02.01.2000 PDF

Das Hermannsdenkmal kann, muß und wird gesprengt werden !

Den Mythos angreifen - die Sache treffen!

Deutschland hat verdammt viel zu feiern in letzter Zeit. Seit gut fünfzig Jahren ist Deutschland auf der richtigen, weil erfolgreichen Seite. Die Republik, der Bundestag, das Grundgesetz und viele andere Errungenschaften des freien Westens haben jüngst ihr Goldenes über die Bühne gebracht. Seit zehn Jahren ist der Kommunismus besiegt und Deutschland wieder ganz - und wir blicken nunmehr mit einem leichten Kribbeln ob des selbstlosen und todesmutigen Einsatzes für das Menschenrecht auf den ersten Jahrestag des Militäreinsatzes mit der NATO zurück.



Womit bislang niemand rechnet: Das As für das erste Jahr des neuen Jahrtausends hat das Städtische Verkehrsamt Lippe/Detmold im Ärmel. Dort reckt nämlich im August 2000 der deutscheste aller Krieger, welcher Arminius der Cherusker bzw. "Hermann der Deutsche" ist, im deutschesten aller Wälder, welcher der Teutoburger ist, seit 125 Jahren unerschrocken sein Schwert in die Höhe, grimmig gen Westen schauend. Es erinnert nicht nur an die Vernichtung von drei römischen Legionen durch mehrere germanische Stämme im Jahre 9 n. Chr., sondern verklärt diese Aktion als angebliche Befreiung 'Deutschlands'. Dieses Denkmal wurde 1838 begonnen. Sein Bau stockte zwischen 1846 und 1862 und erst am 16. August 1875 wurde es im Beisein des Kaisers feierlich eingeweiht. Vor diesem Denkmal haben sie alle gestanden: die Corpsstudenten, der Stahlhelm, die Nazis und noch 1975, zum Hundertsten, waren sich die Fremdenverkehrler besagten Detmolds nicht zu doof, mit dem ins Schwert gemeißelten Spruch zu werben: "Deutsche Einigkeit, meine Stärke - meine Stärke, Deutschlands Macht".

Vom 16.-20. August 2000 soll das 125-jährige Jubiläum dieses Denkmals gefeiert werden.

Beziehungsweise wenn es nach uns geht: Soll nicht.

Es geht uns aber um mehr als "bloß" das Hermannsdenkmal oder Symbole. Wenn wir im Jahre 2000 zu einer Kampagne aufrufen, daß eine der wenigen touristischen Attraktionen Detmolds in die Luft gejagt gehört - was niemand zu privaten Amateurarbeiten inspirieren sollte -, dann deswegen, weil es uns um die Sache geht, die es symbolisiert und aus der Welt muß, wenn aus der Menschheit noch etwas vernünftiges werden soll: Die Nation.

Dafür muß mensch mit dem Bewußtsein Schluß machen, ohne das die Nation nicht existieren kann: dem Nationalismus, in all seinen Varianten und Spielarten.

Wer damit Schluß machen will, muß wissen, was Nationalismus ist und wie Leute NationalistInnen werden. Das Land, in dem wir Schluß damit zu machen haben, hat die bislang radikalste Form des Nationalismus auf die Welt gebracht hat. Theoretisch: Die scheinbar wasserdichte Begründung der Zuordnung von Staat und StaatsbürgerInnen wegen der Biologie, der mensch nicht entfliehen kann. Praktisch: Im Ausrottungsprogramm gegen den inneren und äußeren Feind. Der Erfolg Deutschlands beruht auch, aber nicht nur, auf dem besonders innigen Verhältnis von Staat und StaatsbürgerInnen, darauf, wie verbreitet bestimmte Formen der radikalen Parteinahme für die nationale Sache sind. "Der Hauptfeind ist immer das eigene Land" - diese antinationale Binsenweisheit, daß mensch immer die eigene Herrschaft angreifen sollte, wenn mensch sich nicht zum nützlichen Idioten der herrschenden Ordnung machen will (Kritik am Nationalismus anderer Staaten ist ja nur in Ausnahmefällen verfemt), scheint gar keine zu sein. Die Geschichte der Linken, nicht nur in Deutschland, aber hier besonders frappierend, ist die Geschichte der Verwandlung unzufriedener NationalistInnen zur alternativen Regierungsmannschaft plus Gefolgschaft.

Die schöne Unterscheidung vom guten, eigenen Patriotismus und dem bösen Nationalismus der anderen haben viele gefressen. Der sachliche Gehalt der Zustimmung zur Staatsgewalt ist beim "gesunden" wie beim "übersteigerten" Nationalismus der gleiche. Daß Leute einem anderen Staat zustimmen oder dem eigenen Staat anders zustimmen als mensch das sinnvoll findet, hält ein Durchschnittspatriot für "krankhaft" - oder mindestens problematisch.

Unsere Kampagne wird im übrigen auch zeigen, wie heftig die Reaktionen der demokratisch- verfassungspatriotisch geläuterten Deutschen ist, wenn mensch den völkischen Mythos, die zentrale nationale Legende, angreift. Und das nicht nur, weil auch in der freiheitlichsten aller deutschen Verfassungen das schöne Abstammungsprinzip drinsteht; sondern weil auch die, denen als Begründung, warum sie stolz auf Deutschland seien, als erstes Demokratie, Freiheit und stabile Währung einfällt, sich Gründe dafür ausdenken, warum sie für ihr Land sind. Daß es 'ihr Land ist', und daß sich Kritik an dem nicht gehört, da sind sie sicher.

Enttäuschen müssen wir aber auch alle wohlmeinenden Linksliberalen, deren Unterwerfung unter die Staatsgewalt unter einem prinzipiellen Vorbehalt steht. Die gibt es zwar selten, aber es kommt tatsächlich vor, daß Leute die Ideale von Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschen- und Delphinrechten ganz bitter ernst nehmen. Zuweilen so ernst, daß sie bei Verstößen des eigenen Vaterlandes gegen den Kanon demokratischen Gutmenschentums bis hin zur Absage an das eigene Land schreiten. Unsere Kampagne ist kein kritisches Beiprogramm, darum wollen wir den deutschen Nationalismus auch nicht von unnützem und peinlichem Ballast befreien.

Wenn wir von Nationalismus, Nation und NationalistInnen reden, dann meinen wir nicht nur die Schädelmesser, Rassehygieniker und Stalingrad-Kämpfer, sondern auch die beiden Varianten deutsch-demokratischer Nationalmoral. Eben diejenigen, die finden, daß Hitler Deutschland schwer geschadet habe und schon darum nicht recht gehabt haben kann. Ebenso wie ihre liberalen Geschwister, die Demokratie und Kapitalismus aus der Menschennatur ableiten und schon darum im Nationalsozialismus eine einzige Menschenrechtsverletzung sehen - weswegen all die Morde der Nazis nicht etwa lauter Fragen über Nationalstaat und bürgerliche Gesellschaft aufwerfen, sondern nur als Beweis dienen, welche Vorzüge das schwarz-rot-goldene Deutschland gegenüber dem verflossenen Dritten Reich hätte. Der Standort D und die Zivilgesellschaft sind aber mitgemeint, wenn wir die Nation abschaffen und bekämpfen wollen.

Genau darum geht es uns: Die Selbstverständlichkeit des Nationalismus zu stören. Daß das keine begeisterten Reaktionen zeitigen wird, daß der Großteil sich über Nation, Nationalismus und Deutschland gar nicht aufklären lassen will, wissen wir.

Tun wollen wir´s trotzdem. Mit einer Mobilisierungszeitung, vielen Mobilisierungsveranstaltungen und mit einem antinationalen und linksradikalen Sommercamp in Schleswig-Holstein. Und dann wären da noch die offiziellen Feiern im Teutoburger Wald ...



Exkurs: Die Cherusker interessieren uns nicht!

Wie es damals wirklich war, mit den Cheruskern und den Römern, das ist uns egal und kann allen, die die Welt vernünftig einrichten wollen, gleichgültig sein. In der Auseinandersetzung zwischen Durchsetzung der antiken Produktionsweise und dem Widerstand der germanischen Stammesgesellschaften muß niemand mehr Partei ergreifen. Ob Armin wirklich die Sklaverei und das römische Recht auf den Sack ging, oder ob er davon träumte ein germanischer Augustus zu werden - was geht's uns an?

Spannender ist doch, was die NationalistInnen aus diesem Konflikt machen und gemacht haben.

Dabei spielt die historische Wirklichkeit von Mittelalter, Antike und Früh- und Vorzeit generell nur die Rolle, Belegmaterial für ganz andere Sachen zu liefern.

Auch beim Wechsel von der feudalbürokratischen Übergangsgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft ist die Verehrung von nackten Wilden - solange sie weiß sind - das Beharren auf einem eigenen deutschen Weg zum kapitalistischen Nationalstaat und eine Verklärung der bestehenden Gesellschaft als natürlich-organische. "Gutmütige Enthusiasten dagegen, Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexion, suchen unsere Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte eines Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist" Zudem ist es bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, so schallt es heraus. Also Friede den teutonischen Urwäldern! (1)
1. Nationalismus
Als die Deutschen frech geworden ...

Das Hermannsdenkmal ist, wie viele andere Denkmäler, Teil der "Nationalisierung der Massen" im 19. Jahrhundert gewesen. Weil Völker und Nationen keineswegs "natürlich" sind und schon gar nicht "ewig", mußte mit der Herausbildung der Nationalstaaten erstmal ziemlich viel unternommen werden, um den Menschen beizubringen, daß sie nunmehr als "Deutsche", "Franzosen", "Briten" durch die Welt zu springen und dies für das Höchste der Gefühle zu halten hätten. Damit ein Nationalstaat existieren kann, müssen seine BürgerInnen schon mehr oder minder überzeugte NationalistInnen sein. Der kapitalistische Nationalstaat braucht mehr als nur Gehorsam: Statt bloßer Unterwerfung müssen sich seine BürgerInnen den Standpunkt der Herrschaft zu eigen machen und aktiv vertreten. Sonst funktioniert´s nicht.

Nach Einrichtung der Nationalstaaten war Nationalismus Staatsprogramm. In allen Nationalstaaten wurde ein nationaler Mythos geschaffen, manchmal sogar von den entsprechenden Machthabern in Auftrag gegeben. Denkmäler wurden gebaut, Lieder gedichtet, vaterländische Feiern veranstaltet. Kulturelle Gepflogenheiten wurden ein- und aussortiert, hitzige Debatten über das nationale Erbe geführt, an die heroischen Taten der Väter und Vorväter, hin und wieder auch Mütter, erinnert. Aber das erklärt natürlich weder, warum das Programm gezogen hat noch daß eine ganze Masse von Leuten sich in nationalistischen Vereinen zusammenrottete, als das erstrebte Vaterland aus verschiedenen feudalen Flickenteppichen bestand.

Daß sich unter diesen Umständen Leute plötzlich ihre Zusammenfassung unter einer nationalen Staatsgewalt zur Sache machten, hat etwas mit der Durchsetzung des Kapitalismus zu tun. Die systematische Eroberung von Kolonien, die privilegiert oder ausschließlich von den Geschäftemachern und Adeligen, die einer bestimmten Krone untertan waren, ausgeräubert wurden, machte die 'nationale Zuordnung' zur Voraussetzung, ob und wie an Kakao, Gummi, Gewürze etc. heranzukommen war. Bei diesem Wettlauf der Mächte um die Aufteilung der Welt entstand bei all den beteiligten InteressentInnen(2) an diesem Ausplünderungsfeldzug ein gemeinsames Interesse. Damit war ein Wettlauf der Mächte eröffnet, der letztendlich zur Herstellung des Weltmarktes führte. Um ihren Piraten und Geschäftsleuten die nützliche Verwendung der Reichtümer zu ermöglichen, mußten schon die vorbürgerlichen Staaten in der weltweiten "Arbeitsteilung" um die richtige Rolle bemüht sein und stifteten damit einen Zusammenhang von lauter Nationalökonomien, die damals erst anfingen, "Ökonomien" und "national" zu sein. Dafür war ganz egal, ob das betreffende Staatsoberhaupt das begriff oder sehr borniert die Füllung seiner Privatschatulle zur Finanzierung diverser Bälle, Schlösser und Hofschranzen im Kopfe hatte. Die Konkurrenz der auswärtigen Händler und später Kapitalisten bekamen auch die Geschäftsleute und Handwerker in Gegenden zu spüren, in denen die kapitalistische Entwicklung so gut wie noch gar nicht in Gang gekommen war. So waren insbesondere in jenen Gebieten, die später das Deutsche Reich und die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie bildeten, alle Nachteile eines niedergehenden Feudalismus mit den Ekligkeiten beginnender kapitalistischer Entwicklung verbunden. Das stellte die Frage nach einer Obrigkeit, die die geldverdienenden Klassen nicht in erster Linie als Kühe zum Melken, sondern als Leistungsträger der Nation ansah.

Akut und unausweichlich wurde diese Frage aber erst durch die Eroberung durch das französische Kaiserreich. Denn das hatte das Wachstum seines nationalen Kapitals im Auge und zwang dem Rheinbund und Preußen 1805-1812 entsprechende Politiken ab - auch in den norddeutschen Departements bekam die französische Wirtschaftspolitik der dortigen Ökonomie gar nicht. Dies produzierte dann im späteren Deutschland die Begeisterung für den Zusammenhang, den die kapitalistische Entwicklung 300 Jahre lang zu schaffen begonnen hatte. Einverleibung und natürlich auch Unterdrückung nährten die Sehnsucht nach einem Staat, der sich das Gelingen seiner Gesellschaft nicht nur zum Zweck setzte, sondern auch über die Mittel verfügte, dies zu tun - und nicht etwa die französische Konkurrenz beförderte oder ausschließlich das Wohlergehen von Adel und Klerus im Auge hatte.

Daß die Untertanen des Hohen Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, des Fürsten von Schaumburg-Lippe und des Königs von Preußen "Deutsche" waren, mußte ihnen nämlich erst beigebracht werden. Bis 1866, dem österreichisch-preußischen Krieg war auch gar nicht so klar, wo "Deutschland" denn nun genau liegt. Eine diffuse Abgrenzung gegenüber kulturellen und sozialen Gewohnheiten in den Machtbereichen anderer Herrschaften mag es schon früher gegeben haben - schließlich gibt es auch Entwicklung hin zum französischen, englischen und niederländischen Nationalstaat.

