05.09.2005 PDF

Skandal im Wahlbezirk

Der Fall Henry Nitzsche, oder: Was haben Demokraten gegen die NPD?

Eine politische Taktlosigkeit brachte im August ein eher unbedeutendens sächsisches CDU-Mitglied in die Schlagzeilen: Der Bundestagsabgeordnete Henry Nitzsche hatte sich den Slogan “Arbeit, Familie, Vaterland” als Wahlkampfmotto gewählt. So widerlich diese Parole ist - eine inhaltliche Abweichung von dem, was einem tagtäglich im aktuellen Wahlkampf geboten wird, ist es nicht: Die SPD hat “Vertrauen in Deutschland”, die FDP macht die Milchmädchenrechnung “Steuern runter, Arbeit rauf” und die CDU prophezeit: “Familie hat Zukunft”. Trotzdem ging nach Veröffentlichung von Nitzsches Motto ein Aufschrei durch alle großen Parteien, und auch aus den Reihen seiner eigenen Partei wurde Nitzsche gerügt. Was war es aber, was da bei Wolfgang Thierse, Angela Merkel usf. Anstoß erregte?


Die Forderung nach Arbeit kann es nicht sein, die nach Förderung der Familie auch nicht, denn beide gehören ins Standardrepertoire jeder demokratischen Partei. Unterschiede bestehen lediglich darin, wie sie durchgesetzt werden sollen: Die WASG/Linkspartei möchte doch wenigstens noch einen gesetzlichen Mindestlohn (dessen Höhe in der Debatte darüber immer weiter nach unten verschoben wird), die SPD will die Agenda 2010 weiter umsetzen; die Grünen sähen gern die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit Ehen, die CDU ist anderer Meinung - über solche Feinheiten streitet man sich im politischen Diskurs. Was aber nicht zur Debatte steht, ist, dass Arbeit und Familie an sich gefördert werden müssen.

Ähnlich, wenn auch mit leichten Unterschieden, steht es um das Vaterland: Dass Deutschland im internationalen Wettbewerb an die Spitze gehört, ist Teil der Allgemeinbildung demokratischer PolitikerInnen, und dass jeder Bürger und jede Bürgerin sich dieses Ziel zu eigen machen soll, sowieso. Doch in Deutschland sehen sich Demokraten bei der Ergebenheit an den Staat, dessen Gewalt sie unterworfen sind, noch immer mit einem gewichtigen Problem konfrontiert: So einen Nationalismus, wie ihn die Nazis damals ausübten, mit Ausschaltung des Parlaments, industriellem Massenmord und Vernichtungskrieg (den sie auch noch verloren haben), möchten sie nun doch nicht haben. Deswegen wird ein Begriff wie “Vaterland”, dem noch der Geruch des Nationalsozialismus anhaftet, im demokratischen Diskurs nur mit einer gewissen Verkrampftheit vorgebracht, die sich dann in einem “aber man muss das doch endlich auch mal wieder sagen dürfen!” entlädt - obgleich darüber, dass jeder einzelne sich für das Wohl des Staates einzusetzen hat, Konsens besteht. Bemerkenswerterweise war es jedoch auch nicht der Begriff des “Vaterlands”, über den sich entrüstet wurde, auch wenn verschiedene CDU-Politiker wie Roland Koch (“Wir sind eine Partei, für die das Thema Vaterlandsliebe etwas Selbstverständliches ist”) oder Kurt Biedenkopf (“Hier kommt eine gewisse Deformation des Denkens zum Ausdruck, die den nationalsozialistischen Missbrauch solcher Worte signalisiert”) meinten, Nitzsche vor einer real überhaupt nicht bestehenden Front gegen die Heimatsliebe verteidigen zu müssen.

Ziel der Kritik war vielmehr der Slogan als Ganzes. Welche Inhalte Nitzsche konkret vertritt, war für keineN seiner KritikerInnen ein Thema; was einzig zählte, war die Tatsache, dass “Arbeit, Familie, Vaterland” bereits Motto sowohl des französischen Vichy-Regimes, das im Zweiten Weltkrieg mit Deutschlands kollaboriert hatte, als auch des NPD-Bundesparteitags 2004 war. So meinte Dieter Wiefelspütz (SPD), innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, denn auch, “weniger die Begriffe ... aber die Zusammenstellung und der historische Bezug ist problematisch”, die stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP Cornelia Pieper mahnte: “Anliegen der demokratischen Parteien darf es nicht sein, die Slogans von Extremisten zu übernehmen, um damit auf Stimmenfang zu gehen”, und Nitzsches Parteikollege, der ehemalige sächsische Innenminister Heinz Eggert, brachte die Debatte auf den Punkt, als er die verwandten Begriffe selbst “nicht angreifbar” nannte, und seine Kritik auf ihren Dreiklang beschränkte: “Aber wenn es in der Geschichte schon einmal diesen Slogan gegeben hat, der bei anderen jetzt Ängste oder Verwirrung erzeugt, dann sollte man politisch großherzig und nicht kleinkariert sein.” Die gegebene praktische Konsequenz sei laut Eggert darum die Abänderung des Wahlkampfmottos, und aus den gegnerischen Parteien kamen die üblichen Rücktritts- und Abmahnungsforderungen gegen Nitzsche.

