31.10.1997 PDF

Die Rache des ZK

Vom Durchfall in den Köpfen vieler Kritiker des "realen Sozialismus"

In der Erklärung des unrühmlichen Abgangs von Krenz und Co. steht insbesondere bei Linken an vorderster Stelle, daß der Realsozialismus unter ziemlich miesen Voraussetzungen starten mußte. Das ist in der Tat nicht zu leugnen. Die beste Voraussetzung für eine kommunistische Revolution wäre ein schon weltweit durchgesetzter Kommunismus, dann gab's nämlich keine Gegenwehr und die Massen wären auch schon aufgeklärt. Allerdings brauchte es dann auch keine Revolution mehr. Oder anders herum: Es liegt geradezu im Begriff der Revolution, daß sie unter mehr oder weniger schlechten Bedingungen abläuft. Diese Bedingungen dürfen deshalb nicht übersehen werden, sind aber auch nicht als Entschuldigung heranzuziehen: Zu fragen ist, ob mit den historischen Widernissen wenigstens vernünftig umgegangen wurde.


Die Frage wird in der Regel mit "Nein!" beantwortet, und gestritten wird höchstens darum, ob es mehr an dem "Effizienzmangel in der Wirtschaft" oder an dem "Mangel an Demokratie" gelegen hat. Nehmen wir an, die DDR war eine Diktatur und das "Volk" wollte nicht wie es sollte. Warum wollte es nicht? Weil es nicht darüber abstimmen durfte. Und was hätten die Leute anders gemacht, wenn sie hätten abstimmen dürfen? Abstimmungen eingeführt? So ein Formalismus lehrt viel über Gesinnung und wenig über Realsozialismus.

Das soll nicht heißen, daß es einem Kommunismus nicht gut anstünde, die Leute sich gegenseitig als mit Willen begabten Zweck der ganzen Veranstaltung behandeln und dementsprechend auch über sich selbst entscheiden zu lassen. Das ist aber nur dann eine Kritik, wenn man benennen kann, was aufgrund dieses sogenannten Demokratiedefizits falsch gelaufen ist, was besser hätte gemacht werden sollen - und am besten noch, warum es nicht besser gemacht wurde. Und selbst wenn man das hinbekommt, ist das noch keine Erklärung dafür, warum der Realsozialismus zusammengebrochen ist - daß eine Staatsgewalt sich auflöst, nur weil sie nicht auf Vernunft gegründet ist, kann man getrost ausschließen.

Nun wird häufig gesagt, der Realsozialismus habe aufgrund seiner undemokratischen Verfaßtheit nicht auf "gesellschaftliche Problemlagen" reagieren können und sei daran zugrundegegangen. Diese "Problemlagen" sind dabei schon unterstellt und bedürfen einer eigenen Erklärung. Zweierlei kann damit gemeint sein. Entweder (1.) heißt "Problem" hier, daß die Bevölkerung ihre Zwecke nicht realisieren konnte und irgendwann, böse geworden, den Dienst verweigerte. Oder es ist gemeint (2.), daß die Zwecke der Herrschaft irgendwann nicht mehr zu realisieren waren (welche Bürgerliche meist als "Anforderungen moderner Industriegesellschaften" bezeichnen).

Es mag durchaus stimmen, daß die Insassen der DDR sich größere Autos, kürzere Arbeitszeiten, mehr Mitbestimmung und vielleicht auch noch Mallorca-Urlaube gewünscht haben. Und diese Wünsche sind legitim. Worin unterscheidet sich die Nichterfüllung solcher Wünsche von der gleichen Nichterfüllung im goldenen Westen, der mit unerfüllten Wünschen seiner Staatsvölker prima leben kann? In nichts, abgesehen davon, daß im Kapitalismus allgemein akzeptiert ist, daß nur zahlungskräftige Bedürfnisse Bedürfnisse sind und man sich eine mangelnde Zahlungskraft selbst zuzuschreiben hat (oder höchstens seinem Chef). In der DDR war demgegenüber der Staat für die "Versorgung" seiner Bürger zuständig und mit den naturgemäß maßlosen Konsumwünschen konfrontiert. Waren die Brüder und Schwestern in der BRD erstmal als Maßstabgeber akzeptiert, dann führten die Unterschiede zum Konsumniveau des Westens so recht geradlinig zum Stellen der Systemfrage.

Warum aber - und das ist schon der zweite Punkt - wurde die Produktivkraft nicht so entwickelt, daß es für ZK-Datschen, NVA-Panzer und außerdem noch für eine pralle Auslage in den Geschäften reichte? In der Regel ist als Erklärung schnell parat, daß es in der "überzentralisierten" Planwirtschaft an "Marktelementen" gefehlt habe - und es ohne Markt halt keine Effektivität geben könne.

