16.02.2023 PDF

DW-Enteignen veranstaltet ein „Fest der Demokratie“ – Werbung für die Herrschaftsform des Kapitalismus (Text und Audio)

 

Die Abstimmung zugleich mit Wahlen von Landtag und Bundestag im September '21 war ein Erfolg für das Bündnis Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE): 59,1% der Wähler haben bei dem Volksentscheid mit Ja gestimmt. Allerdings wurde der zur Abstimmung stehende Text vor der Wahl noch abgewandelt: In der zur Abstimmung stehenden Fassung hieß es, dass der Senat aufgefordert wird, „alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Art. 15 des Grundgesetzes erforderlich sind“1. Für den Senat macht es natürlich einen Unterschied, ob er durch einen Volksentscheid aufgefordert wird, ein Gesetz zu erarbeiten, das er mehrheitlich nicht will, oder aber bloß aufgefordert wird, Maßnahmen dazu einzuleiten.

Letzteres lässt der Regierung mehr Spielräume. Was eine tatsächliche Enteignung angeht, hat die Bürgerinitiative bisher (Januar 2023) entsprechend keinen Erfolg. Die rot-grün-rote Landesregierung hat keine konkrete Ausarbeitung eines Gesetzes zur Enteignung begonnen. Sie geht mit dem Beschluss so um, dass sie eine Expertenkommission einsetzt. Die prüft, ob und welche rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten für die vorgeschlagene Enteignung gegeben sind. Ende 2022 kommt sie zu dem Zwischen-Ergebnis, dass eine Enteignung wahrscheinlich möglich wäre. Derweil spricht sich die Bürgermeisterin Giffey mal mehr mal weniger klar gegen die Enteignung aus.

Daran knüpft DWE an und macht die Wiederholung der Wahlen in Berlin zu ihrem Thema. Die Mottos sind: „Immobilien-Lobby abwählen, Wohnungskonzerne enteignen“ und „Auf in den Abwahlkampf“. Auf einer extra dafür eingerichteten Homepage (dwe-wahl.de) werden Kandidaten der Ampel-Parteien mit grünen Häkchen und roten x danach markiert, ob sie die Enteignung befürworten – das soll dann Klarheit bringen, wer zu wählen ist und wer nicht. Insbesondere der Bau-Senator Geisel firmiert für DWE als Vertreter der „Immobilien-Lobby“.

Auf der eigentlichen Kampagnen-Seite gibt es weiterhin Mitteilungen zu den Zielen und Forderungen von DWE. Hier soll anhand einiger ihrer Kommentare gezeigt werden, dass DWE ein falsches Idealbild von Demokratie reproduziert. Dieses Bild ist weit verbreitet und ein elementarer Teil der Ideologie über die kapitalistischen Verhältnisse und deren politische Gewalt. Kurz gesagt: DWE macht Werbung für die Herrschaftsform des Kapitalismus.

Damit wirkt DWE widersprüchlich was ihre systemkritischen, anti-kapitalistischen Vorstellungen angeht. Denn ein Teil der Initiative hat das übergreifende Ziel verfolgt, anhand der Wohnungsproblematik Alternativen zur kapitalistischen Verwertung in eine gesellschaftliche Debatte zu bringen und diese als politische Möglichkeiten aufzuzeigen.

 

Was DWE erreicht hat

In einer Mitteilung resümiert die Initiative folgendermaßen:

Unser Volksentscheid war ein Fest der Demokratie. Während des gesamten Wahlkampfs waren wir nicht nur das Stadtgespräch Nummer 1, sondern auch ständig im Gespräch mit der ganzen Stadt. Vor genau vier Monaten haben 59,1 % der Berliner:innen für die Enteignung großer Immobilienkonzerne gestimmt. Deswegen fordern wir, dass die Initiative 59,1 % der Plätze der Enteignungskommission besetzt. Der Senat muss jetzt entscheiden, ob er Politik für seine Wähler:innen macht oder sich gegen sie stellt“. (Homepage Deutsche Wohnen & Co Enteignen, Volksentscheid war ein Fest der Demokratie, 26.1.20222)

Es stimmt, DWE hat eine Menge gemacht und erreicht. Sie hat Unzufriedenheit und Probleme von zahlreichen Mietern vor allem über teure, teils unbezahlbare Mieten, ausbleibende Instandhaltungsmaßnahmen und einen sehr prekären Wohnungsmarkt deutlich zur Sprache gebracht. Das ist ihr über längere Zeit in einem großen Bündnis mit verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen gelungen.

