04.05.2002 PDF

Der Protest gegen Studiengebühren - im Interesse des Allgemeinwohls?

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Studenten und solche, die es mal werden wollen, demonstrieren gegen die geplante Einführung von Studiengebühren in Niedersachsen. Zunächst sollen 100,- pro Semester erhoben werden, die das Etikett 'Einschreibgebühren' bekommen haben, damit nicht der Anschein entsteht, die Studenten sollten ihr Studium bezahlen.(1)

Inzwischen ist allgemein bekannt, dass die gesammelten Gebühren zur Konsolidierung des Landeshaushalts dienen sollen, und manche Studenten regen sich darüber auf, dass diese Gelder dadurch 'zweckentfremdet' werden. Sie wären grundsätzlich damit einverstanden, etwas zu zahlen, wenn sie auch etwas davon hätten, z.B. mehr Bücher in den Bibliotheken, mehr und größere Seminarräume und Vorlesungssäle usw. Das verbesserte ihre Ausbildungsbedingungen, und auf eine gute Ausbildung sind Studenten angewiesen, um nach ihrem Studium für ihren 'Arbeitgeber' brauchbar zu sein und sich das nötige Geld zum Lebensunterhalt verdienen zu können.

Andere Studenten sehen gar nicht ein, warum sie etwas dafür zahlen sollen, dass sie ausgebildet werden, denn schließlich sind sie ja später als gut ausgebildete Jugend das künftige 'Humankapital' der Nation, und um so brauchbarer für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts 'D', je schneller und je mehr sie studieren können. Das aber wird ihnen verwehrt, wenn sie höhere Semestergebühren zahlen müssen. Einige arbeiten ohnehin zwecks Studienfinanzierung schon so viel, dass sie weitere 100,- gar nicht mehr aus sich herauspressen lassen können. Der Rest wäre durch mehr Lohnarbeit zwar zahlungsfähig, hätte dann aber weniger Zeit und Kraft, schnell im Studium voranzukommen. Weil also für viele Studenten die Ausbildung erschwert würde, und weil der Staat doch eine gut ausgebildete Jugend braucht, sei "die Einführung von Studiengebühren immer auch ein bildungspolitischer Offenbarungseid"(2), sagen u.a. die Jusos. Das 'Allgemeinwohl' erfordere, das demonstrieren die Betroffenen nun schon seit Wochen der bürgerlichen Öffentlichkeit, dass 'Bildung für alle' ermöglicht werde, und die gebührenwütigen Länderregierungen zögen sich so, aus nicht näher bekannten Gründen, aus ihrer Verantwortung für das Wohl der Nation, insbesondere, wenn bald nur noch Kinder wohlhabender Eltern studieren könnten.

Stimmt das denn? Ist es wirklich ein Fehler einer Regierung, wenn sie einigen Studierwilligen die akademische Ausbildung verwehrt, sie für den zahlungsfähigen Rest verteuert und dadurch - nützlicher Nebeneffekt - die eigene Kasse aufbessert? Oder entspricht das nicht gerade dem Zweck staatlicher Bildungspolitik?


Das Ausbildungssystem, das der Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft organisiert, hat die Aufgabe, gute Staatsbürger zu erziehen und genügend unterschiedlich qualifizierte Arbeitskraftbesitzer zu produzieren, die für die Unternehmen als Profitproduzenten und für die staatliche Herrschaft als Exekutivpersonal (alle Sorten von Beamten) geeignet sind. Wie viele Leute ausgebildet werden müssen, hängt von der wechselnden Nachfrage nach Arbeitskraft auf dem Markt ab. Durch die Gliederung des Ausbildungssystems in Elementar-, höhere Schulen und Universitäten und den in diesen Institutionen geltenden Aussiebmechanismus - Leistungsbeurteilung durch Noten; Schulabschlüsse als Eintrittskarte in die nächst höhere Stufe - wird ständig sortiert, wer für welche Berufe geeignet ist. Mit dem jeweiligen Qualifikationsnachweis in der Tasche dürfen die Abgänger der unterschiedlichen Ausbildungsfabriken sich darum bewerben, Geld durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu bekommen und diese Arbeitskraft für die Produktion von Profit anwenden zu lassen, der von vornherein nicht ihnen gehört. Sie sind dazu gezwungen, sich zum Mittel für die Profitproduktion zu machen, um nicht mittellos zu bleiben, weil sie selbst nicht über die gegenständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion, über Produktionsmittel, verfügen. Diejenigen, welche die 'allgemeine Hochschulreife' bescheinigt bekommen, dürfen studieren und dadurch die Qualifikation erwerben, die sie benötigen, um einen der besser bezahlten (und womöglich interessanteren) wissenschaftlich-technischen Jobs zu ergattern. An dem Faktum, dass auch sie ausgebeutet werden, ändert die bessere Bezahlung allerdings nichts.

'Humankapital' sind alle Menschen, sofern sie als Lohnarbeiter zur Profitproduktion benutzt werden. Wer nicht gebraucht wird, fungiert auch nicht als lebendiges Kapital, sondern ist dies nur potentiell - wie z.B. die vielen arbeitslosen Akademiker heute. Da es offenbar schon genügend Akademiker gibt, hat der Staat kein Interesse daran, noch mehr davon teuer zu produzieren.