Die Entstehung des deutschen Nationalismus als einer politischen Bewegung, die einen deutschen Nationalstaat schaffen wollte, ist aber eng verknüpft mit der Verteidigung der Übergangsgesellschaft. Die war bedroht durch die bürgerliche Gesellschaft, die sich durch die französische Revolution und den napoleonischen Imperialismus auch in "Deutschland" auszubreiten drohte. Die traditionelle Forderung an die Untertanen, der von Gott eingesetzten Obrigkeit zu gehorchen, war kaum ein Mittel, begeisterte VerteidigerInnen der bereits ziemlich desperaten feudalbürokratischen Ordnung zu schaffen. Schon deswegen nicht, weil der Nationalismus der Revolution mit der Begeisterung der französischen BürgerInnen für ihren Staat die Voraussetzung für das levée en masse, also für ein Volksheer, geschaffen hatte, dem mensch Waffen in die Hand drücken konnte, ohne einen Aufstand der Untergebenen fürchten zu müssen. Nun war also die Frage, was Adel und Stadtpatriziat tun mußten, um ihre Untertanen zu tauglichem Menschenmaterial für einen Aufstand gegen die französische "Fremdherrschaft" zu machen. Der preußische Reformer Hardenberg schrieb 1807 an seinen König: "Wir müssen von oben machen, was die Franzosen von unten gemacht haben." (3) Das Märchen vom Organismus "Volk" sollte einen Zusammenhang stiften zwischen dem Adel und den Untertanen - letztere sollten durch diese Theorie vor der französischen Verheißung einer Gesellschaft ohne Fürsten und Pfaffen beschützt werden. Denn wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung eine Sache der Natur oder des lieben Gottes wäre, so wäre die Frage, welchen Sinn die Existenz der hohen Herren eigentlich hätte, ziemlich überflüssig, ja naturwidrig oder gotteslästerlich gewesen. Diese Integrationsideologie verwandelte "das Volk", mit dem früher nur die nicht-adeligen Klassen gemeint waren, in eine mystische Wesenheit, zusammengehalten durch ein unnennbares Etwas, ausgemacht durch ins ganze Völkerleben verwebte Besonderheiten. Diese noch religiös geprägten Auffassungen wurden später kulturalisiert oder biologisiert: Zu einem Zeitpunkt nämlich, als die behaupteten Gemeinsamkeiten nicht mehr reine Halluzination waren, sondern durch die gesellschaftliche Praxis, zumindest was Sprache und Kultur anging, gewaltmäßig ins Recht gesetzt wurden. Volk wurde dann definiert durch Kultur, Sprache, Abstammung und gemeinsame Geschichte. Nicht der Wille der Menschen, sondern der Volksgeist macht laut deutschem Nationalismus die Nation.

Das Interesse der oberen Klassen einer untergehenden Gesellschaftsordnung an einer nationalen Integrationsideologie verband sich mit dem Interesse des Bürgertums an einem deutschen Nationalstaat. Das ist die Erklärung für die konkrete Gestalt des deutschen Nationalismus in seiner Entstehungszeit. Ein bereits fertiger Nationalstaat (Frankreich) exportierte durch seinen Imperialismus die Notwendigkeit einer Nationalstaatsbildungsideologie. In die Welt kam damit der völkische und der kulturalistische Nationalismus. Warum er darin blieb, als diese historische Konstellation nicht mehr vorhanden war und eben keineswegs auf Deutschland beschränkt war und ist, kann nicht aus der Geschichte erklärt werden. Geschichte ist sowieso keine Erklärung, sondern eine Sache, die mensch erklären muß. Warum eine Sache eine Tradition wird und bleibt, hat meistens ganz aktuelle Gründe. Erläutert ist damit, daß kein Volksgeist und keine Linie von Luther zu Hitler die Erklärung des völkischen Nationalismus ist. Es muß andere Gründe geben, warum der Nationalismus aufgeklärt-westlicher Staaten sich so leicht in Kulturalismus und Biologismus radikalisiert. Erinnert sei hier am Beispiel USA an die rassistische Ausgrenzung von ChinesInnen in den 1880er und 1890er Jahren (Chinese Exclusion Act), der Internierung aller Menschen japanischer Abstammung an der Westküste im II. Weltkrieg, von den Dezimierungskriegen gegen die IndianerInnen und der Sklaverei in den Südstaaten gar nicht zu sprechen.



Die Nation - ein er-volk-reiches Konzept

In ihrem Werben für den deutschen Staat, den es damals noch gar nicht gab, haben nationalistische Ideologen in Deutschland, ganz wie ihre Kollegen in anderen Ländern, gehandelt, wenn es darum ging, das Menschenmaterial für den vorhandenen oder geplanten Staatsbürgerverband zu begeistern. Echter Blödsinn wurde in die Welt gesetzt: Die Schmeicheleien über die angeblichen eigenen völkischen Qualitäten wurden nicht nur gerne geglaubt, sondern auch überzeugt vertreten. Wo es nur ging, wurden die werten VolksgenossInnen mit dem "Argument" gelockt, ihr tolles Volk habe es schon immer gegeben.

Genau dafür taugte der Hermannsmythos in der Zeit von 1805 bis 1813. Nicht erst mit Kleists "Hermannsschlacht", sondern in vielen nationalistischen Traktaten, mit denen damals die gebildeten Stände zum nationalen Aufbegehren gegen die Franzosen gebracht werden sollten, wurde Arminius der Cherusker von einer Sagenfigur, wie dem schlafenden Kaiser Barbarossa oder Rübezahl, zum Symbol eines politischen Programms. Das ist er auch geblieben: Das Symbol der Identifikation mit der Nation aufgrund jener roten Aderfüllung, die bekanntlich nicht nur dicker als Wasser, sondern auch ein ganz besonderer Saft sein soll. Das ius sanguinis, das Blutsrecht, mag immer noch das Wesentliche im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht sein. Es ist keine deutsche Besonderheit: Kein Staat der Welt verzichtet darauf, die Nachfahren seiner StaatsbürgerInnen als seine StaatsbürgerInnen in Anspruch zu nehmen. Andere Staaten kennen aber noch mehr Gründe für die Verleihung der StaatsbürgerInnenschaft. Daß sie dadurch zu besseren oder menschlicheren Orten des Lebens geworden wären, ist uns bisher nicht aufgefallen.

Noch in jedem Staat, der eine Nation werden wollte, sollte oder mußte, gehörte zum Einsortieren auch das Aussortieren von Gruppen, die vom Nationalismus als nicht dazu gehörig definiert wurden. Oder von Gruppen, die sich der nationalen Homogenisierung widersetzten, weil sie den Vorteil des nationalen Kauderwelschs, des üblichen Gehopses, der Art sich zusammenzurotten und der Form sich vollzudröhnen, gegenüber ihren bisherigen - zumeist nicht minder idiotischen - Gepflogenheiten so recht nicht einsehen wollten. Vom französischen Radikaldemokraten bis zum deutschen Faschisten wurden da alle Register gezogen, vom Massaker bis zum Schulunterricht, um das, was nicht dazugehörte, kaputt zu kriegen. Manchmal gelang das. Manchmal aber auch nicht, und die neue nationale Obrigkeit züchtete sich genau dadurch einen abweichenden, feindlichen Nationalismus, der eine eigene Nation wollte. Oder die frischgebackenen StaatsbürgerInnen nahmen es selber in die Hand, alles, was nach ihrer Meinung nicht dazu gehörte, praktisch auszusortieren. Selbst Gruppen, die keinem was getan hatten und nur zu gerne mitgemacht hätten, bei der schönen neuen Nation, wurden mit Staats- und/oder BürgerInnengewalt davon abgehalten - was diese Gruppen trotzdem oft nicht davon abgehalten hat, besonders patriotisch zu sein. Soziologisch gesprochen: Das Zusammenspiel von nationaler Inanspruchnahme und rassistischer Exklusion produziert, nicht immer, aber des öfteren, abweichenden Nationalismus, weil er Leute einem gemeinsamen Schicksal unterwirft, die vorher gar nichts bis kaum etwas miteinander zu tun hatten. Darin unterscheiden sich übrigens BretonInnen, KurdInnen, InderInnen und Israelis kein Stück.

Bei beidem, der Abgrenzung nach außen und der Homogenisierung nach innen, konnten die bürgerlichen NationalistInnen sich durchaus auf die Vorarbeit von Kaisern, Königen und Fürsten stützen, die dergleichen auch schon ansatzweise versucht hatten. Freilich noch für ganz andere Zwecke und mit anderen Mitteln. Geworben wurde für Loyalität mit dem Herrscherhaus und einem Staatspatriotismus, mit dem auch heute noch nicht vollends aus der Mode gekommenen "Argument", daß der liebe Gott sich seinen Teil dabei gedacht haben wird, als er "oben" und "unten" schuf. Einige Nationen aber wiederum mußten sich mit genau diesen Vorarbeiten herumschlagen, weil die von den Feudalen so schön geschaffenen und benutzten Animositäten ihnen ihre schöne Volkseinheit kaputt zu machen drohte, da z.B. Bayern und Preußen partout nicht einsehen wollten, daß Deutschland ihr Bezugspunkt Nr. 1 zu sein hätte.

Aber nicht nur in solchen 'zu spät gekommenen' Nationen, sondern auch in denen, deren Gebiete und Leute schon seit Jahrhunderten vom gleichen Obermotz regiert wurden, die ihren Shakespeare und Molière hatten, mußte sich der siegreiche Nationalismus mit abweichendem Nationalismus herumschlagen und sei es nur in Form der ArbeiterInnenbewegung. Da gilt für NationalistInnen in Bezug auf den Nationalismus ihrer Nation: Es kann nur einen geben.

Das Hermannsdenkmal manifestiert die in Deutschland siegreiche Variante des Nationalismus: Es ist die steinerne Form des Mythos von der blutsmäßigen Identität von Deutschen und Germanen. Damit sollten die Leute überzeugt werden, ihr Deutschsein sei eine biologische Eigenschaft von ihnen - und aus ihr entspringe die deutsche Kultur, Sprache, Gemütlichkeit etc. Und zwar nicht, um sich dann bei Mutter Natur zu beschweren, daß mensch mit so blöden Vorlieben wie Wagner und Eisbein gestraft wurde, statt dauernd Chopin zu hören und Coq au Vin zu schnabulieren, sondern um sie zur richtigen Begeisterung für den deutschen Staat und seine Vorhaben in der Welt zu ermuntern.



"Jeder Stoß´, ein Franzos`"

Das Hermannsdenkmal aber symbolisiert noch mehr.

"Dem Ursprunge des aller Deutschen Herzen durchströmenden Freiheitsbewußtseins ein festes sichtbares Zeichen zu geben, das war der Gedanke, der bald vor einem Jahrhundert mich begeisterte, beim Anschauen der unseren Feinden Schrecken und Verderben bringende Wiederaufpflanzung unseres alten Schwerts, das immer am deutschen Himmel im herrlichen Glanz der Freiheit leuchtete...", blubberte 1862 im zeitüblichen Kauderwelsch der Bildhauer Ernst v. Bandel. Auf dessen Mist ist dieses unselige Denkmal gewachsen. Die Vernichtung von drei römischen Legionen wurde hier als Aufbegehren des deutschen Freiheitsbewußtseins gegen eine fremde Macht interpretiert. Daß Germanien frei von fremden Einflüssen blieb, habe man Hermann, wie Arminius damals fälschlich genannt wurde, zu verdanken, und darauf war mensch einigermaßen stolz. Doch wäre es von den nationalen Ideologen ein bißchen zuviel Stringenz verlangt gewesen, beim Land- und Leute einsammeln, jene albernen Kriterien im Ernst anzuwenden, die nach offizieller Lesart die Deutschen zu Deutschen machte. Beim Nationen-Backen wurde nämlich unter die nationale Fuchtel gezerrt, was nur zu haben war, so daß es an 'Fremden' mit deutschem Paß weiß Gott nicht fehlte. Die wurden nun aber nicht fröhlich als nationale Bereicherung und nützlicher Zuwachs angesehen, da die Grünen noch nicht in der Regierung saßen, sondern als Agenten eines feindlichen nationalen Interesses im schönsten Inland definiert, ganz ohne CSU und Republikaner. So daß man von den bösen Römern, die Hermann und seine Recken besiegt hatten, locker die Parallele zu den vielen verderblichen äußeren Einflüssen, die heute das Deutschtum bedrohen würden, ziehen konnte. Zuallererst natürlich der Erbfeind, die Franzosen, die mit ihrer verfeinerten "Zivilisation" die deutsche Kultur zu verderben trachteten und den Staat doch platterdings als Vertrag und nicht als Organismus verstanden - er werde es nicht dulden, verkündete der preußische König 1848, daß sich zwischen ihn und seine Untertanen ein gallisches Stück Papier, eine Verfassung, dränge. Von den "Wackes", wie die Elsässer und Lothringer verächtlich genannt wurden, gab es im "Reichsland Elsaß-Lothringen" einen ganzen Batzen, die den Code Civil nach wie vor dem preußischen Exerzierreglement vorgezogen hätten. Im Osten die PolInnen, die mensch für barbarische Faulpelze hielt und über die Otto v. Bismarck den menschenfreundlichen Satz schrieb: "Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen (...) wir können, wenn wir bestehen wollen, nicht anderes tun, als sie auszurotten; der Wolf kann auch nicht dafür, daß er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann." (4) Die fanden das gar nicht gut und daß man sie von ihrem Boden vertreiben wollte, ihnen ihre Sprache und ihre Pfaffen untersagte, sorgte auch nicht für das schwarz-weiß-rote Nationalbewußtsein(5), das die Deutschen ihnen sowieso nicht zutrauten. Im Norden Dänemark, dessen Versuche, sich Schleswig-Holstein einzuverleiben, das Vorspiel der Einigung des Deutschen Reichs 1871 gewesen war. Den nationalistischen Triumph ließ mensch dann an den Nord- und SüdschleswigerInnen aus, die dänisch redeten. Diese Sonderbehandlung machte dieselben auch nicht gerade zu deutschen PatriotInnen. Alle diese Gruppen hatten ein alternatives Ersatzvaterland in der Tasche oder doch zumindest die Erinnerung daran, das es ein solches dereinst gegeben hatte. Das wiederum war für die deutschen NationalistInnen ein weiteres Mal Beleg dafür, daß PolInnen, FranzösInnen und DänInnen eben PolInnen, FranzösInnen und DänInnen seien, weil sie eben solche seien. Doch die Liste der Feinde Deutschlands war noch etwas länger: Die SozialdemokratInnen, die als "vaterlandslose Gesellen" bezeichnet wurden, weil sie doch glatt in dem Verdacht standen, mit dem Satz "Proletarier aller Länder vereinigt Euch" richtig ernst machen zu wollen. Das war zwar leider nicht der Fall, aber der Verdacht reichte aus, "die Roten" zu "vaterlandslosen Gesellen" zu machen, zu einer Bande, nicht wert den Namen Deutsche zu tragen, wie Wilhelm II. sinngemäß über sie sagte. Doch anstatt dieses Kompliment heftig nickend in Empfang zu nehmen, reagierte die sozialistische ArbeiterInnenbewegung auf solche Anwürfe nur damit, den herrschenden Klassen vorzurechnen, wieviel besser die Nation mit dem Sozialismus fahren würde - wenn sie nicht gleich den Treueschwur zum eigenen Vaterland leistete.

