z.B. Ceuta und Melilla 2005 - Europa mordet nicht nur im StillenEin Text von: assoziation gegen kapital und nation
Seit Mitte September 2005 sieht man von der Grenze der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu Marokko immer wieder die gleichen Bilder: "Gruppen von mehreren hundert Menschen stürmen an verschiedenen Orten gleichzeitig die Grenzbefestigungen und überfordern damit die Wachposten, obwohl die längst gewarnt sind. Ein Teil kommt durch, einer anderer wird vertrieben wie Vieh. Wer überlebt, der versucht es immer wieder." (Süddeutsche Zeitung, 30.9.05) Sie versuchen in die Festung Europa einzudringen, oftmals nach jahrelanger, beschwerlicher Reise innerhalb Afrikas nach Marokko. Ende September 2005 starben fünf Menschen, Anfang Oktober 2005 ist wiederum von sechs Toten zu berichten, erschossen von den Grenzposten oder verblutet an den Stacheldrahtzäunen. Die, die es nicht schaffen, werden nun auf marokkanischer Seite verhaftet und oftmals verletzt ohne Essen und Trinken in der Wüste ausgesetzt. Die Berliner Zeitung vom 11. Oktober 2005 berichtet davon, dass derzeit 400 Flüchtlinge zu verdursten drohen.
Was sonst nur kurz und nur bei besonderem Nachrichtenwert - abenteuerliche Fluchtgefährte oder Größe der Gruppe von Flüchtlingen- in die Zeitungen gelangt, hat nun aufgrund des Sensationswerts der neuen Taktik der MigrantInnen einen längeren Auftritt in den Medien: der Terror des europäischen Grenzregimes. Die antirassistische Nichtregierungsorganisation UNITED hat in der Zeit von 1993-2004 mehr als 4500 Tote an den europäischen Außengrenzen dokumentiert. Die wirkliche Zahl dürfte weit höher liegen, da "Ärzte ohne Grenzen" alleine für die spanisch-marokkanische Grenze von 6300 Toten in den letzten zehn Jahren spricht. Nur, es interessiert wenige. Und die, die es interessiert und die vorübergehend eine humanitäre Träne im Auge spüren, stören sich dann an der eskalierten Situation - wenn mal die "Ausländerpolitik" nicht ihre normalen bürokratischen Bahnen geht. Ungern sieht man die Bilder von blutdurchtränkter Kleidung, die die Verklärung der eigenen Herrschaft zur offenen Gesellschaft zu widerlegen drohen.(1) Aber das Gegenmittel ist auch sofort bei der Hand: Der Verweis auf die "Schleuserkriminalität", die das eigentlich Böse sei, lenkt schnell von den eigentlichen Gründen des Leidens der Flüchtlinge ab. Obwohl(2) doch klar ist, dass ohne den privatwirtschaftlichen Einsatz des Schleusergewerbes kein Mensch ohne den richtigen Pass mehr europäischen Boden betreten könnte - also eine Chance erhielte, in den engen Grenzen dieser Gesellschaft wenigstens eine kleine Verbesserung seiner Lebenssituation zu erreichen. Andere stören sich hingegen daran, dass die Grenzanlagen der Verzweiflung der Flüchtlinge nicht gewachsen sind und setzen sich für effektivere Todesstreifen und den Einsatz des Militärs gegen Flüchtlinge ein.
Die MigrantInnen, die es trotzdem geschafft haben und sich hierzulande illegal über Wasser halten, werden gnadenlos gejagt: Ende September 2005 verletzte sich ein Mann in Berlin-Reinickendorf schwer, als er von der Polizei verfolgt, aus Panik aus dem vierten Stock sprang. Täglich geschieht irgendwo in Europa Vergleichbares. Dieses Flugblatt will Gründe benennen, warum der Alltag hier (und an den Grenzen von "hier") nicht zufällig so aussieht.