Generell ist das ein wichtiger erster Schritt um gegen schlechte Lebensbedingungen aktiv zu werden. Diese als etwas zu sehen, von dem man gemeinsam betroffen ist, und weiter als eine gesellschaftliche Sache, die durch gemeinsames Aktivwerden angegangen werden kann. Dabei kommt es aber entschieden darauf an, ob man ein gemeinsames Verständnis von den Ursachen der Probleme hat. Dazu hat DWE unseres Erachtens teils richtige Sachen in die Diskussion eingebracht, aber auch viel falsches Zeug erzählt.3

In antikapitalistischer Hinsicht waren sie erfolgreich insofern, als sie Debatten darüber ausgelöst haben, die Grundvoraussetzung des Kapitalismus und der Gewinnerwirtschaftung, das Privateigentum, an einer Stelle in Frage zu stellen. Auch das ist sehr begrüßenswert. In einer Gesellschaft, die durch die Politik und Öffentlichkeit dermaßen auf Privateigentum und Gewinnzweck als Prinzipien festgelegt ist; in der das übergreifende politische Kredo ist, als Standort attraktiv für Investoren zu sein, stellt das einen Bruch dar.

Damit war DWE eine ganze Zeit lang in der Öffentlichkeit. Abgesehen davon, wie dieses Anliegen von den Medien verhandelt wurde, hatte DWE viel Aufmerksamkeit und zum Teil auch Zuspruch zu der Idee der Vergesellschaftung erzeugt.

Letztlich hat sie mit ihrem Beschlusstext mehrheitlich in der Abstimmung Erfolg gehabt. Dabei ist allerdings nicht klar, was Leute im einzelnen bewogen hat, dem Beschluss zuzustimmen. Das ist notwendig so, wenn Kreuzchen auf Wahlzettel gesetzt werden – haben die, die zugestimmt haben, das als Zeichen zur Mitteilung von Unzufriedenheit mit ihrer Wohnungssituation gesehen, wollen sie eine Vergesellschaftung, wenn sie der Senat für richtig hält, oder wollen sie sie unbedingt…?

Das Ganze aber „ein Fest der Demokratie“ zu nennen, ist merkwürdig, denn damit fällt runter, was eigentlich bezweckt wurde und was Leute vielleicht mal ansatzweise befürwortet haben. Was ist damit gemeint? Dem kommt man näher, wenn man sich anschaut, was DWE über Demokratie äußert.

 

DWE skandalisiert die nicht-Umsetzung

Mit dem Zwischen-Ergebnis der Expertenkommission fordert DWE nochmal nachdrücklich, dass der Entscheid direkt in die Enteignung umgesetzt werden soll:

Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen fordert vom Senat, nun unverzüglich einen Fahrplan für die Vergesellschaftung vorzulegen. ‚Der Zeitpunkt für eine Enteignung ist jetzt und der Senat muss endlich loslegen. Wer jetzt noch immer nicht enteignen will, kann Berlin nicht länger regieren… .‘“ (Homepage Deutsche Wohnen & Co Enteignen, Kommission gibt grünes Licht für Enteignung, 9.12.20224)

– … halten sie der amtierenden Regierung vor.

Konkret in Bezug auf den Volksentscheid ist es so, dass das Vorgehen der Regierung bisher verfassungskonform ist. Denn mit dem Beschluss zum Ergreifen von Maßnahmen zur Ausarbeitung eines Gesetzes liegt der Ball bei der Regierung. Die wurde, ungeachtet der Tatsache, dass entscheidende Führungsfiguren dem Projekt eine Absage erteilen, tätig und hat Maßnahmen eingeleitet, indem sie die Verfassungskonformität und finanzielle Machbarkeit einer Enteignung prüft.