1875 tobte der "Kulturkampf" mit der katholischen Kirche. Für viele deutsche ProtestantInnen war den romhörigen Katholiken nämlich gar nicht zu trauen und gehörte der Kampf gegen die "Ultramontanen", also gegen die, die von "jenseits der Berge" vom Papst gesteuert wurden, zur Errichtung und Verteidigung des deutschen Vaterlandes dazu. In der "Gartenlaube", einer damals weitverbreiteten Familienzeitschrift, heißt es zum Schluß des Berichts über die feierliche Einweihung des Hermannsdenkmals:

"...das Erzbild des Cheruskerfürsten [wird] noch über ferne Geschlechter hinabschauen, als eine Mahnung, hochzuhalten das Panier der nationalen Freiheit und Selbständigkeit, gleichviel ob die Waffen, mit denen der Kampf um jene Güter gekämpft wird, dem Schwerte Armins gleichen, oder ob es die Waffen des freien Geistes sind, mit welchen wir heute nach zweitausend Jahren abermals kämpfen unter dem Schlachtrufe: 'Wider Rom'." (6) Weitere Feinde waren die Jüdinnen und Juden, die ebenfalls als Angehörige eines fremden Volkes betrachtet wurden, die Roma und Sinti, die zusätzlich als unnütze Kriminelle galten. Ebenso erging es den Homosexuellen, die als kranke Volksschädlinge galten und der Frauenbewegung, die angeblich die nationale Reproduktionskraft unterminierte.



Exkurs: Nationalismus, bürgerliche Moral und Sexualität

Auffällig ist, daß der Nationalismus in seiner Entstehungsform fast immer mit Frauenfeindlichkeit und Homophobie einhergegangen ist. Der Kampf gegen Dekadenz, 'Effeminierung' und 'widernatürliche Sexualität' war Teil der nationalistischen Kampagnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Daß es dabei nicht einfach nur um die verrückte Übersetzung des Staatsinteresses an Volkszahl und militärischer Kampfkraft ging, mag schon die Überlegung zeigen, daß Homosexuelle genauso gut Leute abknallen können, wie jede/r andere auch. Daß die Verbreitung 'widernatürlicher Laster' den Volkskörper schwäche und eine Nation, die sich nur der unfruchtbaren Lust hingäbe, anderen lebenspralleren Nationen unterliegen müsse, war den NationalistInnen im Medizinerrock so klar, wie ihre Behauptung, daß die 'Vermännlichung' der Frauen ihre Gebärfähigkeit beeinträchtige. Zusammen mit anderen Diagnosen über den angeblich zunehmenden geistigen und körperlichen Verfall von immer größeren Teilen des Volkes sahen die Agitatoren des Nationalismus die Volkskraft in Gefahr. Dabei gingen reale Entwicklungen (wie die körperliche Ruinierung der ArbeiterInnenklasse durch Lohnarbeit und Armut), spinnerte Verarbeitung wirklicher Prozesse (wie die Herausbildung von Subkulturen in Großstädten) und kompletter Schwachsinn (wie Impotenz durch Onanie oder die angeblich stärkere Vermehrung der sog. 'Minderwertigen' aufgrund ihrer sexuellen Zügellosigkeit) munter durcheinander. Die Programme zur Aufrassung und Veredelung des jeweiligen Volkes - eugenische Bewegungen gab es keineswegs nur in Deutschland - waren immer strikt gegen abweichendes Verhalten gerichtet.

Das Bündnis von Nationalismus und bürgerlicher Sexualmoral, das sich überall beobachten läßt, ist mehr als ein Zufall, aber weniger als eine notwendige Konsequenz. Verwunderlich ist es nicht, daß eine Geisteshaltung, die auf Anpassung an das Bestehende geht, diejenigen, die die moralischen Normen des bürgerlichen Zusammenlebens mißachten oder doch zumindest verändern wollen, als Feinde definiert. Ein zwingender Zusammenhang besteht allerdings nicht, wie sich an völkischen Phantasien von germanischen Liebesburgen zeigen ließe.

Auch daß im Bürgertum die gleiche Klasse Träger der Moralisierung der Öffentlichkeit wie der Nationalisierung war, hat sicherlich zu dieser Verbindung beigetragen. Der liederliche Lebenswandel, die moralische Haltlosigkeit und der ebenso verständliche wie mobilisierbare Neid auf das gute Leben des Adels, verbunden mit der Kritik, nichts produktiv zur Nation beizutragen, sind die Themen bürgerlicher Agitation gegen Adel und hohen Klerus.

Die Entstehung des kapitalistischen Nationalstaates bedeutet eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft und ist gleichzeitig verknüpft mit mehreren Umbrüchen in der kollektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Die Ablösung unmittelbarer und direkter Herrschaft durch ein System allseitiger Sachzwänge - das freilich ohne Polizeiknüppel, Knast und Militär auch nicht auskommt -, die es einem/r selber 'vernünftig' erscheinen lassen, sich so zu verhalten wie vorgeschrieben, ist eine Form der Herrschaft, die gleich ganz andere Anforderungen an die ihr Unterworfenen in die Welt setzt. Damit ist eine Gesellschaft geschaffen, in der 'Selbstbeschränkung', d.h. die Unterwerfung der eigenen Bedürfnisse unter fremde Vorgaben aus eigener Einsicht, eine große Rolle spielen. So war die Gewöhnung an bestimmte Zeitrhythmen eine notwendige Voraussetzung der Fabrikarbeit im Kapitalismus, die mit drakonischen Strafen und Lohnabzügen der ArbeiterInnenklasse erstmal eingeprügelt werden mußte.

Mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft wandelt sich gleichzeitig das Bild des Abweichenden. Er wird vom Sünder, der eben sein Seelenheil verspielt, nicht nur zur öffentlichen Gefahr (das kennt mensch ja seit Sodom und Gomorrha), sondern vor allem zu einem Angehörigen einer Spezies, eines Volks im Volke. Er ist nicht Mensch, der irgendeine Handlung begeht, sondern Verbrecher, Irrer, Onanist, Homosexueller etc. - jemand, der sein schlechtes 'Erbgut' weiterträgt.

Das Bild des tapferen und schönen Kämpfers und der liebenden, treusorgenden Gattin wurde damals verbreitet, übrigens gerade auch durch die Sage von Hermann und seiner Thusnelda (die hieß wirklich so!). Gerade das Hermannsdenkmal ist das Symbol einer ganz bestimmten Männlichkeitsvorstellung. Daß dieses Bild neben dem Schönheitsideal des Kriegers lauter Eigenschaften enthielt, die den Mann zum Teilnehmer der Konkurrenz und die Frau als seine Reproduktionsagentin erscheinen ließen, ist kein großes Wunder. "Er" zieht hinaus ins feindliche Leben für Volk und Familie, "sie" sorgt für das heimelige Kaminfeuer. Das soll es heute als Vorstellung auch noch geben. Genauso wenig verwunderlich ist, daß anderen 'Völkern' und 'Rassen' genau dieses männliche Ideal abgesprochen wurde: Sie wurden als unbeherrscht, triebhaft, durchtrieben und körperlich durch und durch minderwertig dargestellt. Wer sich die rassistischen Phantasien über schwarze Asylbewerber ankuckt, die immer hinter blonden Mädchen her sind, harte Drogen dealen, mehrfach Stütze abzocken, immer in deutsche Vorgärten pinkeln und AIDS haben, wird uns zustimmen: Soooo aus der Welt ist das alles auch nicht. Daß bei der Vorstellung des Volkes als rassischer Gemeinschaft es keine Privatsache ist, mit wem mensch die Freuden des Mögens auskostet, versteht sich fast von selbst. Hier ist die kollektive Verfügungsgewalt der Volksgenossen über die Volksgenossinnen eben der logische Schluß aus der ganzen Scheiße. Jede Befragung von Frauen, die mit Nicht-Deutschen verheiratet sind, könnten einem/r über die Aktualität dieser Vorstellung einiges erzählen.

Daß ein Fanatiker der Aufopferung für Volk und Vaterland mit Sex, der nicht der Nation dient, sondern nur der Lust, nichts anfangen kann, wen überrascht das? "Aufgabe der Jugenderziehung [ist es,] mit der Vorstellung aufzuräumen, als ob die Behandlung seines Körpers jedes einzelnen Sache selber wäre. Es gibt keine Freiheit auf Kosten der Nachwelt und damit der Rasse zu sündigen." (7) Im Faschismus war eben nichts Privatsache.



Die Idee von bösen inneren Feinden, die im Auftrag des äußeren Feindes unterwegs sind, ließe sich insbesondere in Kriegs- und Krisenzeiten in anderen Nationalstaaten ebenfalls nachweisen. In Deutschland war diese Idee konjunkturunabhängig immer ein Renner. Deutsch war nicht so sehr die Idee von getarnten AusländerInnen, die sich in Deutschland herumtrieben und versuchten nicht-germanisches Hämoglobin in die nationale Blutbahn und undeutsche Gedanken in blondgelockte Köpfe zu schmuggeln. Sondern der Zweck, der ihnen unterstellt wurde: Die Ausrottung des deutschen Volkes wegen seiner rassischen Qualitäten, was in diesem nicht nur wahnsinnigen, sondern auch größenwahnsinnigen Programm, den Untergang der Menschheit bedeuten sollte. Wer dahinter steckte, ging für die deutschen NationalistInnen seit 1875 ziemlich klar: Die Jüdinnen und Juden. Diese galten eben nicht nur als Fremde, da ihre Vorfahren bei der Schlacht im Teutoburger Wald nicht dabeigewesen waren. Sie waren auch nicht 'bloß' die böse fünfte Kolonne des Auslands oder einfach "minderwertig", weil sie statt des Sonntags doch glatt den Sonnabend zum Heiligen Tag erklärten ... (oder was für alberne und ressentimentgeladene Theorien mensch sich da ausdenken mag). Die Feindschaftserklärung war grundsätzlicher: In den völkischen Phantasien galten die Jüdinnen und Juden als Steuerungszentrum aller anti-deutschen Umtriebe. Ihre angebliche Allmacht wurde als Grund so ziemlich aller wirklichen und vermeintlichen Übel der vollständigen Durchsetzung des Kapitalismus vorstellig gemacht. Warum das so war, dazu später mehr. Goldhagen urteilt zurecht: "Deutscher Antisemitismus und deutscher Nationalismus wurden und blieben - bis zum II. Weltkrieg - unentwirrbar verquickt." (8) Laut völkischem Denkmodell war diese Bedrohung sozusagen biologisch oder kulturell programmiert, d.h. vom Willen und Bewußtsein des Gegners unabhängig, sondern Ausdruck seines Wesens. Darin lag eine Voraussetzung von Auschwitz. So wurde der deutsche Nationalismus die brutalste und rassistischte Variante des Nationalismus. Das Hermannsdenkmal symbolisiert diesen deutschen Nationalismus und das Selbstbildnis der Deutschen als arglose, friedliche Menschen, die nur das Beste wollen - nicht umsonst haben die selbsternannten Nachfahren der Germanen "blauäugig" als anderen Ausdruck für naiv und gutgläubig -, aber von bösen Feinden nicht in Ruhe gelassen werden und sich darum ihres Bärenfells wehren müssen. "Deutschland, die verfolgende Unschuld", hat Karl Kraus dieses fern der Realität liegende Selbstbild der Nation einmal spöttisch genannt. Heute sind ihre aufgeklärten demokratischen EnkelInnen angeblich Zahlmeister der EU, ihr großherziges Asylrecht wird dauernd von irgendwelchen Fluten mißbraucht, und schwarzhäutige Dealer spritzen blonde Jungs und Mädchen tot, während unsere Soldaten für die Menschenrechte der Kosovo-AlbanerInnen, die bekanntlich alle HütchenspielerInnen sind, ihren Arsch riskieren.



Exkurs: Alles Quatsch, übrigens

Unsere Beweisführung, warum es keine Völker gibt, werden ein paar Leute schon kennen. Für den Rest schreiben wir sie noch mal auf. Woran erkennt mensch 'die Deutschen'?

An der Sprache nicht: Da reagieren ÖsterreicherInnen, SchweizerInnen und LuxemburgerInnen sensibel. Und BayerInnen und OstfriesInnen fällt dazu auch einiges ein. Zudem kann mensch Sprachen lernen. Ganz unwichtig ist wohl auch nicht, was mensch in der Sprache sagt: "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" hat mit "Workers of all countries, unite!" mehr zu tun als mit "Heil Hitler".

An der Kultur auch nicht: Oder haben der Böhse Onkelz grölende Skin und die Goethe zitierende Studienrätin etwa dieselbe Kultur? Gehören Marianne Rosenberg und Tocotronic, Caspar David Friedrich und Franz Marc zusammen? Gemeinsam haben sie nur, daß sie als Teil eines nationalen Kulturschaffens sortiert werden - unter Absehung von Inhalt und Form. Diese Sortierung besteht vorher.

Am Blut schon gar nicht: Das ist überall rot, hat Rhesusfaktor oder nicht und weltweit nur die Blutgruppen 0, A, AB und B. Blutgruppe D gibt's nicht.

Auch das Nationalgefühl erklärt nichts. Denn als Nation fühlen sich Leute, weil sie glauben, aus anderen Gründen zusammenzugehören. Vor 300 Jahren wäre den Leuten gar nicht eingefallen, sich als Teil einer Nation zu fühlen. Allerdings fänden wir das ziemlich schick: Kein Nationalgefühl - und schon gehört mensch nicht mehr zur Nation. So läuft das aber leider nicht.

Und irgendwelche angeblichen Charaktereigenschaften Marke "typisch deutsch" sind lächerlich: In jedem "Volk" gibt es höchst unterschiedliche Menschen, die mit anderen Menschen aus "anderen Völkern" mehr gemeinsam haben als mit ihren angeblichen "Volksgenossen".

Auch Haut-, Haar- und Augenfarbe, Religion, Reichtum, Intelligenz taugen nicht, um aus den vielen Menschen ein "Deutsches Volk" zusammenzumantschen.

Übrigens: Selbst wenn das alles so wäre, würde ein guter Grund, darum gemeinsam zusammenleben zu wollen, daraus nicht erwachsen; eine Welt konkurrierender Nationalstaaten schon gar nicht.

Damit ist vorab nur soviel bewiesen: Daß die Gruppen, die heute als "Völker" durch die Gegend springen, nach keinem der oben behaupteten Gründe zusammengehören. Das ist auch einigen Neonazis aufgefallen: Die wollen z.B. Belgien zerlegen, weil dort zweieinhalb Sprachen gesprochen werden und Österreich und Luxemburg eh für Deutschland einsacken.

Darum muß noch einmal betont werden: Alles das, was als Kennzeichen einer Nation behauptet wird, ist ihr Produkt. Die Sprache "Deutsch" wurde 1870 von nicht mal 2% der Bevölkerung des Deutschen Reichs gesprochen - erst die Einführung eines nationalen Schulwesens, einer nationalen Presse, einer Armee usw. drängte Stück für Stück die Dialekte zurück. Was übrigens ein Dialekt und was eine eigenständige Sprache ist, hängt mehr davon ab, auf welchem nationalem Territorium gequatscht wird als welche Lautverschiebung stattgefunden hat. Mit der Nationalkultur ist es das gleiche: Was haben die ostfriesische Teekultur und das bayrische Weißwurstessen, der Dans op de Deel und der Schuhplattler, Tucholsky und Wagner gemeinsam - außer daß sie als "deutsch" sortiert werden?

