nicht so richtig in Gang – was tun? Zentralbankpolitik seit 2013” in Die Wirtschaftskrise 2008 bis Juni 2020 und die staatlichen Maßnahmen - ein Seminarskript.
6 Die Bank of England hat sich – wie die anderen wichtigen Zentralbanken auch – ein Inflationsziel von 2 % pro Jahr gesetzt.
7 Wie die Unternehmen durch kreditfinanziertes Geschäfte die Inflation erzeugen besprechen wir in einem Text der vorläufig nur auf Englisch verfügbar ist. Auf Deutsch wird er aber auch noch auf unserer Webpage erscheinen. Dort wird dann auch die Rolle der Staatsverschuldung für die Inflation besprochen.