Dass eine Landesregierung, die den Volksentscheid nicht umsetzt, Berlin nicht regieren kann, ist so gemeint, dass die Regierung damit gegen den Willen einer Mehrheit der Regierten Politik macht, und daher nicht legitim sei. In den Augen von DWE sei dies ein Verstoß gegen die Demokratie. Die Regierung vergehe sich an einem Prinzip, dem sie zu gehorchen hätte. Entsprechend skandalisiert DWE die Landespolitik und zeigt sich kämpferisch: „Wir lassen nicht locker“5.

Den aktuellen Beschwerden von DWE liegt die Vorstellung von Demokratie zu Grunde, dass die Beherrschten Auftraggeber und eigentlich die Souveräne im Staat seien. Die Macht gehe von ihnen aus; die Gewählten hätten dem „Wählerwillen“ zu folgen. Das ist die verbreitete Vorstellung von Demokratie.

Die damit verbundenen Erwartungen kollidieren (nicht nur) hier mit der tatsächlichen Politik, was Leute mitunter dazu bringt, einen Verstoß auf Seiten der Regierung festzustellen und die  vermeintliche Machtposition der Wähler noch nachdrücklicher zu betonen.

Dagegen gibt es viele Hinweise, dass es mit der Herrschaft von den Leuten nicht hinkommt. Regieren heißt ja „Verantwortung übernehmen“ und sich dabei nicht von untergeordneten Interessen vereinnahmen lassen. Die wichtigste Fähigkeit von Regierungspersonal ist Führungsstärke – die wurde in der Öffentlichkeit jüngst beim Kanzler Scholz im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg vermisst. Das heißt, es wird davon ausgegangen und gewollt, dass sich Herrschende gegen andere durchsetzen. Wenn sich Parteien Populismus vorwerfen, ist auch das Ausdruck davon, dass es um Machtausübung unabhängig von den Interessen der Regierten geht. Die demokratischen Einrichtungen – zum Beispiel Wahlen, Petitionen oder Demonstrationsfreiheit – sind so angelegt, dass das Formulieren von Forderungen und die Interessen der Leute getrennt sind von der Durchführung der Politik. Letztlich entscheiden die Machthaber, was mit den Anliegen und Interessen wird. Das findet sich klargestellt zum Beispiel in der Broschüre des Bundestages zu Petitionen6:

Petenten sollten aber den Petitionsausschuss als Bürgerinstanz nicht falsch einschätzen oder zu hohe Erwartungen an die Volksvertretung richten. Das Wesen der Demokratie besteht nun einmal darin, dass das Volk in Wahlen darüber entscheidet, welche Parteien die Politik in den folgenden Jahren in erster Linie gestalten sollen.“ S. 20

Demokratie in Nationalstaaten macht aus, dass mit Wahlen Regierungspersonal ermächtigt wird, souverän ihre Politik zu machen. Es ist eine Herrschaftsform, also Herrschaft. Machthaber entscheiden über andere Leute. Das funktioniert rechtmäßig – in Form von Gesetzen – und institutionalisiert mit Gewaltenteilung.

Das offizielle Selbstverständnis der Demokratie ist dabei merkwürdig: Einerseits wird davon ausgegangen, dass es eine Herrschaft durch und für das Volk ist. Andererseits bestreitet kein Politiker, dass da eine Seite regiert und eine andere regiert wird. Tatsächlich nehmen die demokratischen Einrichtungen nichts von dem Herrschaftscharakter, denn der Staat als Souverän macht sich grundsätzlich nicht abhängig von der Zustimmung der Beherrschten. Davon geben Notstandsgesetze Zeugnis, die klarstellen, dass, wenn der Staat in Existenzkrise ist, Demokratie mit ihren Grundrechten auf Eis gelegt wird. Das lässt sich auch bei Innenministern erkennen, wenn sie die Souveränität des Gewaltmonopolisten als Grundlage der demokratischen Ordnung betonen. Die Macht liegt bei den Gewählten und den anderen Staatsgewalten. In der Ausübung ihrer Ämter und Posten sind die Staatsdiener unabhängig von den Wählern.