Selbst wenn es bestimmte nationale Gepflogenheiten des Umgehens und Befindens geben sollte, die tatsächlich allen Angehörigen einer Nation gemein sein sollten - wir bezweifeln das scharf, aber bitte - so sind diese Produkt der Vergesellschaftung innerhalb der Nation und nicht ihr Grund. Und lassen sich übrigens ändern.



2. Nationalismus heute



Ist das nicht alles von gestern?


Es stimmt: Der deutsche Nationalismus hat sich kräftig modernisiert. Neben den Blut- und Bodenfans gibt es heute ein Reihe von ZeitgenossInnen von CDU bis PDS, die wissen, daß das Geheimnis deutscher Größe nicht zwischen den weißen und roten Blutkörperchen oder in der Sehnsucht nach Sauerkraut und Met besteht. Einmal durchgesetzt, kann der deutsche Nationalismus darauf verzichten, seine Mythen auftrumpfend und mit vollem Ernst unter die Leute zu bringen; sogar ein peinlich berührtes Lächeln ist erlaubt. Es reicht vollkommen, daß sie im Volksbewußtsein vorhanden sind, daß sie deswegen noch von allen Türmen herabgeblasen werden, ist nicht nötig. Über den Germanenmythos lächelt ein ordentlicher Standort-Nationalist ein wenig geringschätzig; vielleicht entdeckt er sogar in dieser altertümlichen Form des Nationalismus ein Problem für die moderne Dienstleistungsgesellschaft, der er sich nützlich machen will. Also: Alles alter Krempel, den zu bekämpfen nur Beihilfe zum liberalen Face-lifting des rot-grün geführten Neugroßdeutschlands ist?

Mal vorsichtig: Wir behaupten und wollen im weiteren beweisen, daß weder der kulturalistische noch der völkische Nationalismus einfach bloß 'historische Stadien' des Nationalismus, sondern, daß sie Radikalisierungen der in ihm angelegten Gedanken sind - also eine prinzipiell vorhandene Möglichkeit. Daß Rassismus und Biologismus die letzten Jahre außer Mode gekommen sein sollten, ist uns übrigens nicht aufgefallen.

Zum anderen juckt es einen ganzen Haufen VolksgenossInnen überhaupt nicht, was an Modernisierung für die offizielle nationale Ideologie im Schwange ist: Bei der Debatte um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts haben sich nicht Tausende in die Listen der CDU eingetragen, weil sie für ein 'anderes Integrationskonzept' (erst fremden Paß abgeben, dann Deutsche/r werden) Partei ergreifen wollten, sondern weil es ihnen mit dem Blut in Sachen Blutsrecht ganz bitter ernst war. Das merkt mensch spätestens, wenn die aufgeklärten Standort-NationalistInnen gefragt werden, warum sie denn gerade für diesen Standort Partei ergreifen. Da fällt ihnen gar nicht das feuchtfröhliche Fest auf grüner Wiese ein, als sie den Gesellschaftsvertrag der Deutschland GbR unterschrieben haben, sondern da werden sie recht bockig drauf bestehen, daß das nun mal "ihr Land" sei, in dem es auch noch sehr schön sei und überhaupt könne jeder, dem es hier nicht passe ... und so weiter.



Gesellschaftsvertrag und Rassismus

Jeder Nationalismus verklärt die Leute, die der Staat zu einer Nation zusammenfaßt, zum eigentlichen Grund des Nationmachens; ob sie wollen oder nicht. Ein Fehlurteil, das die Manövriermasse von Staat und Kapital nicht empört zurückweist, sondern teilt und vertritt.

Warum eine bestimmte Anzahl von Menschen gerade in einem Staat zusammenleben soll, dafür gibt es unterschiedliche Begründungen. Die einen behaupten, der Nationalstaat sei ein Zusammenschluß der BürgerInnen zum gegenseitigen Nutzen. Als der Nationalismus auf die Welt kam, in der französischen und amerikanischen Revolution, hieß es, der Staat sei ein Vertrag, den Menschen miteinander zum Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums abgeschlossen hätten. Es wurde gar behauptet, der Staat sei nur dazu da, allen den eigenen Weg zum Glück zu ermöglichen. Ein Volk war demnach eine Anzahl von Menschen, die dem gleichen Gesetz und der gleichen gesetzgebenden Versammlung unterworfen waren. Dieses Prinzip gilt als das Gegenteil der Vorstellung des "Volks" als biologischer Organismus. In jüngsten anti-deutschen Debatten ist daraus sogar der Vorschlag einer "anti-deutschen Realpolitik" entsprungen. Jürgen Elsässer hatte die tolle Idee, Nationen, die von sich behaupten, "Willensgemeinschaften" zu sein (9), vor dem bösen völkischen Nationalismus Deutschlands zu beschützen. Im Westen und Osten zivilisierte StaatsbürgerInnennationen, in Deutschland und der Peripherie barbarische Blutsvölker - so denken sich viele die Sache zusammen.

Nun ist richtig, daß die Vorstellung, ein Volk sei durch Kultur oder Blut zusammengehalten, in der Tat als Gegenmodell zum "Vertragsnationalismus" entstanden ist. Damit war die Behauptung in die Welt gesetzt, daß Leute den gemeinsamen Willen zur Nation deswegen hätten, weil sie aus anderen Gründen zusammengehörten, die mit ihrem Willen nichts zu tun hätten: Kultur, Sprache, Geschichte und was Leute noch so gemeinsam haben sollen. Nun ist eine gemeinsame Geschichte nur eine Frage der Identifikation, und Sprache und Kulturtechniken lassen sich lernen. Konsequent weitergedacht ist es, wenn deutsche Kultur und Sprache nur als Ausdruck der physischen und psychischen Gleichartigkeit der Deutschen gesehen und der deutsche (und jeder andere Staat auch) als eine Zusammenfassung "physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen" (10) verstanden wird.

Aber die Vorstellung, die Schote vom Gesellschaftsvertrag sei das Gegenteil von dem Märchen der biologischen oder kulturellen Zusammengehörigkeit, ist verkehrt. Zur Frage, warum genau diese und keine anderen Leute einen Gesellschaftsvertrag miteinander schließen sollen, ist nämlich erstmal gar nichts gesagt. Die Väter der amerikanischen Verfassung sind gar nicht auf die Idee gekommen, die Schwarzen oder IndianerInnen als gleichberechtigte VertragspartnerInnen anzusehen und zum Kongreß der vereinigten Kolonien einzuladen. Den Paß der Französischen Republik durfte sich nach der Verfassung von 1793 nicht einfach jede/r selber drucken. Wer behauptet, die westlichen Nationen seien "Willensgemeinschaften", darf sich weder um die historische Wirklichkeit (11) noch um eine ernsthafte Rekonstruktion der Gründungslegenden kümmern. Die Vorstellung, daß eben nur Leute mit ähnlichen Auffassungen, Gewohnheiten oder der gleichen Sprache in der Lage seien, dauerhaft miteinander einen Gesellschaftsvertrag zu schließen, ist recht verbreitet. Genau das ist nicht nur das Argument für die brutale Assimilierungspolitik der französischen Republik, sondern auch die Polemik der CDU/CSU gegen die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts durch SPD und Bündnisgrüne gewesen. Den Willen, den jemand hat oder nicht hat, als Ausdruck seiner/ihrer kulturellen Prägung oder seiner/ihrer DNS zu nehmen, widerspricht der Vorstellung, der Staat sei ein Vertrag seiner BürgerInnen, genauso wenig. Die Überzeugung, ein Volk sei eine Summe Menschen unter den gleichen Gesetzen, ist nicht das Gegenteil der Idee die Gesetze, unter denen jemand steht, würden seinem "Wesen" oder dem "Volkscharakter" entspringen. Diese törichte Behauptung findet sich z.B. in den Schriften Kants, Hegels, Montesquieus und Rousseaus, also bürgerlichen Aufklärern.

Jeder Nationalstaat hat zwar eine vorherrschende offizielle Sichtweise, was sein Volk ausmache und wodurch es sich bilde. Aber in jedem Nationalstaat - egal wie er sich offiziell begründet, offiziell festlegt, wer Angehörige/r der jeweiligen Nation ist - gibt es Leute, die anderen Auffassungen anhängen. Auch die amerikanischen FaschistInnen glauben, daß Schwarze und Hispanics keine AmerikanerInnen sein könnten und die jüdisch geführte Regierung in Washington dabei sei, den american way of life abzuschaffen. Auch in Frankreich will die politische Rechte den König Chlodwig (5. Jahrhundert) zum ersten französischen König nachträglich machen und damit die französische Geschichte anno dunnemals beginnen lassen.

Mensch sieht: weder logisch noch historisch haut die Behauptung hin, westlicher und völkischer Nationalismus seien unüberbrückbare Gegensätze.

Der Zusammenhang ist ein anderer. Der völkische Nationalismus ist die biologische Begründung für die Zuordnung der StaatsbürgerInnen zum Staat. Das Wesen des Menschen - egal ob es das Blut oder sein durch Kultur unveränderlich geprägter Charakter sein soll - soll ihn dazu verdammen, nun mal in diesem und keinem anderen Staat zu leben: Deutscher ist, wer von Deutschen abstammt.

Wie die Nazis den Zusammenhang von Willen und Blut gesehen haben, das haben sie ganz deutlich in den Nürnberger Rassegesetzen gesagt: "Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen." (12) Es geht in Wirklichkeit nicht um Blut oder Willen. Es geht darum, wem mensch den Willen zur Nation zutraut - und hier herrscht bei völkischen und kulturalistischen NationalistInnen Mißtrauen, ob Menschen mit 'falschem' Blut oder einem anderen kulturellen Hintergrund überhaupt glaubwürdig seien. Die Nazis haben das generell für ziemlich unmöglich gehalten: Für sie war der Willen Ausdruck der physischen Beschaffenheit. Aber ihre Gleichung physische Beschaffenheit = psychische Beschaffenheit ist auch umkehrbar. Wenn das Denken Ausdruck des Blutes ist, dann läßt das Denken auch Rückschlüsse auf die rassische Beschaffenheit zu. Darum haben selbst die Nationalsozialisten jenseits aller Schädelmesserei in den geistigen Leistungen ein Indiz für die rassischen Qualitäten eines Menschen gesehen, die ihn/sie zur Staatsbürgerschaft qualifizierten - oder nicht. So tobten im arischen Staat die Debatten über die "weißen Juden in der Kunst", die Sterilisierung von KommunistInnen und die Heilbarkeit der Homosexualität. Denn auch die Nazis haben als gute Anlage-Umwelt-Theoretiker keineswegs ausgeschlossen, daß auch Umstände das Denken beeinflussen - wie sonst hätten sie die vielen ehemaligen WählerInnen von KPD und SPD, die brav oder doch zumindest nicht sonderlich widerstrebend bei der neuen Volksgemeinschaft mitmachten, vereinnahmen können?

Nur bei einer Gruppe sind die Nazis strikt verfahren: den Juden. Die konnten so 'nordisch' aussehen wie nur je eins der albernen Propagandabilder der Nazi-Ideologie und so deutsch-national wie der Großteil der NS-Gefolgschaft. Es nützte ihnen nichts. Ihnen wurde ein Bekenntnis zu Deutschland oder gar zum Dritten Reich als arglistiges Täuschungsmanöver ausgelegt.



Reduzierung als Radikalisierung: Alles bio

Die Rassenideologie der Nazis gilt heute als ein "Wahn". "Menschenrechte", "Begabung" oder "Intelligenz" sind dagegen lauter Begriffe, die voll normal und in Ordnung sind. Wir behaupten: Die Nazis haben den Gedanken, der den Menschenrechten zugrunde liegt, nur radikalisiert. Besonders originell sind und waren die werten BlutsrassistInnen sowieso nie, geschweige denn allein. Mit der DNS wird heute so ziemlich alles erklärt: Wie schlau Leute sind, was sie tun, was sie denken, was sie verdienen, woran sie erkranken und in wen sie sich verlieben. Zwischendurch wurde auch schon ein Alkoholismus-Gen 'entdeckt', aber der behauptete Zusammenhang existiert ebenso wenig wie beim angeblichen Homosexualitäts-Gen oder beim behaupteten Obdachlosigkeits-Gen. Aber nicht nur die DNS-ForscherInnen wollen menschliches Verhalten durch Biologie erklären: Immer wieder wollen ForscherInnen herausgefunden haben, das menschliche Sexualverhalten werde durch Duftstoffe gesteuert oder das Verhalten in Extremsituationen durch Reaktionsmuster aus der Steinzeit. Nicht zufällig finden sich in den meisten Biologiebüchern die berühmten Triebe - wenn eine/r eine Sandburg baut, lebt der/die Betreffende nur den Territorialtrieb aus! Und PädagogInnen erklären ihre Erfolge und Mißerfolge beim Zurichten der SchülerInnen schon länger aus einem komplexen Wechselspiel von Umwelt (Milieu) und Anlage (Talent, Begabung).

Egal ob Schulerfolg durch Begabung, Kriminalität durch den Hormonspiegel oder die Vorliebe für eins der beiden Geschlechter aus der DNS erklärt werden soll: Stets werden dabei die Menschen als von ihrer 'natürlichen Ausstattung' bestimmt vorstellig gemacht. Der Mensch als staatenbildender Allesfresser!

Die Herleitung der Welt aus der Menschennatur ist eine alte Masche der bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Behauptung, der Mensch habe von Natur aus bestimmte Rechte, wie Privateigentum, ist das Bürgertum gegen die feudalen Rechtfertigungsideologien von der Gottgegebenheit der Ordnung zu Felde gezogen. Die Herleitung des Staats aus der Wolfsnatur ist dabei eine Sache, die GesellschaftswissenschaftlerInnen locker von der Hand geht: Gäbe es nicht die Oberwölfe, würden alle über alle herfallen, sich alles wegnehmen und überhaupt Chaos herrschen. Kultur, so heißt das psychologisch, beruht auf Triebunterdrückung. Und auch so wird der Staat vom Knüppeleinsatz auf der Demo bis zum Spargelstechen für Arbeitslose ein einziger Dienst am Menschen, egal wie beschissen er/sie damit individuell fährt. Daß jeder Mensch gewisse unveräußerliche Rechte von Natur aus (oder von ihrem Stellvertreter, dem Schöpfer) haben soll, ist eine Naturalisierung. Menschenrechte werden von Menschen gemacht, sie entspringen einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung und sind im Gegensatz zu Herz und Leber im Menschen selbst nicht zu finden. Daß die Staatsgewalt mit den ihr Unterworfenen nicht einfach willkürlich umgeht, sondern sich an bestimmte, von ihr selbst gesetzte Prinzipien halten will - und das ist der sachliche Gehalt der Menschenrechte - hat mit der Natur soviel zu tun wie ein Aktienkurs mit der Farbe des Sonnenuntergangs.