In Zeiten des Ost-West-Konfliktes hatte die Migrationspolitik der BRD vorrangig den Zweck, dem anderen Herrschaftsbereich dessen Rechtmäßigkeit streitig zu machen. Die BRD bot jedem Bürger des Ostblocks die Aufnahme an. Jeder Flüchtling war Kronzeuge der Unmenschlichkeit des anderen Staatenblocks und der Freundlichkeit des Kapitalismus, während für Menschen aus mit der BRD verbündeten Staaten Folter kein Asylgrund darstellte. Praktischerweise sorgte die Abwanderung von Menschen aus der DDR, der man noch mal stärker jede Herrschaftserlaubnis über ihre Deutschen absprach, für recht große ökonomische Probleme im leider auch nur "anderen Deutschland".
Wer DDR-BürgerInnen zur illegalen Ausreise verhalf, wurde nicht wie heute als böser Schleuser gleich neben den Kinderschänder ins bürgerliche Gruselkabinett gestellt, sondern als Fluchthelfer heroisiert. Und jede Erschießung am Eisernen Vorhang war ein Skandal, während die Opfer auf den Todesstreifen am Rande der EU als notwendiges Übel ignoriert werden.
Gleichzeitig warb die BRD massiv Arbeitskräfte aus verschiedenen Ländern als kurzzeitige Arbeiterschaft an. Dieses Element der ökonomisch begründeten Aufnahme hat heute die Vorherrschaft in der Migrationspolitik gewonnen, wenn auch das Moment des unfreundlichen Staatsaktes nicht gänzlich verdrängt ist und sein Nischendasein im "humanitären Asylrecht" fristet. Doch dazu später. Nicht zufällig wurde das deutsche Asylrecht 1993, als es nach Anschluss der DDR seine Funktion verloren hatte, unter lautstarker und lynchmordender Unterstützung des deutschen Mobs fast gänzlich abgeschafft.
Die Migrationspolitik ist nunmehr in der EU vergemeinschaftet, die unter dem Schlagwort des "Migrationsmanagements" Einwanderung in die EU und Wanderungsbewegungen außerhalb der EU zu steuern versucht. Als Großmacht, die im internationalen Gewaltpoker weit vorne mitspielt und gerade die Herrschaftsbereiche der ersten Weltordnungsmacht USA beständig herausfordert, hat sie ihre unschönen Gründe, Wanderungsbewegungen als ihr ureigenstes Sicherheitsproblem wahrzunehmen - was geradezu nach ihrer ordnenden Hand verlangt. Von der Friedensmacht, die weiche Machtpolitik betreibe, wie so mancher europäische Nationalist die ihn beherrschende Herrschaft verklärt, ist da dann auch so recht nichts zu spüren.
Die EU-Staaten entscheiden noch auf nationaler Ebene, wer reindarf und wer draußen bleibt, die Kriterien sind jedoch überall dieselben: Nur Menschen, die nützlich sind, kommen rein. Der Nutzen berechnet sich aus einem kurzfristigen Bedarf an bestimmten Berufsgruppen, deren Bereitstellung aufgrund einer falsch kalkulierten Ausbildungsmenge inländisch nicht gewährleistet werden kann. Der Staat hat so die Luxusposition, Wunschlisten diktieren zu können, um die benötigten MigrantInnen dann auf Zeit einzuladen. Nachdem vor vier Jahren in Deutschland zwecks Anwerbung von Informatikern die Green-Card-Regelung geschaffen wurde, steht derzeit nichts auf dem Wunschzettel. Die kapitalistische Gesellschaft braucht zwar nicht nur hochqualifizierte Arbeiter, sondern gerade auch die einfachen Tagelöhner. Aber auch dieses Reservoir ist in Deutschland derzeit voll ausgestattet. Und das Heer der Arbeitslosen, die den Lohn niedrig halten, indem sie jeden sofort ersetzbar machen, ist ebenfalls voll besetzt. Für weitere MigrantInnen gibt es derzeit keine Verwendung. Vor gut vierzig Jahren waren hingegen unqualifizierte ArbeiterInnen gefragt, und dass diese nach Ihrem Gebrauch nicht einfach wieder gegangen sind wie geplant, ärgert noch heute den Konservativen.