Volksentscheide sind in Hinblick auf die Unabhängigkeit der Regierung eine kleine Ausnahme. Hier wurden tatsächlich direkt-demokratische Einrichtungen geschaffen, mit denen potentiell auch gegen den Willen der Regierung Anliegen durchgesetzt werden können. Das dient dazu, Politikverdrossenheit entgegenzuwirken.7

Sie haben allerdings sehr hohe Hürden. In teils mehreren Stufen müssen erst viele Unterschriften gesammelt werden. Das Anliegen wird außerdem behördlich geprüft. Es muss Formalitäten genügen, verfassungskonform sein und darf die Regierung finanziell nicht längerfristig einschränken. So wird sichergestellt, dass das Anliegen nicht grundsätzlich gegen die politischen Zwecke läuft. Wenn ein Anliegen soweit erfolgreich ist, kann es zur Abstimmung gestellt werden.

Das A und O der Demokratie ist, dass das Personal in den obersten Machtebenen regelmäßig neu gewählt wird. Das soll sich als eine Art Machtübertragung vom Volk an die Parlamente vorgestellt werden. Tatsächlich gibt der Staat dabei keine Macht ab, er selbst richtet Wahlen ein.8 Die Besonderheit demokratischer Macht besteht darin, dass sie für das machtausübende Personal auf Zeit vergeben wird und ans Recht gebunden ist, welches der Staat selbst setzt. Die Macht selber ist dagegen permanent vorhanden, also zeitlich nicht eingeschränkt.

Wenn Giffey nun behauptet, dass eine Enteignung für sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbar sei, dann ist das sehr demokratisch. Ähnlich wie im Grundgesetz Artikel 38 steht in der Berliner Verfassung im ersten Artikel im Abschnitt „Volksvertretung“, Nr. 38 Absatz (4):

Die Abgeordneten sind Vertreter aller Berliner. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Demokratische „Machtübertragung“ heißt im Resultat jedenfalls, dass der Mensch im Amt im Rahmen und mit den Kompetenzen dieses Amtes entscheidet.

Um nicht missverstanden zu werden: Damit soll nicht gesagt sein, dass das, was Regierungen und in dem Fall Giffey und Co. machen, toll ist. Damit soll gesagt sein, dass das (bisher auf jeden Fall) in Übereinstimmung mit der Herrschaftsform Demokratie ist.

 

Die Ideologie der Demokratie: Volk als Auftraggeber staatlicher Macht

Mit ihrer Skandalisierung von der Berliner Politik als „Immobilien-Lobby“ anstelle von guten Volksvertretern reproduziert DWE die Ideologie, dass die Bevölkerung Auftraggeber der Regierung sei. Wie kommt man darauf? Ein Staat, der selbst von sich behauptet, Gewaltmonopol zu sein; der nicht müde wird, Gehorsam ihm gegenüber als Grundlage des gesellschaftlichen Funktionierens zu betonen; der dazu einen riesigen Gewaltapparat unterhält, dem die Arbeit nie ausgeht? – Das soll Sache der ihm unterworfenen, mit ihrer Herrschaft ständig unzufriedenen Leute sein?

Der Rechtsstaat gewährt9 Einzelnen Rechte und garantiert sie mit seiner Gewalt. Innerhalb der Gesetze sind die Leute frei. Sie können ihre Zwecke setzen und verfolgen. Da liegt die Verkehrung schon nahe: der Staat tue das als Dienst an den Menschen, damit die ihre Interessen verfolgen können. Übersehen wird dabei, worauf diese mit Rechten zur Interessenverfolgung indirekt festgelegt werden und was der Urheber der Rechte davon hat.

Der springende Punkt ist, dass der Staat mit dieser Freiheitsgarantie und der Garantie des Privateigentums die Grundlagen einer Wirtschaft setzt, in der es einen stummen Zwang zum Dienst an fremden Interessen gibt. Mit stummen Zwang wollen wir sagen: Der Zwang hat eine andere Qualität als z.B. in Sklavenhaltergesellschaften, in denen Leute durch Gewalt direkt gezwungen wurden zu arbeiten. In dieser Gesellschaft entschließen sich die Leute aus freien Stücken zu arbeiten, weil die Alternativen (Arbeitslosigkeit, Armut,…) noch schlechter sind. Der Staat schafft mit der Garantie der Freiheit und des Privateigentums also gerade die Grundlage für diese Alternativlosigkeit der meisten Menschen: Man braucht Geld, und das gibt es für Arbeit im Dienst Anderer – vor allem bei Unternehmen, die Leute anstellen, um Gewinne zu machen. Da führt gesellschaftlich gesehen nur für wenige ein Weg dran vorbei.10