Mit Biologismus hat das recht viel zu tun: In einer Gesellschaft, in der angeblich alle ihres Glückes Schmied sind - "die Chancen sind für alle gleich, mach mit und werde reich", heißt die passende Lottowerbung dazu - sind Erfolg und Mißerfolg nicht Ausdruck davon, daß Leute um den Reichtum konkurrieren und es darum Verlierer und Gewinner gibt. Nein, vielmehr sind Gewinner und Verlierer eben Gewinner- und Verlierertypen. Und der nachfolgende Fehlschluß ist üblich: Weil die Chancen für alle gleich seien, die Resultate aber so unterschiedlich, wird das Versagen in der Konkurrenz den Gruppen als physische Eigenschaft angedichtet.

Um noch ein Beispiel zu bringen: Die Sortierung der Menschen nach Männern und Frauen mit den Untergruppen Homosexuelle, Heterosexuelle und Bisexuelle hat gar nicht so viel mit der fehlenden Klitoris bei Männern zu tun. Nun gibt es den Naturunterschied des Vorhandenseins einer Gebärmutter selbstverständlich, was nicht unwichtig ist, um zu wissen, ob ein Mensch ein Kind kriegen kann oder nicht und ob beim Sex Nachwuchs rausspringen kann. Ob die Sortierung der Menschheit nach diesem Kriterium nicht selbst schon eine komische Sache ist, brauchen wir gar nicht zu diskutieren, um klarzuhaben, daß sich daraus weder Leichtlohngruppen noch die Zuständigkeit von Frauen für die Reproduktionsarbeit ableiten läßt. Gar nicht zu reden von der terroristischen Forderung, gefälligst als liebende Mutter das eigene Leben den Blagen zu verschreiben. Da das mit Natur nichts zu tun hat, bleibt die Frage, warum der Staat die Hetero-Zweierkiste plus Gören privilegiert. Oder warum bis heute Menschen, die in die Sortierung "Mann und Frau" nicht passen, mit Gewalt und kulturellem Druck hineingepresst werden. Oder warum die braven homosexuellen StaatsbürgerInnen, auch wenn sie nicht mehr von Staats wegen umgebracht oder verfolgt werden, trotzdem nicht vollwertig sind. Augenscheinlich ist es in der Welt des Privateigentums und des Nationalstaats nicht einfach eine Angelegenheit der Leute selbst, wo, wie, mit wem und warum sie miteinander vögeln und ob dabei ein Kind herauskommen kann. Mit Natur hat aber das Interesse an der richtigen Zahl von StaatsbürgerInnen und LohnsklavInnen schon wieder nichts zu tun.

Was soll nicht alles Natur sein! Lauter gesellschaftliche Eigenschaften und staatliche Sortierungen werden als Naturprodukte verkauft und so eben auch die Staatsangehörigen-Kollektive. Wer von "Begabung" und "natürlichen Menschenrechten" redet, sollte bei "arischer Rasse" und "deutschem Blut" nicht die Augenbrauen hochziehen. Das theoretische Fundament ist das gleiche.




3. Nation



"Länder sind nur Grenzen" - Was heißt hier "nur"?


Nationalismus ist Wahnsinn - aber praktisch gemachter Wahnsinn. Wenn eine Idee die Massen ergreift, wird sie materielle Gewalt, hat Marx mal gesagt. Das gilt im guten wie im schlechten. Nationen sind mehr als nur eine diskursiv hergestellte Realität, also eine Wirklichkeit, die wirklich sei, weil alle an sie glaubten. Die Nation ist die unverzichtbare Form der Vergesellschaftung des Kapitalismus; um sie und ihren Erfolg geht es den Machern und den Mitmachern der herrschenden Verhältnisse. Jede Erklärung der modernen Welt, die nicht erläutert, wie in der Nation der Kapitalismus seine Existenzbedingung hat, wie Geschlechterverhältnis und Rassismus mit ihr zusammenhängen, ist falsch oder zumindest wahnsinnig ungenau. Damit ist gesagt, daß die Linke, wenn sie alle Verhältnisse umwerfen will, in denen der Mensch ein geknechtetes, verächtliches Wesen ist, an der Bekämpfung des Nationalismus nicht vorbeikommen wird.

Dazu muß erst einmal die Realität des Nationalismus anerkannt werden. Er ist das verkehrte Bewußtsein einer verkehrten Welt, über ihn ist mehr zu erfahren, als in den jeweiligen ideologischen Schriften seiner Vordenker(innen) zu finden ist. Er ist nicht nur eine Sache von Blut und Mythen, Idealen und Geschichte - sondern eine Sache von Pogromen und Währungsbilanzen, Wahlen und Kriegserklärungen, Hungersnöten und Tarifrunden. Der Nationalismus ist die Parteinahme der konkurrierenden Gesellschaftsmitglieder für das Funktionieren ihres verrückten Vergesellschaftungszusammenhanges, er ist Programm der Politik und Zustimmung der Massen.

Er ist noch mehr als äußerliche Zwangsgewalt, die permanent die Individuen knechtet: Die nationale Vergesellschaftung berührt die Menschen selbst, was ihre Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung ist, was sie "normal" und "pervers" finden. Was für Verkehrsformen untereinander üblich sind, was für eine Bedeutung bestimmte Symbole oder Verhaltensweisen haben, wird durch gesellschaftliche Praxis der Leute bestimmt. Die spielt sich - nicht zufällig, aber keineswegs schon und für immer - in den Grenzen eines Nationalstaats ab. Gerade weil die Menschen auch Ensemble ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse sind, gibt es eine nationale Formierung der Bedürfnisse. Damit soll kein Volkscharakter und keine gesellschaftliche Determination behauptet werden, denn Menschen sind vernunftbegabte Wesen und können sich und ihre Umwelt ändern. Niemand muß etwas denken oder tun, nur weil es gesellschaftlich so üblich ist, und genug tun es für sich privat auch nicht oder doch zumindest nicht so, wie es erwartet wird. Dennoch sollte niemand glauben, die bürgerliche Gesellschaft sei nur eine schwere Kette, die ihre Mitglieder ablegen müßten, um fröhlich und unverändert den Verein freier Menschen aufzumachen. Die Vorstellung, jede/r müsse bei sich selber anfangen, ist verkehrt - schon das "anfangen" ist Stuß, weil das so tut, als ob ein veränderter Umgang mit dem Üblichen das Übliche ändern oder abschaffen würde. Weil die üblichen Umgangs- und Denkweisen zu den Verhältnissen passen, wie die Faust aufs Auge, können MarxistInnen nicht lieben, tapezieren, essen, einkaufen und Fernsehen kucken wie der Rest. Sie können es aber auch nicht ganz anders, weil sie eben auch bürgerliche Subjekte sind, ähnliche Bedürfnisse haben, und zudem die bestehende Gesellschaft Grenzen und Kosten der Freiheit klar definiert hat.



Aber warum funktioniert das so?

Um das zu erklären, muß zunächst mit einem Mythos aufgeräumt werden, dem MarxistInnen und AnarchistInnen bis heute anhängen. Daß der bürgerliche Staat "ideeller Gesamtkapitalist" ist, heißt nicht, daß er eine Agentur der herrschenden Klasse wäre, die immer nur das Wohl der Kapitalisten im Auge hätte. Das war zu Marxens Zeiten tatsächlich so, doch schon damals begann das, was Marx nicht für möglich gehalten hat: die Trennung der politischen Gewalt von der herrschenden Klasse. Die ist nötig, damit der Staat auch wirklich der Anwalt des Funktionierens dieser Gesellschaft sein kann. Was wiederum ziemlich nötig ist, wenn eine Gesellschaft aus lauter KonkurrentInnen besteht.

In die Konkurrenz sind die Mitglieder der Gesellschaft gesetzt: Der bürgerliche Staat hat nahezu alles in der Welt in Eigentum verwandelt, so daß alle für Essen, Trinken, Schlafen, Wohnen etc. bezahlen müssen. Ausdruck ihrer Trennung von allem, was sie brauchen, ist das Geld: Mit dem kann mensch alles kaufen - was gleichzeitig heißt, daß mensch es haben muß, um überhaupt irgendwas kaufen zu können. Dem Großteil der Menschen bleibt nichts übrig, als das zu verkaufen, was sie haben, um an Geld zu kommen: die Arbeitskraft. Genau: die gute alte ArbeiterInnenklasse.

Ein kleinerer Teil der Menschheit hat sich mit anderen Zwängen herumzuschlagen - oder beauftragt und bezahlt Leute, sich für sie mit diesem Problem zu beschäftigen. Sie verfügen über Geld, aus dem sie mehr Geld machen wollen. Das wollen sie übrigens nicht nur, das müssen sie auch. Entweder indem sie Produktionsmittel hinstellen und Leute bezahlen, um damit Waren herzustellen, die sich mit Gewinn verkaufen lassen. Oder indem sie Leuten, die genau das vorhaben, Geld leihen und von ihnen dafür Zinsen bekommen. Bleiben wir klassisch: Die Kapitalisten, die heutzutage übrigens keine schwarzen Zylinder mehr tragen.

Ein ebenfalls recht kleiner Teil der Menschheit hat Grundbesitz und kann für die Benutzung des Bodens von den Angehörigen der beiden anderen Klassen Geld verlangen.

Damit sind ein paar handfeste Interessensgegensätze in der Welt. Das ist wichtig zu kapieren, allerdings sei schon mal verraten, daß damit auch eine Masse gemeinsamer Interessen der Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft vorhanden sind - was nicht heißt, daß es allen dabei gut geht, sondern gerade im Gegenteil. Ohne alle Pointen vorab verraten zu wollen: Den Schlüssel, sich Nationalismus zu erklären, hat mensch genau damit in der Hand.

Bleiben wir erstmal bei den Interessensgegensätzen: Auf den Gütermärkten, dem Arbeitsmarkt, dem Finanzmarkt, dem Wohnungsmarkt, auf all diesen Märkten findet Konkurrenz statt zwischen verschiedenen KäuferInnen, verschiedenen VerkäuferInnen, plus der Tatsache, daß die KäuferInnen möglichst billig einkaufen und die VerkäuferInnen möglichst teuer verkaufen wollen. "Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert." (13) Diese Macht ist der bürgerliche Staat. Das Wörtchen 'Macht' ist dabei durchaus ernst zu nehmen. Der Staat beansprucht ein Monopol auf die im Land ausgeübte oder angedrohte Gewalt. Das läßt er sich von niemandem streitig machen - wenn das doch jemand tut, tatsächlich oder vermeintlich, bekommt er oder sie erst recht die staatliche Gewalt zu spüren. Der ganze bürgerliche Alltag ist durchdrungen von staatlicher Gewalt. Sei es die Schulpflicht, der Gerichtsvollzieher, die Schutzpolizei, die Bundeswehr, der Verfassungsschutz usw. usf. - . Da wird geschützt und abgewehrt, vollzogen und verpflichtet, was das Zeug hält.

Das muß der Staat auch so machen, weil die Verhältnisse, die er einrichtet, ohne ihn nicht funktionieren würden. Das erscheint in den Köpfen der StaatsbürgerInnen so: "Wie soll's denn ohne Staat gehen?"

Dies ist die Erklärung, warum die Leute die Sache mit den Wölfen und Oberwölfen einleuchtend finden: Soll eine Gesellschaft, die auf der blinden Konkurrenz ihrer Mitglieder basiert, funktionieren, braucht sie eine äußere Macht, die sie begrenzt. Wer sonst würde dafür sorgen, daß die "Wirtschaft" floriert und das zur Produktion nötige "Menschenmaterial", die Arbeitskraftbehälter sozusagen, in ausreichender Menge vorhanden und halbwegs in Schuß sind? Dazu tut der Staat Dinge, die keine Kapitalfraktion selber machen würde, z.B. für Bildung und Erziehung des Nachwuchses sorgen, Infrastruktur, wie Autobahnen, zur Verfügung stellen, allgemein für gute "Standortbedingungen" sorgen. Das alles tut er nicht so sehr, weil er die Kapitalisten so lieb hat, sondern weil es für ihn Mittel zum Zweck, nämlich in der Staatenkonkurrenz gut dazustehen, ist. Das muß er, weil alle Staaten dieser Welt - sagen wir mit Ausnahme Nordkoreas und Kubas - die besten Geschäftsbedingungen für ihr Kapital durchsetzen wollen, was Stoff für allerlei Konflikte gibt. Darum ruht Deutschland sich auf seinem Wirtschaftswachstum nicht aus, sondern zettelt eine Debatte nach der anderen an, wie "wir" noch besser werden können, weil die Konkurrenz bekanntlich nicht schläft.

So ist gesichert, daß die Interessen des Kapitals insgesamt befriedigt werden. Und zwar ohne, daß lauter Kapitalisten im Staatsapparat säßen oder alle PolitikerInnen korrupt seien. Der Staat muß ideeller Gesamtkapitalist sein: Er organisiert die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktion, mit denen sich selber kein Geschäft machen läßt (14), die aber eben nötig sind. Und nicht erst seit der Standort-Debatte wissen alle Gesellschaftsmitglieder, daß der Erfolg "der Wirtschaft", auf die alle angewiesen sind, von den richtigen Rahmenbedingungen abhängt, die der Staat setzt. Nach innen und nach außen: Durch Verträge und Bürgschaften, GATT-Runden, Abmachungen und Verhandlungspausen in Weltwirtschaftskonferenzen, Währungspolitik und engagierter Vertretung der nationalen Interessen. Damit die ernst genommen werden, muß jede Nation Gewehr bei Fuß stehen und beweisen, daß sie auch ernst zu nehmen sind! Das heißt: Ihre feindselige Stellung zueinander ergänzen die Gesellschaftsmitglieder um den positiven Bezug auf das gemeinsame Interesse an den Spielregeln und dem Spielregler der wechselseitigen Feindseligkeit, dem sie den Rücken stärken gegen die Schiedsrichter auf anderen Plätzen.

Damit ist ein ziemlich widersprüchliches Verhältnis durchgesetzt. Auf der einen Seite sind alle für den Staat, weil sie ihn brauchen, weil er die Konkurrenz erst in einer Form ermöglicht, bei der nicht jeder Konkurrierende gleich um sein Leben fürchten muß und sich außerdem jede/r darauf verlassen kann, daß Verträge mit anderen auch eingehalten werden. Und wenn die Bullen einen mal nicht niederknüppeln, sondern das geklaute Fahrrad zurückbringen, dann merkt mensch: auch Linksradikale brauchen den Staat, solange es die Verhältnisse gibt, in denen er notwendig ist. Auf der anderen Seite erfährt jede/r den Staat als Beschränkung der eigenen Anliegen - nicht nur beim Fahrradklau -, als Belastung des eigenen Portemonnaies (Steuern, Gebühren), als eine Gewalt, die einen daran hindert, rücksichtslos von der Freiheit Gebrauch zu machen, die sie einem/r einräumt.

Beide Standpunkte haben auch ihre klassischen Namen: Der brave Staatsbürger, der die nützliche Seite des Staates sieht, heißt Citoyen(ne) und das mäkelige Privatsubjekt, das es zwar klasse fände, wenn alle anderen sich an die Regeln halten würden, aber das für sich selbst ziemlich doof findet, nennen wir Bourgeois.