Seine Grenzen überwacht der Staat gewissenhaft. Illegale Einwanderung stellt seine Souveränität in Aufenthalts- und Einbürgerungsdingen in Frage und wird daher prinzipiell verfolgt. Da der Staat in der Luxusposition ist, selber auswählen zu können, wen er braucht, spart er sich jede Sortierung der illegal Eingewanderten in Informatiker, Arzt oder Bauer und behandelt alle gleich mies. Dass er aber entscheidet, wer gebraucht wird, entspringt wiederum der widerlichen Aufgabe, die er hat: die Bedingungen für die Kapitalanhäufung auf
seinem Gebiet zu schaffen und zu verbessern; auch genannt: Standortpolitik.
Der Staat sortiert, und erst dadurch werden eben aus Menschen, aus Xaver, Patrick, Su-Yong oder Juana, In- oder AusländerInnen.(3) Diese Sortierung ist hierbei die Markierung der Menschen, die er für seine Zwecke in Beschlag nimmt und denen er unbedingte Loyalität gegenüber dem Staatswesen abverlangt. Der Begriff der "Repatriierungsmaßnahme", der im Zuge der Verhandlungen von Marokko und Spanien über die "Deportationen" (FAZ, 7.10.05) von Menschen, die es in die Exklaven geschafft haben, offizielle Regierungssprache wurde, spricht genau hiervon. Abschiebungen sind Rückgabe von Menschen an ihr Vaterland, an diejenige Macht also, die diese als ihr zu benutzendes Objekt betrachtet. Der Loyalitätsgedanke, also das Bedenken, ob man Ausländern über den Weg trauen kann, entspringt einem rassistischen Volksgedanken: Es übersteigt offenbar die Vorstellungskraft eines deutschen Staatsbürgers, dass sich Menschen nicht fest und lebenslang einer Herrschaft verschreiben wollen. Die Sorge, dass sich Menschen eher noch dem Ursprungsland zugehörig fühlen, kann zwar im von Zwängen bestimmten Alltag egal sein - und auch wenn der Einzelne für die türkische Auswahl beim Fußball schreit, stört das nicht wirklich. Loyalitätsfragen sind jedoch in Extremsituationen wie z.B. Kriegen von Belang, auch die Fragen des Terrorismus werden darunter verhandelt.
Humanitas
Wenn auch Migrationspolitik heute vorrangig einer ökonomischen Kalkulation entspringt, ist die Funktion des Druckmittels gegenüber unliebsamen Staaten geblieben. Zwar hat sie nicht mehr die Relevanz wie in Zeiten des Kalten Krieges, aber schließlich gibt es immer noch ein Interesse daran, diversen fremden Regierungen mitzuteilen, dass sie in den Augen der EU mit ihren Untertanen nicht glimpflich umspringen - hierfür wird das Element der "humanitären Einwanderung" beibehalten, wenn auch auf lächerlichem Niveau.