So werden die Bedingungen für die kapitalistische Gesellschaft gesetzt. Wenn diese dann so gut  wie in den westlichen Staaten läuft, dient sie als Machtgrundlage des Staates. Der setzt seine Macht national und international wiederum dazu ein, seiner Wirtschaft zu fortschreitendem Wachstum zu verhelfen.

Der Staat wird mit der Gewährung von Rechten als Diener an den Leuten gesehen – wo durchaus insofern was dran ist, dass er ihnen in ihren ökonomischen Rollen dient. Was auf der Seite der Lohnabhängigen zum Beispiel heißt: Sie werden mit Sozialversicherungen abgesichert, damit sie im Notfall nicht vollkommen verenden und nicht mehr als Lohnabhängige antreten könnten. Sie können sich mit der Staatsgewalt (Justiz) gegen  den eigenen Arbeitgeber durchsetzen, wenn dieser vertragswidrig keinen Lohn zahlt.

Dass der Staat also allen Bürgern zu Diensten ist, ändert nichts daran, dass er mit der Gewährung von Rechten sein Herrschaftsprogramm verfolgt. Er setzt so seinen Zweck einer kapitalistischen Wirtschaft, die wachsen soll, um. Allerdings muss man hinzufügen: die Leute machen dabei gut mit.

Bürger drehen das Verhältnis von Auftraggeber und -empfänger um. Sie meinen, sie hätten jenseits vom Staat Rechte, und dieser müsste sie mit seiner Herrschaft bedienen. Konkret wird das bei Steuern; der Staat zieht sie ein – explizit ohne sich damit auf eine Leistung festzulegen. Bürger sehen Steuern dagegen wie eine Zahlung, die Anspruch auf Dienstleistungen für sich mit sich bringt, wobei diese natürlich nicht genau definiert sind.

So akzeptieren Bürger die Beschränkungen und Vorgaben der staatlichen Macht. Sie stellen sich die Nation als eine Art Gemeinschaft vor, in der sowohl sie als auch der Staat Rechte und Pflichten im moralischen Sinne hätten. Generell habe letzterer die Pflicht, den Bürgern zu dienen, dafür müssen diese wiederum gehorchen. Gleichzeitig sieht sich der Staat auch selbst als Diener am Menschen und propagiert diese Ansicht.11

Unzufriedenheiten, die in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft an der Tagesordnung sind, werden anhand dieser Ideologie der gegenseitigen moralischen Verpflichtungen verarbeitet. Das heißt, dass das, woran sich Leute stören, auf Pflichtverletzungen der Politiker zurückgeführt wird. Dazu gehört die Vorstellung, dass es sich dabei um Abweichungen handelt; eigentlich müsste es anders laufen; es würde sich um Vergehen an ihrem „eigentlichen“ Auftrag handeln, um Verstöße gegen das, wozu die Regierenden da seien. Häufig wird derselbe Gedanke verallgemeinert: die da Oben seien alle abgehoben und korrupt, steckten mit den Reichen unter einer Decke, handelten entgegen ihrer Pflicht zum eigenen Vorteil und würden das brave Volk vergessen. Bei diesem Denken ist übrigens der Schritt zur Verschwörungstheorie  nicht fern.

Diese Denkweise trägt auch DWE vor sich her:

Geisel trifft sich heute mit Lobbyisten der Immobilienwirtschaft für Hinterzimmerdeals. Das Gespräch mit unserer Initiative aber verweigert er.