Und jetzt wird's noch komplizierter: Um Privatsubjekt sein zu können, um die eigenen Interessen also verfolgen zu können, muß mensch Staatsbürger/in sein. Einerseits, ganz platt, weil einem jeder Mensch mit einer "falschen" Staatsangehörigkeit diverse Liedchen davon singen könnte, wie hart in der Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt mit Leuten verfahren wird, die keine StaatsbürgerInnen (oder ihnen aus staatspolitischen Gründen gleichgestellt) sind - wenn sie überhaupt zu diesen Märkten zugelassen werden. Zum anderen aber ist das Verfolgen der eigenen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft gerade davon abhängig, daß es den Staat gibt. Also: Um Bourgeois zu sein, muß ich immer auch citoyen sein, um meine Interessen verfolgen zu können, muß ich ihre Beschränkung wollen, weil: "Wo kämen wir denn hin, wenn alle machen könnten, was sie wollten". Und bloß nie die Frage stellen, warum die Leute lauter Sachen wollen, bei denen sie sich in die Haare kommen, sondern immer nur schön sagen: "Der Mensch ist eben so".

Um noch einen drauf zu setzen: Wer die eigene Arbeitskraft verkaufen will, der/die braucht auch einen Aufkäufer, ist also darauf verwiesen, daß dieser oder ein anderer möglicher Aufkäufer Erfolg hat. Dafür müssen die Aufkäufer Geld verdienen, und zwar mehr als sie investiert haben. Das heißt: Sie müssen möglichst billig produzieren. Um in der Konkurrenz mit den anderen zu bestehen, dürfen die Produkte nicht zu teuer sein. Die Stückkosten sollen möglichst niedrig sein. Aber: Um Geld zu haben, um bessere Maschinen zu kaufen, die dann - obwohl sehr teuer - die Arbeitsproduktivität erhöhen, damit das Produkt billiger (oder besser) produziert wird, muß was übrig bleiben. Eben: Kosten runter. Aber wie? Maschinen und Fabrikgebäude haben ihren Preis, Arbeitskräfte auch. Jeder Unternehmer versucht, die Ausgaben für den Lohn so niedrig wie möglich zu halten; wie überhaupt alle Kosten. Nur: Das hat Grenzen. Darum müssen Unternehmen rationalisieren, sprich: Leute überflüssig machen, mit weniger Beschäftigten auskommen. Oder, wenn es gelingt, den KonkurrentInnen Marktanteile abzunehmen, mit der gleichen Anzahl ArbeiterInnen mehr Waren herzustellen. Dafür re-investieren Unternehmen ihre Gewinne. Jedes Unternehmen versucht so wenig ArbeitnehmerInnen wie möglich zu beschäftigen. So wenig wie möglich können Zehntausende sein; das ist relativ. Kapitalisten geben viel Geld aus, um billiger produzieren zu können, um damit mehr Geld zu machen.

Menschliche Arbeitskraft ist stets zu teuer. Da wo es Gewerkschaften gibt, wo Leute lesen und schreiben können, wo der Staat gewisse Standards vorschreibt mehr als anderswo. Solche Zustände haben ihre Vorteile. Leute können etwas, was ihnen darum nicht erst beigebracht werden muß. Oder sie sind aus Angst um ihren Lebensstandard besonders friedlich. Kurzum: Die Produktion läuft ohne Störungen, weil die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, statt zu streiken, an den Standort denken.

Also muß abgewogen werden: Was ist billiger? Hierzulande mit Maschinen produzieren oder mit menschlicher Arbeitskraft? Oder ist es sogar billiger, den ganzen Betrieb auszulagern - in Länder, wo die Leute für einen Hungerlohn schuften. Darauf antwortet die deutsche ArbeiterInnenklasse, die so nicht heißen will, ganz brav: Lohnverzicht, 30-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich, bescheidene Tarifforderungen, Abschaffung des Buß- und Bettages - da gibt es nichts, was die deutschen LohnsklavInnen nicht mitmachen würden.

Denn: Die ArbeiterInnen sind an das entgegengesetzte Interesse 'ihres' Unternehmens gefesselt. Weil sie leben wollen, müssen sie arbeiten. Damit sie arbeiten können, brauchen sie jemand, der sie beschäftigt. Damit der sie beschäftigen kann, muß er Geld haben und sein Laden muß laufen. Damit sein Laden läuft, muß er ... Die ArbeiterInnenklasse, so hat Marx es mal formuliert, arbeitet permanent an ihrer eigenen Überflüssigmachung. Die ArbeiterInnen schaffen die Gewinne, mit denen ihre Jobs wegrationalisiert werden. Das wäre gar nicht so schlimm:

Sollen sie doch! Dann hätten die Menschen Zeit, was Vernünftiges zu machen. Aber eben leider nur, wenn wir auch in einer vernünftigen Gesellschaft leben würden. Solange die Leute als lästige Kostenfaktoren verhandelt werden - und nicht Sinn und Zweck des Ganzen sind - solange werden Leute Angst um ihren Arbeitsplatz haben und sich fragen, wovon sie die Miete zahlen sollen. Solange das so ist, können wir allen nur heftig empfehlen, für höhere Löhne zu kämpfen, sich die paar Rechte nicht nehmen zu lassen und sich tagtäglich ihrer Haut zu wehren.

Damit das nicht so bleibt, müßten sich die Leute zusammen tun, die etwas ändern wollen. Der Großteil der werten StaatsbürgerInnen will nichts ändern - jedenfalls nichts von dem, was geändert werden müßte.



Die Leute und ihr Schaden

Auf Aufklärung kommen sie dabei weder klar noch sind sie an ihr interessiert. Und das ist erklärungsbedürftig. Die Leute haben doch 'nen Schaden! Im doppelten Sinne des Satzes.

Theoretische Grundausstattung geht ungefähr so:

1.) Die Welt ist eben, wie sie ist, ich kann's nicht ändern, denn die da oben machen ja doch, was sie wollen, und ich muß ja irgendwie zurechtkommen. Alles andere ist schöner Traum, den ich zwar auch mal früher geträumt habe (das stimmt im seltensten Falle!), aber man muß die Sache doch realistisch sehen: Versuch' doch mal lieber was konkretes zu verändern.

Bis heute ist uns unverständlich, was eigentlich "realistisch" daran sein soll, den Kapitalismus menschenfreundlicher und besser machen zu wollen. Hat mensch nämlich herausgefunden, daß Kapitalismus und Nationalstaat mit Notwendigkeit den ganzen kritikablen Mist produzieren, dann hat es viel mit Anpassungbereitschaft, nichts aber mit Realismus zu tun, sich einzureden, das Gröbste auch irgendwie anders aus der Welt zu bekommen. Es sei denn, mensch hat sich schon darauf versteift, Krieg, Hunger und Rassismus in Kauf zu nehmen, dafür aber wenigstens klare Restlaufzeiten für Atommeiler durchzusetzen. Wer versucht, Leute von der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen zu überzeugen, kann scheitern. Wer das gar nicht erst versucht, wird damit zwar nicht scheitern, tut aber etwas dafür, daß sich gar nicht erst etwas ändern kann. Ein ziemlich realistisches, aber auch unerfreuliches politisches Programm.

2.) Wie soll's denn sonst gehen! Hat man doch gesehen, wohin das führt, wenn keiner führt! Uns geht's doch gut, schau Dir doch mal Afrika an! Der Mensch ist nun mal egoistisch, und unsere Gesellschaft sorgt dafür, daß er es so ist, daß es allen zugute kommt: Wenn jeder an sich selber denkt, ist doch an alle gedacht!

Den Kalauer muß sich auch jede/r Angelinkste anhören, seit die DDR sich selbst abgeschafft hat. Mit dem Hinweis "gescheitert" soll alle Kritik widerlegt sein, wird also der Erfolg als das Gütezeichen eines Systems gesehen. So ernst ist das nicht gemeint, denn in jenen Zeiten, als die UdSSR noch recht erfolgreich die Weltmacht Nummer zwei abgab, waren oder wären die meisten nicht für den Staatssozialismus gewesen. Daß "der Mensch" zwar ganz schön egoistisch sein soll, dann aber doch über die nötige Einsicht verfügt, sich schnell zu Staaten zusammenzurotten, ehe er seinem Naturtrieb des Konkurrierens und Meuchelns nachgeht, ist bislang ein ungeklärtes Welträtsel. Es wird auch eins bleiben, weil es nämlich um ein interessiert-moralisches Vorurteil geht, das die gesellschaftliche Praxis rechtfertigt und nicht um die Klärung, ob es wirklich so bleiben muß, wie es ist. Aber nur um das zu beweisen, muß von der Selbstzerstörung des Realsozialismus bis zum ungeputzten WG-Klo alles dafür herhalten, daß "der Mensch" eben genau so ist, wie´s zu den Verhältnissen paßt.

Prima wäre aber, wenn alle Leute tatsächlich so kalte RechnerInnen wären, die Nutzen und Schaden für sich bestimmen würden. Das würde die Agitation für eine Welt ohne Nationen und Klassen doch deutlich erleichtern, weil dann nämlich der Vergleich als Argument nicht mehr ziehen würde: Aus dem Vergleich zwischen Magen-Darm-Grippe und Beulenpest kommt eben nie die Begeisterung für Kotzen, Durchfall und Fieber heraus.

3.) Dir geht's doch zu gut! Du müßtest mal so richtig hart arbeiten, da würden Dir die Flausen aber vergehen. An allem rummeckern, was wir in harter Arbeit aufgebaut haben - Du gehörst doch auch zu denen, die alles bestreiten, außer ihrem Lebensunterhalt! Kein Wunder bei den ganzen Ex-68ern als Lehrer!

Hier geht es dann gar nicht mehr um Argumente - sondern um die Berechtigung, überhaupt Argumente vorzubringen. Der Wille zum Einfügen wird hier rabiat. So rabiat, daß er die Gewalt, die im kapitalistischen Alltag verübt wird, gar nicht ableugnet, sondern noch als Erziehungsmittel gegen die Flausen von einer besseren Welt empfiehlt.

Zornig und haßerfüllt sind sie höchstens auf ausländische ArbeitnehmerInnen, weil sie zu billig sind. Oder auf ausländische Unternehmen, die 'ihren' Betrieb übernehmen wollen. Denen liegen doch deutsche Arbeiter gar nicht am Herzen! Oder auf UmweltschützerInnen, die ihrem Unternehmer Steine in den Weg legen. Oder auf böse Banker, die immer nur ans Geld denken. Oderoderoder.

Ob resignativ, zustimmend oder fanatisch: Mensch kann sich viele Reime darauf machen, warum das Leben so, wie mensch es führt, in Ordnung geht. Ihr Leben und die Verhältnisse, unter denen sie leben, lassen sich in der Tat nicht trennen. Was wäre das auch für ein Schlag ins Kontor: Arbeit nur Plackerei für fremden Reichtum, Sex nur alberner Anspruch auf Bestätigung qua Orgasmus, Liebe nur romantisch-verblödete Hoffnung in einem anderen Menschen den wahren Hort der Glückseligkeit gefunden zu haben, Sport und Spiel nur für die Reproduktion der Arbeitskraft und als arg dämlicher Ersatznationalismus (Fußball!), der Staat nur als Verwalter der allgemeinen Konkurrenz, die werte Familie ein ökonomischer Zwangszusammenhang mit viel Gefühl und der Großteil der "eigenen Meinung", auf die mensch so stolz ist, nur bekloppte Variante, die Welt im Interesse des Seelenfriedens mißzuverstehen.

Nein, das würde keine Freude machen. Das wäre nicht bloß "unbequem", sondern die Infragestellung des Sich-Einhausens und Sich-Anpassens und all der materiellen und psychischen Opfer, die dafür gebracht werden müssen. Jedoch: "Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik ... enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte, wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch." (15) Das ist ein lohnendes Projekt. Dessen Erfolgsaussichten sind zur Zeit freilich gering. Die eigene Unzufriedenheit so loszuwerden, daß mensch als radikaler Verteidiger der herrschenden Ordnung loszieht, ist viel attraktiver. So kann Protest radikal sein und zulässig - eben das, was Adorno "konformistische Rebellion" genannt hat. Das ist nicht nur moralisch im landläufigen Sinne, sondern erlaubt auch eine Versöhnung mit Verhältnissen, die einem/r nicht gut tun. Damit ist mensch von der Zumutung befreit, mit der Kritik an der bestehenden Gesellschaft den eigenen Lebensprozeß als verkehrt zu begreifen und zu ändern - "ich will so bleiben wie ich bin, du darfst".

All denjenigen, die die maulige Ostalgie der ehemaligen DDR-BürgerInnen für etwas schwer sozialistisches halten, nur soviel entgegnet: hier ist genau der beleidigte Anpassungswillen am Werk, der nicht wahrhaben will, daß "alles" schlecht war oder ist, weil es der eigenen Unterwerfungsbereitschaft ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt. Ihn unterscheidet von seiner West-Ausgabe nur, daß der Staat DDR nicht mehr existiert.

Zur Sicherheit sei angemerkt: Damit soll erklärt werden, mit welchen Gedanken die Leute es abwehren, sich über die Schädlichkeit des Mitmachens aufklären zu lassen - warum sie mitmachen und wie sie auf ihre Gedanken kommen, ist nur aus der Notwendigkeit des Staates für die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu erklären.



Rassismus und Antisemitismus

Nun heißt das alles nicht, daß die Zustimmung zu den bestehenden Verhältnissen bruchlos wäre. Eine Sorte Kritik der bürgerlichen Gesellschaft hatte in Deutschland mal ziemlich Hochkonjunktur und scheint weltweit recht verbreitet zu sein. Jene Kritik nämlich, die behauptet, die Jüdinnen und Juden würden hinter allem stecken. Diese Sorte Rassismus wirft immer wieder eine Menge Fragen auf: Warum werden Menschen zu dieser Minderheit zusammengefaßt und als Motor aller Ereignisse auf der Welt betrachtet?

Belegt der Antisemitismus tatsächlich nur, "wie stereotyp der Gemeinschaftsgeist zu Werke geht, wie gebetmühlenartig ihm die Wahnsinnstaten früherer Generationen als ganz guter Ratschlag für die Konstruktion gegenwärtiger Feindbilder einfallen, wieviel Borniertheit also unterwegs ist, wenn ein kollektiver Fehler sich seine Tradition verschafft"?(16) Ist gar, wer sich nach den Konstitutionsbedingungen des Antisemitismus fragt, schon dabei zu versuchen, an den Jüdinnen und Juden Merkmale zu finden, die sie zu Opfern machte, also ihnen indirekt die Schuld an ihrer eigenen Verfolgung zu geben, wie verschiedentlich behauptet wird?

Die Theorie würde uns besser gefallen, hätten die Nazis auch Religionskriege und Hexenverbrennungen durchgeführt. Da schienen sich bestimmte "Fehler" fortgesetzt zu haben. Einige Wahnsinnstaten stachelten nicht zur Konstruktion gegenwärtiger Feindbilder an, andere schon.