Das soll zwar nicht heißen, dass die humanitären Gründe der Einwanderungspolitik bloße Täuschung seien, um den moralischen Schein zu wahren. Das Staatspersonal mag es tatsächlich als Akt der Nächstenliebe ansehen, wenn es Menschen das Recht auf Asyl gewährt. Und das Diplomatische und das Moralische fallen hier ja auch direkt zusammen. Aber die Bedingungen, unter denen man dieses Recht wahrnehmen kann, zeigen schon, was für ein merkwürdiger Begriff von Humanität in dieser Gesellschaft gängig ist: Nur politische Verfolgung wird als Fluchtgrund anerkannt; sogenannte "Armutsflüchtlinge" dagegen brauchen den Asylantrag gar nicht erst zu stellen. Die Menschenrechte, auf die das Asylrecht sich bezieht, gelten also nicht als verletzt, wenn Menschen materielles Elend leiden. Erst bei Diskriminierung aufgrund von politischer Einstellung, Geschlecht, Herkunft o.ä. liegt ein anerkannter Fluchtgrund vor. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass es nur einen fairen Wettbewerb braucht, damit jeder Mensch selbstverantwortlich sein Glück erstreben kann. Die Verlierer, die die Konkurrenz notwendig hervorbringt, sind dann selbst schuld - sie haben ihre Chance halt nicht richtig genutzt. Dies ist der ganze Inhalt der Humanität im Asylrecht: Nur das Elend, das durch Diskriminierung, also durch Abweichung vom fairen Wettbewerb zustande kommt, gilt als Menschenrechtsverletzung. Für das Elend aber, das der Wettbewerb selbst hervorbringt, sieht der Asyl gewährende Staat sich nicht zuständig.
Falsche Kritik an der Menschensortiererei
Wenn auch nicht nur konservative Medien so staatstragend sind, dass sie ihre Humanität schnell der Realität opfern, passiert es des öfteren im Gespräch mit denjenigen, die einfach nur das Gute für alle Menschen wollen, dass Verwirrung vorherrscht. Auf der einen Seite das Elend, dem man sich trotz jahrelanger Übung noch immer nicht ganz entziehen kann, auf der anderen Seite die Staatsnotwendigkeiten, über die hinaus zu denken man sich auch noch nie getraut hat. Aufgelöst wird dass dann im flehentlichen oder bestimmten Ausspruch, man könne doch nicht alle reinlassen. Irgendwie muss eben wider Willen auch der/die Linksliberale anerkennen, dass die Volkswirtschaft ein Problem hätte, wenn hier jeder reinkäme. Da weiß man gar nicht mehr, wie man sich als Gutmensch so verhalten soll. Soll man jetzt Ausländerfeind werden? Meist wird eher die Flucht in die Irrationalität oder in Ausreden gesucht: Nee, das Boot ist gar nicht voll - womit die bestimmten Zwecke dieser Gesellschaft einfach wegabstrahiert werden. Oder: Die wollen ja auch gar nicht alle rein - was zwar stimmt, aber wohl kaum eine Antwort auf auf diejenigen ist, die an der EU-Grenze scheitern. Es sind diese verflixten Scheinvernünftigkeiten kapitalistischer Totalität, an denen der bürgerliche Verstand leider viel zu selten verrückt wird - auf dass man endlich die Verrücktheit dieser Gesellschaft und ihrer Produktionsweise, die man sich leistet, beenden könnte. Warum stellt man sich nicht die Frage, was denn "voll" heißen soll und wer das Boot definiert. Stattdessen wird von linker Seite lieber behauptet, dass das "freie Fluten" (4) oder die "offenen Grenzen" eine sinnvolle Forderung sei, die man an den Staat stellen könne, abgesehen davon, dass offene Grenzen ein Widerspruch in sich selbst sind.(5) Oder aber man weiß nicht mehr weiter und lässt sich auf das Spiel ein, selber zu selektieren, wer rein darf, um neue, natürlich "emanzipativ hohe" Quoten aufzustellen.(6) Dabei akzeptiert man dann stillschweigend die Kriterien der Schweinerei, deren Resultate man eigentlich kritisieren wollte. Doch es gibt einen recht unschönen Grund, warum die Menschen in den Norden fliehen. Das Klima wird es wohl nicht sein. Sie versuchen aus dem Elend zu entkommen, das in den in der Weltmarktkonkurrenz abgehängten Teilen der Erde herrscht.(7) Und zwar in das nur relativ andere Elend der kapitalistischen Metropolen. Dieser Grund ist einer, der abgeschafft gehört.