[…]

Entweder Herr Geisel ist nicht willens die Vergesellschaftung umzusetzen oder er ist unfähig – in jedem Fall ist er als Senator für Wohnen ungeeignet!“ (Homepage Deutsche Wohnen & Co Enteignen, „Volksentscheid nicht in Geisel-Haft nehmen!“ 28.1.202212)

‚Giffey und Geisel sind völlig abgehoben: Sie feiern sich mit Sekt und Häppchen auf dem Fernsehturm, obwohl ihr Bündnis keine Ergebnisse gebracht hat. Besser lässt sich die Wohnungspolitik der SPD nicht zusammenfassen. Die Mieten in Berlin explodieren und die Menschen wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. Aber Giffey und Geisel schmieden ein Bündnis mit genau den Immobilienkonzernen, die selbst jetzt in der Krise noch Profite auf unsere Kosten machen‘, so Constanze Kehler, Sprecherin der Initiative.“ (Homepage Deutsche Wohnen & Co Enteignen, Gescheitertes Wohnungsbündnis: „Giffey und Geisel sind für die akute Wohnungskrise verantwortlich“, 14.12.2022)

Was hier im Gestus von Stärke und Selbstbewusstsein daherkommt – „Nicht mit uns!“ – ist demokratisches Untertanenbewusstsein. Es basiert auf und reproduziert die Vorstellung, dass die Herrschaft über einen für einen da zu sein hätte. Wo dieser Glaube enttäuscht wird, erfolgt keine Absage an die Herrschaft an sich, sondern eine an das aktuelle Herrschaftspersonal. Das wiederum ist somit eine grundlegende Zustimmung zu der Herrschaft an sich. Die soll ja mit ehrlichem und fähigem Personal weitergehen.

Dass der Staat jenseits „persönlicher Unfähigkeit“ wenig Interesse hat, die Vergesellschaftung durchzuführen, weil es seiner Räson widerspricht, ist mit dieser Einstellung ausgeschlossen. Ausgeschlossen ist damit auch allgemein, dass der ständige Stress und die prekäre Versorgung im demokratischen Rechtsstaat System haben, das nicht durch Versagen, sondern Wirken der Verantwortlichen zustande kommt.13

So wird auch das demokratische Prinzip befördert, nachdem Unzufriedenheit affirmativ umgesetzt wird. Es dreht sich alles immer um personelle Fragen: Wer ist geeignet, Politik ordentlich zu machen? Genau diese Frage wird den Leuten mit Wahlen immer wieder vorgelegt. Damit ist die garantiert konstruktive Verarbeitung von Unzufriedenheit institutionalisiert. So werden dann ggf. andere Parteien in die Regierung gewählt und der Kapitalismus geht seinen Gang.

 

Sorge um Politikverdrossenheit

DWE skandalisiert die nicht-Umsetzung und tritt damit breit, dass es in diesem System eigentlich nicht so sein müsste. Andere nehmen noch einen anderen Standpunkt ein:

„Die Umsetzung des Volksentscheids müsse nach der Regierungsbildung oberste Priorität haben und ganz oben auf der Tagesordnung des zukünftigen Senats stehen. Wer das Abstimmungsergebnis nicht ernst nimmt, provoziere Politikverdrossenheit, mahnt der Demokratie-Fachverband.“ (Mehr Demokratie Berlin Brandenburg, Presse-Mitteilung: Volksentscheid: jetzt Bürgerwillen umsetzen, 27.9.202214)

Hier ermahnt der Demokratie-Fachverband die Regierung. Er sieht sich verantwortlich für die Demokratie, die er ideologisch als übergeordnete Sache der Gemeinschaft ansieht. Daher meint der Verband, in einer Autoritätsposition gegenüber der Regierung zu sein und sie ermahnen zu können. Und er meint, die Regierung mit dem Appell an ihrem ureigensten Interesse packen zu können: Eine Regierung muss doch ein besonderes Interesse an der Loyalität der Bürger haben. Aus diesem Interesse solle der Volksentscheid umgesetzt werden. Denn – völlig gleichgültig, worum es da geht – wenn er nicht umgesetzt wird, glauben Leute nicht mehr an die gute Mission der Politik, für sie da zu sein.

Das ebenso Verrückte wie Treffende dabei ist, dass das eigentliche Anliegen dabei herunter fällt. Dass der Volksentscheid umgesetzt werden soll, damit Leute sich etwas weniger Sorgen um ihre Bleibe machen müssen, kommt nicht mehr vor. Stattdessen geht es darum, dass die nicht-Umsetzung der Loyalität der Bürger zum Staat abträglich wäre. Damit trifft der Verein die Sache von Volksentscheiden, Politikverdrossenheit entgegen zu wirken.