Tatsächlich haben die realen Jüdinnen und Juden mit dem Antisemitismus wenig zu tun - umso mehr aber die Bilder, die sich die JudenhasserInnen und ihre modernen antisemitischen NachfolgerInnen von den Jüdinnen und Juden gemacht haben und machen. Da fällt die Differenz zu allen anderen Rassismen auf: Der Antisemitismus ist nicht die Verklärung der Hierarchie der kapitalistischen Gesellschaft, die Rechtfertigung für existierenden Ausschluß und vorhandene Unterdrückung und die Herleitung der gesellschaftlichen Stellung von Leuten aus ihrem biologischen Wesen. Im Gegenteil: Er behauptet, daß in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gruppe von Leuten zu Einfluß und Macht gekommen sei, der das nicht gebühre und die ihre Machtstellung zu den bösest möglichen Plänen nütze.

Der Rassismus behauptet die Minderwertigkeit von Menschengruppen gegenüber anderen und die Notwendigkeit von Herrschaft über, manchmal auch Krieg gegen die 'Minderwertigen'. Der Antisemitismus behauptet die Existenz einer 'Gegenrasse', die zwar in letzter Konsequenz schon recht 'minderwertig', aber ein bösartiger, im Geheimen operierender und im hohen Maße tückischer Gegner sei. Daß die Welt und die Menschheit bedroht seien, haben auch andere Rassismen in die Welt gesetzt - die Warnungen vor der 'gelben Gefahr' oder dem 'bolschewistischen Chaos' sind schon länger unterwegs, ebenso die Warnungen vor den barbarischen 'Hunnen' (Deutschen) oder den degenerierten Franzosen. Aber zu einer so monströsen Bedrohung hat bis dahin kein Rassismus die von ihm ausgemachte 'Rasse' aufgeblasen: "Siegt der Jude (...) über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen." (17) Der Weg dieses so vollkommen zweckleere Unterfangen zu verfolgen, war die Vernichtung der Super-Super-Rasse, der Arier, die sich aus bis heute nicht geklärten Gründen, nicht etwa in Skandinavien herumtrieben, sondern - von Zufall mag mensch hier kaum sprechen - genau in jenem Land, das sich Herr Hitler zum Vaterland ausgesucht hatte und dessen Führer er dereinst werden wollte: "So ist der Jude heute der große Hetzer zur restlosen Zerstörung Deutschlands. Wo immer wir in der Welt Angriffe gegen Deutschland lesen, sind Juden ihre Fabrikanten (...)." (18) Nun kann mensch natürlich einwerfen, daß die bürgerliche Gesellschaft viel psychisches Elend produziert und Verschwörungstheorien der albernsten Art weder heute noch damals eine Seltenheit gewesen sind. Nur, wenn mensch Wahnsinn erklären will, ist es wenig hilfreich, immer darauf zu beharren, daß es sich um "Wahn" gehandelt hat - also nicht stimmt. Besser ist dann doch, mal weiterzufragen, was der Sinn des Wahns wohl gewesen ist. Und zwar nicht in der platten Weise, daß es die Herrschenden umso leichter hätten, je bescheuerter ihre Untergebenen sind, sondern die Frage aufzuwerfen, welche gesellschaftlichen Sachverhalte absurd-verkehrt in den Wahngebilden wildgewordener NationalistInnen auftauchten. Eine Wahnvorstellung, die Bestandteil der Plattform einer Massenbewegung und dann sogar Staatsprogramm wird, ist mit vielen individuellen Psychopathologien schlecht erklärt.



Antikapitalismus für NationalistInnen

Die Jüdinnen und Juden galten als raffende Schacherer, die sich als Schmarotzer an der ehrlichen Arbeit ihrer 'Wirtsvölker' bereicherten und als wurzellose Intellektuelle, denen nichts heilig wäre und die mit zersetzender Kritik immer nur zerstörten, aber nichts aufbauten - und beide galten als totale Egomanen, denen Opferfreudigkeit, Ehre, Ruhm und Treue von Natur aus fremd wären. Damit waren sie Gegenbilder zum nationalistischen Ideal des tapferen, wagemutigen, hart und ehrlich arbeitenden, schöpferischen Mannes und seiner braven weiblichen Ergänzung, wie die nationalistischen Ideologen sie sich zurechtpinselten.

Nun hat sich dieses Ideal des produktiven Staatsbürgers und der produktiven Staatsbürgerin sicherlich gewandelt, softer und pluralistischer ist mensch geworden. Und trotzdem: Der böse Geschäftemacher, der rücksichtslose Profitmacher, der geldgierige Bankier - sie alle gelten in einer Welt, in der aus Geld mehr Geld werden soll gar nicht als positive Vorbilder. Von vielen FreundInnen deutschen Wirtschaftswachstums wird die blöde Behauptung "Geld regiert die Welt" resigniert-seufzend oder sogar böse-kritisch vorgebracht. Hier ist ein Bewußtsein am Werk, das untersucht gehört.

Kein Geheimnis ist, was gute NationalistInnen gegen "wurzellose Elemente" und "internationales Finanzkapital" haben. Daß eine/r ganz ohne Vater- und Mutterland auskommen könnte, daß Heimat gar der Ort sein könnte, wo mensch einfach ein gutes Butterbrot bekommt (Loesje) - all das kann ein Denken, das sich auf das Sich-Einfügen in die Verhältnisse versteift hat, nicht leiden. Daß die eigene Nation von den Kalkulationen und doch eher fragwürdigem Geschäftsgebaren ausländischer Geldleute abhängig sein soll, daß da also Ausländer, seltener -Innen, ganz schön viel Macht im Inland haben, das halten radikale LiebhaberInnen ihres Vaterlandes für eine Gefahr. Daß die Jüdinnen und Juden für sie beides symbolisierten, springt dabei noch nicht raus. Denn nur, daß es an vielen Orten der Welt Synagogen gibt, macht die Leute, die hineingehen - oder deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern da mal hingegangen sind - noch nicht zu AusländerInnen.

Daß die Jüdinnen und Juden mit Handel und Geld gleichgesetzt wurden, ist erst mal nicht so verwunderlich. Ganz egal, wieviel Juden wirklich in dieser Sphäre tätig waren, sie waren zu lange auf sie beschränkt, um nicht mit ihr identifiziert zu werden. Durch Zunftgesetze und allerhand anderen vorbürgerlichen Krempel waren die Juden auf die verachteteten Tätigkeiten des Geldwechslers, Pfandleihers und Kleinkrämers beschränkt. Was diese "unehrenhaften" Berufe von Scharfrichtern und Schauspielern unterscheidet, die ebenfalls 'unehrenhaft' waren, ist nur eins: Sie haben mit genau jenem Zeug zu tun, das in der bürgerlichen Gesellschaft eine ziemlich zentrale Rolle spielt: Geld.

Als der Kapitalismus sich durchsetzte, ging es brachial zu. Er wurde gewaltmäßig vom Staat durchgesetzt: Bauern wurden verjagt, Handwerker niederkonkurriert, Löhne wurden gedrückt und manches, worauf mensch sich bisher verlassen konnte, galt nicht mehr. Für ihre elende Situation machten die Menschen zumeist den Handel und das Kreditwesen verantwortlich. Denn die machten ihnen handfest deutlich, daß im Kapitalismus ein ganz neuer Maßstab des Reichtums an die Produktion angelegt wurde.

Wir hatten bereits erläutert, warum Kapitalisten danach streben, möglichst effektiv zu produzieren, warum sie die Kosten drücken, wo sie können. Eine Konsequenz davon aber ließen wir unerwähnt: Wer die neuen Produktionsmethoden nicht einführt - z.B. weil die Mittel dafür nicht da sind - ist ganz schön angeschmiert. Seine/ihre Waren sind zu teuer und müssen entweder unter ihren Enstehungskosten verkauft werden oder sind sogar unverkäuflicher Müll. Das gleiche Gewerbe, das einen Jahr und Tag ernährt hatte, konnte von einem Tag auf den anderen nichts mehr bieten. Lauter Waren, Produkte harter Arbeit und handwerklichen Geschicks konnten in der Konkurrenz mit den billigeren Maschinenprodukten nicht mithalten; am Ende mußte mehr gearbeitet werden, um noch weniger zu verdienen als vorher. Vor allem wenn, wie es im Laufe des 19. Jahrhunderts der Fall war, die recht zurückgebliebene Produktion plötzlich mit dem Weltmarkt konkurrieren mußte und die Preise von so undurchsichtigen und undurchschaubaren Dingen wie Börsenkursen oder dem Ausgang des nordamerikanischen Bürgerkrieges abhingen.

Vor der Abschaffung von Leibeigenschaft und Zunftzwang waren die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar nicht minder bekloppt, aber immerhin recht durchsichtig. Pfaffen, Adel und Stadtpatriziat hatten bestimmte Vorrechte und Bauern und Handwerker hatten dafür die nötigen Sachen und öfter auch mal Geld heranzuschaffen. Vieles wurde für den Eigenbedarf produziert, und die Märkte waren recht streng reglementiert. Mangel war das einzige, was reichlich vorhanden war, und schlechte Ernten produzierten Hungersnöte.


Der Sprung in eine Ordnung, in der Krisen nicht mehr durch Mangel, sondern durch Überfluß zustande kamen, in der KonkurrentInnen miteinander um die billigst mögliche Produktion wetteiferten, in der fortwährend die Produktion revolutioniert wurde und die Maschinen, die gestern noch sehr effizient waren, heute nur noch unverkäuflichen, weil zu teuren Müll produzierten - da hakte es bei ZeitgenossInnen dieser Vorgänge.

Darum glaubten viele, Handel und Kredit seien Schuld am Mangel und riefen nach dem Staat als Beschützer der "ehrlichen Arbeit", die bekanntlich nicht schändet - allerdings meistens ganz kräftig schadet. Daß in der neuen Ordnung ganz massenhaft Bauern und Handwerker in die Fabriken getrieben wurden, weil sie bankrott gingen oder die Ablösung der Feudallasten nicht bezahlen konnten, führte wiederum zu einer neuen Quelle von Empörung. Vom Reichtum, den die ArbeiterInnen produzierten, hatten sie nichts und da sie das Kapital nicht gelesen hatten - das kam erst 1867 auf den Markt und war für ArbeiterInnen viel zu teuer - kamen sie auf lauter falsche Ideen, was der Zusammenhang ihrer Armut mit dem so offensichtlichen Reichtum wäre.

Die ArbeiterInnen wußten damals so wenig wie heute, daß die Menschen im Kapitalismus nur ihre Arbeitskraft verkaufen. Das heißt, daß sie für einen bestimmten Zeitraum jemandem das Kommando über ihre Zeit und Fähigkeiten für Geld überlassen. Der Witz liegt aber darin, daß der Lohn nichts mit dem Wert der Waren zu tun hat, die der Arbeiter für den Kapitalisten produziert. Der Arbeiter hat seinen Lohn bekommen und der Erlös wandert in die Tasche des Kapitalisten, er ist sein Eigentum. Nun würde ein Kapitalist keine Produktion anschieben, wenn er nicht davon ausgehen würde, die Produkte profitabel loszuwerden.

Der Schlüssel für die Erklärung dieses scheinbar aus dem Nichts kommenden Gewinns ist, daß die Arbeit zwar der Grund für den Wert einer Ware ist, dem Arbeiter aber nur die Fähigkeit zu arbeiten entgolten wird. Der Kapitalist läßt den Arbeiter länger arbeiten als es für den Gegenwert des Lohnes notwendig wäre, sprich: die vom Arbeiter in 8 Stunden hergestellte Warenmenge repräsentiert einen weitaus höheren Wert als dasjenige, was er am Ende des Tages in seiner Lohntüte nach Hause trägt.

Nun wird der Lohn aber - egal ob Zeit- oder Stücklohn - an die Leistung, also die Arbeit, angebunden. Aber nur, wer sich den Profit des Kapitalisten erklären will, kommt über den oben gemachten Gedanken dazu, daß die Bezahlung der Arbeit selbst bloßer Schein ist. Der Stunden- oder Stücklohn ist schon vorher vom Kapitalisten so kalkuliert worden, daß nicht der gesamte Wert einer Ware an den Arbeiter geht. Für den Arbeiter reicht der schaffbare Stücklohn meist gerade aus, sein Dasein als Arbeiter zu erhalten. Nicht umsonst ist die Biographie der Masse an Leuten gleich: Schule, Arbeit, Rente, Kiste.

Bleibt mensch aber bei dem Schein, daß die Arbeit selbst bezahlt wird, stehen und fragt sich wegen des dünnen Geldbeutels von einem interessierten Standpunkt aus, woher der Gewinn des Kapitalisten kommt, so lautet die plausible Antwort: Betrug! Entweder an den KäuferInnen durch zu hohe Preise, oder an den ArbeiterInnen durch zu niedrige Löhne.

Was eine solche Sorte Erklärung für sich hat, ist nur allzu klar: Mensch kennt die Gesellschaft, in der mensch lebt, als eine, in der alle Leute Interessen verfolgen. Die Beteiligten der Konkurrenz sind mit Willen und Bewußtsein begabt und müssen agieren. Daß sie gleichzeitig durch ihr Handeln Gesetzmäßigkeiten produzieren, nach denen sie sich selber richten müssen, daß sie zwar ihre Gesellschaft machen, aber eben nicht aus freien Stücken, das ist schwer vorstellbar. Das ist auch verrückt und stellt sowohl der entsprechenden Gesellschaft als auch der geistigen Verfassung ihrer Mitglieder ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Hinter der ganzen Geschichte ein ebenso verborgenes, wie bösartiges Interesse zu vermuten, das von einer Verschwörergruppe mittels eines im Geheimen ablaufenden Planes verwirklicht wird, hält sich an das Gewohnte: Lauter Leute verfolgen ihre Interessen und einige tun es böserweise maskiert. So kommt endlich Sinn in die irrsinnige Konkurrenz innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Nationen um den Reichtum der Welt. "Das Unrecht hat Name und Adresse" - hingehen, klingeln und sich beschweren.

Was der Antisemitismus noch leistet, ist, daß er Gesellschaftskritik ohne jede Kritik ermöglicht: Nichts ist wirklich verkehrt, es wird nur mißbraucht von einer bösen Gruppe, die nach der Sortierung eigentlich nicht dazugehört, sondern sich unter Anwendung unschönster Mittel an die Macht geschwindelt hat. Und damit wäre die Welt dann wieder in Ordnung, jedenfalls eigentlich.

Eine etwas andere Sache ist der Antisemitismus, der seit 1945 in Deutschland grassiert. Hier kommt nämlich noch eine Sache dazu, die den Antisemitismus latent hält: Das beleidigte Nationalgefühl, das den Opfern die notwendige Distanzierung von gewissen Teilen der eigenen Nationalgeschichte nicht verzeihen kann, was wirklich ein deutsches Spezifikum ist.