Der Vorstellung, dass "man ja nicht alle aufnehmen könne" liegt außerdem die Ideologie zugrunde, dass Mangel irgendwie übergesellschaftlich sei. D.h. man stellt sich vor, dass es hier dann nicht mehr genug für alle gäbe, wenn alle kämen. Doch Hunger wird heute nicht deswegen gelitten, weil es nicht genügend Produktionsstätten für Lebensmittel gäbe, sondern weil es sich nicht lohnt, für Hungerleider Essen zu produzieren, obwohl es ohne weiteres möglich wäre. Hier werden lieber Fleischberge und Milchseen kultiviert, als dass ein Überangebot den Preis versaute. Und wenn man die überproduzierten Lebensmittel unter kapitalistischen Bedingungen einfach unentgeltlich den Hungernden zur Verfügung stellt, würde das die dortigen lokalen Märkte zerstören - besser lässt sich die Unvernunft einer Produktionsweise wohl nicht beschreiben.
Auch die Behauptung, es würde räumlich zu voll werden, ist falsch. Selbst wenn in einer Gesellschaft, in der der Hauptgrund für die Migration beseitigt wäre, alle Menschen auf einem recht unwirtlichen Flecken namens Europa leben wollten, wäre die heute alltägliche Situation so schnell nicht erreicht, dass Menschen zu zehnt in einem kleinen Zimmer hausen.(8) Auch Wohnungen fehlen nämlich nicht, weil es keinen Baustoff gäbe, sondern weil der Bau sich nicht rentiert.
Wenn gesagt wird, das Boot ist voll, sagen wir nur: Dann sollte man erstens moderne Landgewinnung betreiben und zweitens solche Boote, die voll werden können, aus dem Verkehr ziehen. Und um die alberne Metapher zu verlassen: Kapitalismus abschaffen. (9) Damit aus der Menschheit noch mal etwas Vernünftiges wird.
assoziation gegen kapital und nation
assoziation@junge-linke.de
Fußnoten
1 Dass man selbst diese kurze Aufregung über den Mord an den Grenzen bleiben lassen sollte, empfiehlt die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.10.05: "Wir werden uns an Vorgänge wie in Melilla gewöhnen müssen, an Deportationen, an tägliche Konflikte - und wir werden uns mehr mit den `Abgabeländern´ beschäftigen müssen."
2 Das "obwohl" gilt natürlich nicht für den offenen Rassisten, der bekundet, dass alles getan werden muss, damit die Anderen draußen bleiben. Das "obwohl" bezieht sich stattdessen auf den fast immer humanistisch argumentierenden Politiker oder normalen Staatsbürger, der die Grenzanlagen effektivieren will und das zum Dienst am Flüchtling erklärt. Denn schließlich wird dieser dann nicht mehr mit Hilfe von "skrupellosen Schleuserringen" versuchen, in Containern nach Europa zu kommen, sondern gleich an der Grenze entdeckt und von "freundlichen Grenzbeamten befreit" werden, die ihn dann zurückschicken. "Leider", mag da der eine oder die andere noch anmerken.
Die Vorstellung von den skrupellosen SchleuserInnen zielt hierbei auf die Kritik an Menschen, die aus der Not der Flüchtlinge ein Geschäft machen, und kritisiert nicht die Not als solche. Denn die SchleuserInnen verhalten sich nicht anders als jeder Verkäufer, der seine Ware nur abgibt, wenn er das dafür geforderte Geld erhält, und der sich gegenüber der Not seines Gegenübers taub stellen muss. Nur: Die Notsituation stellen die Staaten mit ihrem Grenzregime und der Stiftung von Armut auswärts her. Und schließlich unterbinden die Staaten die lebensgefährlichen Hilfestellungen von Schleusern durch noch schärfere Grenzbestimmungen nicht, sondern treiben den Preis in die Höhe und vergrößern die Wahrscheinlichkeit, dass die Schleuser ihre Kunden Kilometer vor der Küste über Bord schmeißen.