Die Sache, um die sich gesorgt wird, ist das geschlossene Verhältnis von Staat und Bürgern. Das entspricht der Demokratie: die macht aus, die Beherrschten auf die Herrschaft zu verpflichten.

In dem Sinne kann man auch den Ausdruck DWE als „Fest der Demokratie“ verstehen. Toll daran ist aus dieser Perspektive, dass Leute sich mal politisch geregt haben. Unter Absehung davon, worum es dabei ging, wird eine breitere Aktivität als Ausdruck der Güte des politischen Systems gesehen: ein Ausdruck von „lebendiger Demokratie“. Die besteht darin, dass Bürger das Gemeinwesen als ihre Gemeinschaftssache auffassen und sie sich als solche aktiv zu eigen machen. Dabei ist bekannt (was widersprüchlich ist), dass die Politik die Verantwortung hat und die verbindlichen Entscheidungen trifft.

Das ist dann auch Erziehung zur Demokratie: Leute zu konstruktiver Aktivität bewegen, Vorschläge und Ideen für das Gemeinwesen zu entwickeln, etwa als ob sie die Herrschenden selbst wären, und dabei zu akzeptieren, dass es andere sind, die tatsächlich entscheiden.



1 Kurzversion des Beschlusstextes, https://content.dwenteignen.de/uploads/Beschlusstext_Volksbegehren_eccd8d6b0c.pdf eingesehen am 8.2.2023

2https://www.dwenteignen.de/2022/01/volksentscheid-war-ein-fest-der-demokratie/, eingesehen am 5.1.2023

3Zu anderen Aspekten der Kampagne siehe unseren Text Deutsche Wohnen enteignen? Saugerne! Falsche Kritik verbreiten? Bloß nicht!

4https://www.dwenteignen.de/2022/12/kommission-gibt-grunes-licht-fur-enteignung/, eingesehen am 5.1.2023

5https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/volksentscheid-berlin-deutsche-wohnen-und-co-enteignen-erfolgreich-mehrheit-dafuer-rechtlich-nicht-bindend-bindungswirkung/ , eingesehen am 3.1.23

6https://www.btg-bestellservice.de/pdf/20201500.pdf, eingesehen am 3.1.2023

7Zur direkten Demokratie siehe den Artikel "Warum und wann lässt die Politik ihre BürgerInnen direkt bestimmen?", in der Zeitung "Nehmt das, S. 6.; https://gegen-kapital-und-nation.org/media/NEHMT%20DAS.pdf

8Siehe auch: Demokratie - Die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft. Peter Decker (Hrsg.)

9Allein darin, dass der Staat Rechte „gewährt“, zeigt schon die Hierarchie. Im „gewähren“ steckt die Möglichkeit, die Rechte wieder zu entziehen.

10Siehe dazu unser Text Freiheit und Gleichheit in demokratischen Staaten. https://gegen-kapital-und-nation.org/freiheit-und-gleichheit-in-demokratischen-staaten/

11Siehe dazu unser Text Das Weltbild von Ken Jebsen. https://gegen-kapital-und-nation.org/das-weltbild-von-ken-jebsen/

12https://www.dwenteignen.de/2022/01/volksentscheid-nicht-in-geisel-haft-nehmen/ eingesehen am 5.1.2023

13Diese Art der Unzufriedenheit lässt sich nicht zu einer Absage radikalisieren, indem man an sie anknüpft. Sie ist grundsätzlich konform gegenüber den kapitalistischen Verhältnissen. Etwas ganz anderes ist es dagegen, die Verhältnisse an materiellen Bedürfnissen zu messen und darauf zu kommen, dass sie nicht für ein entspanntes Leben taugen. Das beinhaltet allerdings eine Kritik der Leute mit ihren Vorstellungen, wozu Demokratie und Regierungen da wären.

14https://bb.mehr-demokratie.de/presse/pm-ganzer-text/volksentscheid-jetzt-buergerwillen-umsetzen/ eingesehen am 4.1.2023