Man kann in jedem Ökonomie-Lehrbuch der DDR lesen, daß im Sozialismus das Wertgesetz "angewendet werden sollte und der Markt "Bestandteil der planmäßigen Leitung der sozialistischen Volkswirtschaft" Das Kriterium, mit dem Preise festgesetzt wurden, v ob diese Preise dem "Wert" der "Waren" entsprach oder nicht (das gilt für Industrieabgabepreise, nicht Konsumentenpreise). Marx, auf den sich die SED affirmativ bezog, hat im 'Kapital' dargelegt, daß "die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukt worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur den daraus entspringenden dinglichen Beziehung absolut nichts zu schaffen" hat. "Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt". Von einer Verwertung des Werts ist zu sprechen nur in kapitalistisch produzierenden Gesellschaften. Und konstitutiv für solche Gesellschaften sind das Privateigentum, die Produktion für den Markt und der Warencharakter der Arbeitskraft, Bedingungen, die im Realsozialismus nicht gegeben waren. Der "Markt" im Sozialismus hatte z. B. entscheidenden Nachteil, daß er den Produzenten n mit dem ökonomischen Exitus drohte - das aber ist im Kapitalismus sein "effizienzfördernder" Hebel.

Die realsozialistischen Planer waren in ihrem Vers Kapitalismus nachzustellen, ebenso bemüht wie erfolglos. Gerade ihre sozialistischen Kritiker verweisen daher begeistert auf den russischen Ökonomen Liberman, der in den frühen 60er Jahren den Abbau sogenannten "administrativer Elemente" zugunsten "ökonomischer Mechanismen" propagiert hat, und damit im Neuen Ökonomische System (NÖS) Ulbrichts zumindest offiziell zu Ehren kam. Hier, so der Tenor, habe man den Super-Sozialismus: dezentral und effizient.

Das NÖS wurde 1963 nach dem 6. Parteitag der eingeführt. Sein Kern war ein sogenanntes "System ökonomischer Hebel", worunter vor allem Gewinn, Kredit, Preise und Prämien verstanden wurden, mit denen eine "wirtschaftliche Rechnungsführung" erreicht werden sollte. Im Mittelpunkt standen dabei die "materielle Interessiertheit" des Arbeiters (größere Lohndifferenzierung), vor allem aber der Betriebsleitungen. Von denen wurde erwartet, sich entsprechend dem simulierten Markt zu verhalten. Planproduktionsziele wurden nur noch in wenigen Fällen als Mengenangabe formuliert, sondern in der Regel als Kennziffer "Warenproduktion", eine Vorgabe, die auf den "Wert" der Güter abzielte. In den meisten Branchen erhielten die Kombinate mehr Freiraum in der "Preis"-Festsetzung, während zugleich zentral der Aufbau "zukunftsträchiger Industrien forciert wurde. Entwickelt wurde das NÖS hauptsächlich von Erich Apel, von dem der DDR-Forscher Staritz den schönen Satz überliefert hat, "politisches Bewußtsein mißt sich am Produktionsausstoß".

Ende der 60er Jahre stellten sich in der DDR Versorgungslücken insbesondere im Konsumgüterbereich ein, "gewinnträchtige' Branchen entwickelten sich, die übrigen (Wohnungsbau!) wurden vernachlässigt. Es setzten Teuerungen ein, weil die Kombinate die noch bestehenden Preisbindungen mit Scheinverbesserungen zu umgehen verstanden (Daß man Gebrauchswertverbesserungen nicht "wertmäßig" messen kann, haben die durchaus gewußt). Aufgrund von Abstimmungsschwierigkeiten von "marktmäßig" wirtschaftenden Zulieferbetrieben vor allem im Produktionsmittelsektor und zentral geplanten Endfertigungsstätten schien eine auch nur mittelfristige Wirtschaftsplanung nicht mehr lange möglich zu sein. Es war so nicht nut die SED-Herrschaft infrage gestellt, sondern (ähnlich wie schon vierzig Jahre vorher in der SU) der nichtkapitalistische Charakter der Ökonomie. Die Neuerungen des NÖS wurden 1967 großteils zurückgenommen, wogegen unter der Voraussetzung, daß man Kommunismus haben will, wenig zu sagen ist. Bloß war die gewählte Alternative auch nicht das Gelbe.