Dem Staat geht es darum, die Bedingungen für die nationale Profitmacherei zu verbessern, damit das heimische Kapital in der internationalen Konkurrenz besser dasteht, und damit das eigene Territorium als attraktive Anlagesphäre fürs ausländische Kapital erscheint (Standortwettbewerb). Die eigene lohnabhängige Bevölkerung ist dazu bloßes Mittel, weshalb sie auch in brauchbare und unbrauchbare Volksgenossen sortiert wird. Die Herstellung attraktiver Bedingungen für die Kapitalakkumulation kostet den Staat etwas - auch das Ausbildungssystem, das er organisiert, um die 'lebendigen Faktoren' der Produktion von Kapital bereitzustellen. Diese generell notwendigen Kosten werden von Zeit zu Zeit danach geprüft, ob sie denn auch den bezweckten Nutzen hervorbringen. Und das ist gegenwärtig nicht der Fall: es herrscht Überproduktion akademisch qualifizierter Arbeitskraft. Die Kosten sind im Vergleich zum gegenwärtigen Nutzen zu hoch, deshalb wird an der Ausbildung insgesamt gespart, und deshalb ist es ganz im Sinne des Erfinders der Studiengebühren, wenn einige Leute das Eintrittsgeld ins Studium nicht mehr bezahlen können, während andere mit eben diesem Geld die Staatskasse aufbessern helfen.

Es besteht also ein Interessengegensatz: Während der Staat dafür sorgt, dass immer genügend, aber nicht allzu viel wissenschaftlich-technische Arbeitskraft als Mittel für die nationale Reichtumsproduktion vorhanden ist, wobei er auf bestimmte Einzelne immer verzichten kann, haben die einzelnen Schüler und Studenten ein Interesse daran, dass gerade sie akademisch ausgebildet werden. Der Staat stellt mit seiner Maßnahme fest, dass die Nation die überschüssigen Akademiker als solche nicht braucht. Wenn Studenten, die um ihre Berufsperspektive fürchten, nun in der Öffentlichkeit auftreten mit dem Appell an eben diesen Staat, er solle seiner 'Verantwortung' für das 'Allgemeinwohl' nachkommen, indem er sie als vermeintlichen Teil dieses Wohls fördert, dann ist das ein sachlicher Fehler. Dem Staat geht es um das Wohl des Reichtums der Nation, das ist der wahre Inhalt des 'Allgemeinwohls' - und nicht das Wohl aller Einzelnen. Um die schert er sich nur, sofern sie Reichtum produzieren helfen und nichts kosten!

Trotzdem kann es etwas nützen, diesen Appell an die Öffentlichkeit zu richten, die dann eventuell entsprechenden Druck auf die Politiker ausübt, den Studenten ihr partikulares Interesse, missverstanden als Beitrag zum allgemeinen Wohl, zu erfüllen. Das klappt aber nur, wenn die verantwortlichen Politiker den Druck der Öffentlichkeit fürchten müssen, z.B. während eines Wahlkampfes. Die streikenden Studenten aus dem WS 1997/98 haben der SPD abringen können, dass sie einen Verzicht auf Studiengebühren erklärte, obwohl die Pläne dazu bereits z.B. in der Schublade der damaligen Ministerin Schuchardt lagen. Damals war Schröder Wahlkämpfer, heute ist er Kanzler. Es ist daher kein Zufall, wenn in seinem Heimatland, nach der gewonnenen Bundestagswahl, Studiengebühren eingeführt werden sollen. Was schert die Regierungen in Hannover und Bonn, dass Studenten demonstrieren, wenn sie inzwischen dem großen Rest der Bevölkerung klarmachen können, dass es noch wichtigere Dinge gibt als Studienplätzchen? Der Allgemeinwohlappell, der ohnehin Heuchelei ist, muss daher im Sande verlaufen.

Da es zur Zeit nichts bringt, der Öffentlichkeit vorzulügen, jeder Student sei Teil des Allgemeinwohls, wäre die einzig richtige Art des Widerstands, einfach zu sagen: wir zahlen nicht, basta! - und den Boykott der Zahlungen auch konsequent durchzuführen.

Wenn an der Forderung Bildung für alle! etwas richtig ist, dann dies: die Bildung über die Funktionsweise der Gesellschaft, in welcher die einzelnen Menschen bloßes Mittel für die Kapitalverwertung und die Aufrechterhaltung des Herrschaftsapparates sind, findet an der Universität nicht statt. Der Staat fördert schließlich nicht die Bedingungen seiner eigenen Abschaffung zu Gunsten einer befreiten Gesellschaft. Diese Bildung müssen wir schon selber besorgen! - Solange die Erziehungsinstitutionen Instrumente der Selektion von lebendigen Mitteln des Kapitals und der Herrschaft sind, kann es keine allgemeine Bildung geben. Erst in einer befreiten Gesellschaft, in der die Menschen ihre Verhältnisse vernünftig einrichten, so dass die Bedürfnisse der Menschen den Zweck der Produktion ausmachen und die freie Entwicklung der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Einzelnen gemeinsames Ziel aller ist, wäre die allgemeine Bildung verwirklicht. Das erfordert die Abschaffung von Kapital und Staat!

(1) Aus 100,– könnten, wenn es nach dem Willen einiger Bildungspolitiker ginge, recht bald sogar 2000,– werden, wie man weiß.
(2) Trotzdem, Fanzine der Juso-Hochschulgruppe Hannover, Sonderaus-gabe ‘Studiengebühren’, Nov. 1998, S. 2.


Dieser Text wurde als Flugblatt während der Proteste gegen die Einführung von Studiengebühren in Niedersachsen im WS 1998/99 verteilt.