3 Und so ist die antirassistische Kritik in dem Slogan: "Jeder Mensch ist Ausländer, fast überall" gerade mal handzahm zu nennen, weil sie die Einteilung in In- und AusländerIn mitmacht, nur daraus lieber keine Abneigung entwickelt sehen will.
4 Die rassistische Sprache, die bei Flüchtlingen immer von Flut, Wellen, Strömen redet, sollte ohnehin vermieden werden.
5 Und eben auch zu Zeiten, als scheinbar "ungeregelte" Einwanderung in Staaten wie die USA, Australien, Kanada erwünscht war, resultierte dies aus einer Kalkulation heraus. Da hatten europäische Kolonialstaaten ein Interesse, dort Landsleute als personifizierten Anspruch auf das ganze Land vor Ort zu haben, um mit diesen dann schnellstmöglich eine Wirtschaft hochziehen zu können. Auch ungeregelte Einwanderung ist geregelt, nämlich in der Weise, dass sie auf bestimmte Zeit aufgrund bestimmter Zwecke beschlossen wird.
6 In einer von der Marktwirtschaft befreiten Gesellschaft würden diese Fragen jegliche Grundlage verlieren. Nur der kapitalistisch Sozialisierte oder geschichtlich Interessierte würde sie überhaupt noch verstehen.
7 Auf die lustige Idee zu fordern, dass auch diese Staaten in der Weltmarktkonkurrenz "faire Chancen" erhalten, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Für weiteres siehe: http://www.junge-linke.de/kapital_und_lohnarbeit/was_ist_globalisierung.html.
Bei der Frage der 3. Welt wird oftmals von der Verantwortlichkeit des kapitalistischen Nordens gesprochen und dabei der Unterschied von Staaten und Bürgern nicht bedacht. Auf der Ebene der "Verantwortlichkeit" der Staaten: Die reichen Industriestaaten haben die Armutsregionen der Welt mit dem IWF wirtschaftlich geöffnet und mit der Weltbank und Schuldenteilerlässen auf die Aufgabe festgenagelt, die Massen in ihrem Elend so zu betreuen, daß sie dahinsiechen ohne weiter lästig zu sein. Dies entsprang aber nicht einer Bösartigkeit des Nordens, sondern der Rolle, die die starken Staaten in der Konkurrenz haben. Das Elend liegt in einer Produktionsweise begründet, die als Maßstab nicht die Bedürfnisse der Menschen hat, in der es zwar wirtschaftlich Handelnde und ökonomisch stärkere und schwächere Staaten gibt, aber kein freies Handeln sowie keine "Unschuldigen". Auf der individuellen Ebene kann man noch viel weniger von Schuld sprechen: Die BürgerInnen des kapitalistischen Nordens sind nicht verantwortlich für das Elend im Süden, wie es oft behauptet wird und dann zumeist mit ekelhafter Luxuskritik à la "Wir konsumieren zuviel, dadurch hat der Mensch in Afrika nichts zu essen."
Jenseits des "Eine-Welt-Laden"-Diskurses gibt es aber noch die Vorstellung, das Elend in der 3. Welt läge in Bad Governance und Korruption der schwachen Staaten begründet, die auch nichts von der Weltmarktkonkurrenz wissen will.
8 Die Vorstellung, es würde zu eng, hat spannenderweise ihre größten Befürworter im wenig besiedelten Australien.
9 Vielleicht fragt sich der eine oder die andere, die das obige richtig findet, was man dagegen tun könnte. Macht Praxis: Seminare und Veranstaltungen organisieren, schreibt Flugblätter und macht Radio-Features, gründet Lesegruppen und Theoriezirkel. Denn um diese Gesellschaft abzuschaffen, muss man sie erst mal verstehen. Die vielen kreativen Möglichkeiten, Illegalisierte zu unterstützen, sollte man ebenfalls nutzen. Zwar ist das nur Symptomabfederung, aber das sagt nichts gegen die Wichtigkeit, es zu tun; alleine schon, wenn man unter diesen Verhältnissen Mensch bleiben will.
18.10.2005
PDF