Das Wertgesetz wollten sie weiterhin anwenden und drückten damit die unerschütterliche Überzeugung aus, selbst die Befreiung sei noch unter Gesetzmäßigkeiten zu fassen. Eine irre Haltung, zu glauben, man müsse nur abwarten und gleichzeitig sicher zu sein, die eigene Legitimation gerade aus der Beherrschbarkeit der historischen Gesetze zu ziehen.
Die Übernahme von sogenannten "Kategorien" wie Preis, Wert und Gewinn als konstituierende Größen der Ökonomie des realen Sozialismus erfolgte unter einem Anpassungsdruck, der den Planenden als eine Reihe von ökonomischen "Schwierigkeiten" entgegentrat. Dieser Anpassungsdruck resultierte aus der ökonomischen, letztlich auch militärischen Bedrohung durch den kapitalistischen Westen. Es handelte sich dabei nicht nur um eine militärische Bedrohung: Um Konsum und Produktion trotz der schlechten Bedingungen nicht weit hinter das Niveau des Westens zurückfallen zu lassen, wurden nach dem Ende des NÖS verstärkt Produktionsmittel und Konsumgüter aus dem kapitalistischen Ausland gegen Devisen eingekauft. Das wirkte sich verheerend aus. Zu Beginn der achtziger Jahre schien der Zeitpunkt nahe, an dem die DDR nicht einmal die Zinsen für ihre Devisenschulden würde zahlen können - und damit auch der Zeitpunkt, von dem ab sie nicht mehr als formal gleichberechtigter "Handelspartner" dem Westen würde gegenübertreten können. Und gleichberechtigte Staatenlenker wollten Honecker und Konsorten auf jeden Fall sein. Diese "Schuldenkrise" wurde gemeistert durch verstärkten Export "arbeitsintensiver" Güter gegen Devisen - und das wirkte sich ebenfalls verheerend aus: Sowohl die Investitionen in Produktionsmittel als auch der Konsum der Bevölkerung mußten dafür eingeschränkt werden, was weder der Produktivität noch der Akzeptanz der SED-Herrschaft in der Bevölkerung gutgetan hat.

Auf Westimporte zu verzichten, hätte sich allerdings auch verheerend ausgewirkt. Insbesondere in der DDR wurde das Konsumniveau an jenem des Westens gemessen. Das lag nicht nut daran, daß die Bevölkerung dort nur zu geringeren Teilen aus Kommunisten bestanden hat (woran die regierenden Leninisten nicht ganz unschuldig waren). Zu verlangen, daß die Leute, nur weil sie per Definition in einer befreiten Gesellschaft leben, ihr Leben lang nur Schwarzbrot und Buttermilch zu sich nehmen, um dem Sozialismus Siege an der Produktionsfront zu ermöglichen, ist Zynismus.

Dieses Dilemma zu sehen heißt nicht, den Realsozialimus in der DDR schon 1945 (oder 1917?) gescheitert zu sehen. Solange es eine Produktion erlaubt, die bestehenden Verhältnisse auch nur zu reproduzieren, gibt es keinen ihr immanenten Grund, warum mit ihr kein Staat zu machen sein sollte, und auch der Realsozialismus mußte nicht zusammenbrechen. Die Realsozialisten wollten mit dem Kapitalismus auf dessen stärkstem Feld konkurrieren, der Produktion von akkumulierbarem Mehrwert, letztlich von avanciertesten Produktionsmitteln, und das bedeutete, dessen Effizienzkriterien zu übernehmen (auch dem 'Scheitern' der Ökonomie ist dieser Maßstab zugrundegelegt). Die Entscheidung, das zu versuchen, mag falsch gewesen sein, sie kann aber immerhin beanspruchen, einen möglichen Weg aus den eingangs erwähnten widrigen Umständen eingeschlagen zu haben. Zu kritisieren ist vielmehr die Bewußtlosigkeit, mit der die Realsozialisten diesen Weg eingeschlagen haben, das blinde Vertrauen auf historische Gesetze und die freie Entfaltung der "Produktivkräfte" im Sozialismus, die Fixierung auf Staat und Volk. Sie haben die Marxsche Theorie nach Kräften zu einer Herrschaftsrethorik heruntergebracht, die nicht mehr verstanden, sondern nur gebetsmühlenartig heruntergeleiert werden konnte, und haben auf dieser Grundlage eine verquaste Wirtschaftspolitik veranstaltet. Wie hier äußerer Druck und theoretische Fehler Hand in Hand gingen, ist en detail noch zu untersuchen.

Literatur:
Autorenkollektiv, Die politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR. Berlin (DDR) 1975.
Karl Marx, Das Kapital (Bd.l). Berlin (DDR) 1967.
Dietrich Staritz, Geschichte der DDR. Frankf./Main, Frankfurt 1985 (stw).


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