Dieser selbst entschuldigte sich derweil, er habe von der Verwendung des Slogans durch NPD und Marschall Petain nichts gewusst, sprach sich aber gegen eine Änderung aus, weil “dieses signalisieren würde, dass Demokraten diese Begriffe nicht verwenden dürfen ... “Wir dürfen die Themen Arbeit, Familie und Vaterland nicht den Extremisten überlassen.” Der Münchner Historiker Michael Wolfsohn verteidigte ihn mit dem hübschen Gleichnis: “Wenn es regnet und auch die NPD das feststellt, wird aus Regen kein Sonnenschein.” Und die somit in ihrem meteorologischen Können bestätigten Nationaldemokraten freuten sich, dass sich “die Bürgerlichen im Lande bemühen, die Begriffe "Arbeit, Familie, Vaterland" ... jetzt als "normal" hinzustellen. Da wird es dann schwer, der NPD, die sich wirklich nachhaltig für die dahinterstehenden Inhalte einsetzt, diese Normalität abzusprechen.” Damit sprechen alle drei indirekt eine Wahrheit über das Verhältnis von Demokraten und “Rechtsextremisten” aus, die sie offen nie zugeben würden: Ebenso wie bei den Parteien der politischen Mitte steht auch bei der NPD das Fortkommen Deutschlands im Staatenwettbewerb an erster Stelle; die Arbeiterschaft soll sich genauso für den Wirtschaftsstandort Deutschland krumm machen; und genauso liegt ihr die Familie als Brutstätte des nationalen Nachwuchses und als Versorgungsgemeinschaft des “kleinen Mannes” am Herzen.

Dass in den Parteien der Mitte trotzdem die Nase gerümpft wird, wenn die Buchstabenkombination NPD fällt, zieht sich nie an Punkten aus deren Partei- oder Wahlprogramm auf. Die Gründe hierfür liegen anderswo: Das erste Problem ist ihr Verhältnis zur historischen Periode des Nationalsozialismus. Die NPD nämlich will den Bruch nicht einsehen, den der deutsche Nationalismus durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg erfahren hat, und möchte einfach nur stolz alle drei Strophen der Nationalhymne singen, den Opa als Weltkriegsveteran ehren und mit dem angeblich ewigen Gerede von Auschwitz in Ruhe gelassen werden. Die Parteien der Mitte sind da schon einen Schritt weiter: Ihr Nationalismus integriert den Nationalsozialismus und die Shoa und weiß sie in der “Aufarbeitung der eigenen Geschichte” als “Lehren” für die offensive Durchsetzung der nationalen Interessen zu nutzen. Diese Sicht, dass die internationale Ächtung des NS keine Schande, sondern eine Chance für deutsche Nationalisten sein kann, indem sie vorbildlich Geschichtsaufarbeitung betreiben, will die NPD sich nicht zu eigen machen, und das rückt sie aus dem Kreis der politischen Mitte heraus. Der zweite Grund hierfür besteht in den Kontakten der Partei zu militanten Neonazi-Strukturen. Diese nämlich sind nicht bereit, sich bei der Durchsetzung ihrer Ziele auf die gesetzlich erlaubten Mittel der Meinungsäußerung und politischen Mitgestaltung sowie auf das staatliche Gewaltmonopol zu verlassen, sondern greifen lieber zu Baseballschläger und Molotow-Cocktail und fordern auch schon mal zur gewaltsamen Umwälzung “des Systems” auf. An solchen Punkten hört für gute Demokraten der Spaß auf: Wer mit Kriminellen, die Straftaten begehen oder zu diesen aufrufen, Umgang pflegt, gehört nicht in die Mitte.

Durch die Auswahl einer Parole, die auch durch die NPD und das Vichy-Regime verwandt worden ist, hat Nitzsche die gebotene Distanz zum unseriösen Rand des politischen Spektrums verletzt, und allein das wird ihm nun zum Vorwurf gemacht. Eine Kritik am Gehalt seiner Forderungen dagegen wird man im aktuellen Wahlkampf vergeblich suchen. Dass die Produktivität dieser Gesellschaft immer weiter steigt, und bei vernünftiger gesellschaftlicher Planung jeder Mensch viel weniger Zeit auf Arbeit und viel mehr Zeit auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse verwenden könnte; dass der Staat, der die Wirtschaftsweise fördert, in der immer mehr ohne Einkommen da stehen, während die anderen noch länger arbeiten müssen, keine Hilfe für die Menschen, sondern Grundlage der ganzen Veranstaltung ist und damit nichts, worauf man sich positiv beziehen müsste; dass es nicht an Kindern und Familiensinn mangelt, sondern an einer vernünftigen Planung der Ökonomie - diese Punkte wird man in den Programmen der zur Wahl antretenden Parteien vergeblich suchen. Ein gutes Leben steht nicht zur Wahl, sondern nur verschiedene Schattierungen von “Arbeit, Familie, Vaterland”. Und das ist ein guter Grund, am 18. September daheim zu bleiben.