3. Deutschland



Unser Problem heißt Deutschland

Seit dem 3.10.1990 sind die Menschen, die nach herkömmlicher Lesart "Deutsche" sind, in einem Staat vereinigt. Angefangen hat alles damit, daß am 9. November die Regierung der DDR "die Mauer" öffnete. Das soll ein ganz großer Grund sein, sich zu freuen: Denn hier ist angeblich nicht nur ganz viel Freiheit erkämpft worden, sondern Deutschland wurde eins.

Angeblich gibt es ein deutsches Volk, das ein Recht hat, nämlich das, von ein und derselben Obrigkeit regiert zu werden. 40 Jahre lang mußte sich die Obrigkeit West damit herumschlagen, daß ein Drittel der Leute und ein dicker Batzen des Gebiets, den sie für "Deutschland" beanspruchte, nicht zu ihrer Verfügung stand. Die rührigen westdeutschen PolitikerInnen aber haben nie den Anspruch auf dieses Gebiet und diese Menschen fallen lassen, haben sogar das Kriegsbündnis des freien Westens, die NATO, damals dazu gebracht, die deutsche Einheit in ihren Zielkatalog aufzunehmen. Jede Aktion des westdeutschen Staates zielte auch immer darauf, Bedingungen in der Welt herzustellen, die die Ergebnisse des II. Weltkriegs revidieren, die staatssozialistischen Länder schwächen und Deutschland wieder zu einer politisch, militärisch und wirtschaftlich voll handlungsfähigen Großmacht machen sollten.

Nur dieser Anspruch der BRD auf das Staatsvolk der DDR machte es überhaupt möglich, daß aus dem Ruf "Wir sind das Volk", womit lauter Untertanen auf ihr Recht bestanden, zu bestimmen, wer über sie bestimmt, die Parole "Wir sind ein Volk" werden konnte - nicht jede Gruppe von Menschen, die mit ihren Lebensumständen unzufrieden ist, kann sich einfach der Weltwirtschaftsmacht BRD anschließen; die Opfer deutschen, amerikanischen und japanischen Wirtschaftswachstums in der sog. Dritten Welt schon gar nicht.

Die BRD hatte alle DDR-BürgerInnen mit einem weltweit einzigartigen Privileg ausgestattet: Sie hatte ihnen über die automatische StaatsbürgerInnenschaft der BRD die Gelegenheit gegeben, sich dem westdeutschen "Nein" zur Existenz der DDR anzuschließen. Dafür bot der realsozialistische Alltag manchen Grund. Die DDR-BürgerInnen haben das in den falschen Hals gekriegt: Daß ihre Gründe und die der BRD so ziemlich die gleichen wären und die westdeutsche Staatsmacht wohl ihr persönliches Wohl im Auge hätte, wenn sie die DDR in Frage stellt.

Das Gejammer im zehnten Jahr der Einheit über die "Fremdheit zwischen Ost und West" zeigt, daß all die versponnenen Legitimationsideologien, was denn der Kitt des deutschen Volkes sein soll, Sprache, Kultur, Mentalität etc., Blödsinn ist. Aber ein gefährlicher Blödsinn, ein mit Staatsgewalt und Massenzustimmung ausgestatteter Blödsinn, ein ausgrenzender und verfolgender Blödsinn, ein mit der Macht einer erfolgreichen Nation ins Recht gesetzter Blödsinn.

So sieht die neue deutsche Einheit auch aus: Die Mauer ist weg, dafür sterben Menschen an der deutsch-polnischen Grenze. Ausgewiesen wird niemand mehr aus der DDR; abgeschoben werden jetzt die Flüchtlinge in Terror und Tod. Die Stasi schnüffelt niemandem mehr hinterher. Das machen nicht erst seitdem Verfassungsschutz, MAD und BND. Dazugekommen ist der Bundesgrenzschutz, der alle filzen darf und jetzt in Städten patrouilliert. Staatlich organsisierte Demonstrationen gibt es nicht mehr; aber die Bilder von privatem politischem Engagement für Verschärfung des Asylrechts gingen um die Welt: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen - und die vielen west- und ostdeutschen Städte, die nicht im Fernsehen erwähnt wurden und werden. Keine Volkspolizei hindert mehr Leute am Demonstrieren: Demokratische PolizistInnen räumen Castor-Demos ab. Keine Nationale Volksarmee schlägt den Prager Frühling nieder, sondern die Bundeswehr zieht los und bombardiert Länder, die schon im II. Weltkrieg Bekanntschaft mit den Produkten deutscher Waffentechnologie gemacht haben ...

Die Krönung aber: Seit 1999 tritt dem US $ eine neue Währung als ernsthafter Konkurrent gegenüber: Der Euro, Währung der Europäischen Union, des Staatenbundes, der längst auf dem Weg zum nicht nur konkurrierenden, sondern auch konkurrenzfähigen Machtblock ist. Und noch die Hoffnung aller anderen Mächte, Deutschland damit "einzubinden", ist nichts weiter als die Anerkennung deutscher Macht und Größe in den 90er Jahren. Ob das widersprüchliche Vorhaben, die Größe der eigenen Nation zu fördern, indem sie mit ihren Konkurrenten einen Staatenbund gründet, so glatt aufgeht, wie seine Architekten sich das wünschen, ist dabei noch nicht raus.

Sorgen machen braucht sich Deutschland nicht um die militärische Vertretung seiner Interessen: Zwar nicht alleine, aber doch mit den werten europäischen Bündnispartnern zusammen, stellt Neugroßdeutschland eine Macht dar: In der WEU versucht man auch, sich zumindest teilweise von den USA unabhängig zu machen.

Die Erfolge Deutschlands sind kaum abzustreiten. Aber wie sind sie zu erklären?



Nationale Verschiedenheit der ideellen Gesamtkapitalisten

Darauf, daß ein bürgerlicher Staat sich das Gelingen der Kapitalverwertung zum Zweck setzt und setzen muß, will er seine Gesellschaft am Laufen halten, haben wir bereits hingewiesen. Darin gleichen sich alle bürgerlichen Staaten. Worin sie sich nicht gleichen ist die konkrete Gestalt der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Kapitalverwertung, die jeweiligen Verhältnisse zu anderen Staaten und die jeweils unterschiedlichen vorhandenen ökonomischen Mittel. Gerade daß sie das gleiche unterschiedlich tun müssen, um mit anderen Staaten konkurrenzfähig zu sein, produziert die Unterschiede.

Darin entpuppt sich das Geschwätz vom "amerikanischen Pioniergeist" oder "rheinischen Kapitalismus" als eben die Parteilichkeit für den Erfolg der eigenen Nation in der Zustimmung zum Erfolgs"rezept". Mit Rezepten ist das aber so: Ohne Zutaten, Kücheneinrichtung und Köche, also ohne die materiellen Voraussetzungen, macht eine/n so ein Rezept auch nicht satt. Will sagen: Erfolg und Mißerfolg einer Nation sind nicht bloß Fragen des Geschicks der Staatsführung beim Handling der politischen und ökonomischen Rahmendaten.

Eine andere Sache ist die Frage, was die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder für das Allgemeinwohl oder den nationalen Erfolg hält. Das ist eine Übersetzung des oben angegebenen Verhältnisses, aber eben eine Übersetzung und nicht das gleiche. Ob ein Staat den pursuit of happiness deklariert und darum die Erfolglosen als unnütze Behinderung der Erfolgreichen behandelt und das Gemeinwohl in jeder Form des erlaubten Kapitalwachstums befördert sieht, oder ob ein Staat "soziale Stabilität" ganz groß schreibt, die ArbeiterInnenklasse in den Staat integrieren will und dem Kapital durch staatliche Politik bestimmte Formen aus Geld mehr Geld zu machen, nahegelegt werden; das alles entscheidet sich selbstverständlich zuerst und vor allem daran, was für eine Rolle ein Staat in der Welt spielt, was er sich leisten kann und wo er korrigierend eingreifen muß.

Wenn ein Staat, wie Deutschland, den Kapitalismus eher widerwillig als das siegreiche Prinzip seiner Gegner akzeptiert, wenn eine Klasse den Staat lenkt und führt, für die Kapitalverwertung nicht der Zweck, sondern Voraussetzung des Erhalts der von ihr beherrschten Gesellschaft ist, wenn die politische Gewalt darum nicht nur den Kapitalismus durchsetzt, sondern auch als der Schutz vor ihr erscheint, wie es im Kaiserreich in Deutschland war, dann ist das erstmal etwas Besonderes. Den Antikapitalismus von NationalistInnen, die aus ihrer beschissenen Lage schlußfolgern, daß Kapitalwachstum allein nicht das Mittel ihrer Nation sein kann, gibt es überall auf der Welt. Doch ein Staat, wie das deutsche Kaiserreich, legitimierte die Herrschaft dieses Antikapitalismus auf ganz andere Weise als ein Staat, der sich von Anfang an nichts anderes als die freie Konkurrenz auf die Fahnen geschrieben hat. Der Unterschied besteht erstens in der obrigkeitlichen Billigung - mit christlichem oder nationalem Sozialismus hätte mensch in den USA bei der Oberklasse keinen Stich gewinnen können - und zweitens in der gedachten Einigkeit im Anliegen, die dafür sorgt, daß der so tickende Nationalist nicht zwischen sich und der Obrigkeit, sondern zwischen seinem Volk und den anderen Völkern einen Gegensatz entdeckt.

Daß ein Staat von sich behauptet, Beschützer der nationalen Arbeit zu sein, bedeutet noch nicht, was immer die bahamas da denken mag, daß dies eine erschöpfende Auskunft über ihn ist. Wohl aber, daß er in den Köpfen seiner StaatsbürgerInnen anders zu erscheinen versucht und wohl auch erscheinen wird. Und das wiederum zeitigt, wenn nichts Gescheites dazwischen kommt, auch andere Erwartungshaltungen an den Staat, andere Ideale, an denen Politik gemessen wird, andere Gründe für Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Anders in Bezug auf die Bewältigung all der Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation, die überall und weltweit die gleichen sind.

Dies alles vorausgesetzt, ist der Erfolg des Antisemitismus in Deutschland kein Geheimnis mehr: Eine Nation, die den nationalen Erfolg durch staatlichen Schutz erreichen wollte, deren Führer dem Prinzip der Geldvermehrung ebenso blind wie ressentimentgeladen gegenüber standen, deren Volk den Staat zwar als Garanten des Kapitalismus, aber auch als Schutz vor den letzten Brutalitäten der Konkurrenz kannte - hier trafen sich die Ressentiments gegen den bewußtlosen Zwang zur Vermehrung des Geldes mit einem Staatsprogramm, das das Kapitalwachstum unter genaue politische Beobachtung stellte. Und genau diese unterschiedliche Behandlung der Dummheiten von unten durch das Staatsprogramm und seine Macher produziert den Unterschied in der Wirkung. So wurde aus Theorien, die es überall gab, eine deutsche Praxis: Auschwitz.



"Deutschland - ein einziger Sonderweg zu Hitler"

Seit im November 1989 die DDR-BürgerInnen zu Ende brachten, was Gorbatschow begonnen hatte, steht die "deutsche Frage" in ganz anderer Weise im Raum. Das demokratische Neugroßdeutschland zeigt sich von seiner eindeutigen Seite und manches, was in den Zeiten des Systemvergleichs Stoff für Illusionen geboten hatte, wird kalt lächelnd kassiert. Rassismus, Neofaschismus, neuer Antisemitismus, Ausbau der Staatsgewalt, deutsche Zerlegungspolitik in Jugoslawien: Kommt, so fragten sich einige, etwa ein Viertes Reich? Eilt Deutschland von Krieg zu Krieg, indem es jetzt, nach der Revision eines wichtigen Ergebnisses des II. Weltkrieges, einfach an die völkische Tradition der deutschen Politik vor 1945 anknüpft?

Begünstigt wurde das alles durch die Nötigung zur Neuinterpretation. Bis 1989 hatten sich weite Teile der Linken mit den "Massen" und dem "Volk" ganz schön einig gefühlt, bis sie im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer und den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock bemerkten, daß hier keine verhinderten GenossInnen, sondern eher VolksgenossInnen unterwegs waren.

Ohne die tröstliche Gewißheit der Roten Armee an der Elbe stellte sich die weltpolitische Situation ein bißchen vertrackter dar. Die gute alte Bundesrepublik, jener Staat dem mensch mit der Anklage, nur eine Halbkolonie der USA zu sein, noch eine verschämte Liebeserklärung machte, entpuppte sich doch glatt als das, was er schon seit geraumer Zeit war: Eine Macht ersten Ranges, die nunmehr (fast) alle Beschränkungen, die ihr aufgrund des letzten Waffengangs deutscher Armeen auferlegt waren, wieder abschüttelte. Daß das manchen Nazi ermutigte, weil der Verlierer den Siegern den Friedensvertrag diktieren konnte, daß mancher deutsche Politiker gar nicht einsehen konnte, warum jetzt nicht die Grenzen von 1937 (oder 1938) gefragt waren - das alles war die Situation, in der sich Linke und Linksradikale nicht noch mal nachsagen lassen wollten, nicht rechtzeitig gewarnt zu haben. - Übrigens auch so ein Aberglaube, es habe an Warnungen vor Hitler gefehlt! Die Leute haben den nicht aus Unkenntnis gewählt! -

Dabei ist in der Linken eine ganz neue Richtung entstanden: 'die' Anti-Deutschen. Die sind in ihrer Absage an Deutschland zwar recht prinzipiell, was ja erst mal gut ist, haben sich aber auf eine Sache versteift: Es muß in der deutschen Geschichte irgendwo eine Weichenstellung gegeben haben, die mehr oder minder direkt in Richtung Auschwitz geführt hat. Die Erklärungen, was das gewesen sein soll und wie sich das ökonomisch, politisch, kulturell oder psychisch niedergeschlagen haben soll und welche Bedeutung das heute hat, sind unterschiedlich. Beharrt aber wird darauf, daß es eine qualitative Differenz zwischen Kapitalismus in Deutschland und Kapitalismus in den USA gegeben haben muß. Und das ist verkehrt.

Eine Erklärung geht so: In Deutschland gab es keine bürgerliche Revolution. Deswegen kam der Nationalstaat zu spät, um noch ordentlich Kolonien abzusahnen. Wegen mangelnder Demokratie nach innen und weil Adel und Kaiser nie ganz entmachtet wurden, orientierten sich deutsches Bürgertum und Kleinbürgertum zu wenig an der liberalen Zivilgesellschaft und zu viel an militärischer Hierarchie. Bedingt durch die mangelnde politische Entwicklung war die, durch den Obrigkeitsstaat verhätschelte, deutsche Industrie nicht richtig konkurrenzfähig und entwickelte Gelüste nach außerökonomischen Formen des Profitmachens - durch Raub, Ausplünderung und Versklavung. Die politisch noch ziemlich unreifen Volksmassen, durch ihre Niederlage bei den Revolutionen politisch sowieso recht desorientiert, liefen bei der erstbesten Gelegenheit einem psychopathischen Hampelmann namens Hitler hinterher und den Ausgang der Geschichte kennt mensch dann ja. Wobei natürlich die Frage aufkommt, ob sie denn anders gekonnt hätten, die Leute, wo es mit ihrer Ich-Entwicklung mangels der Freuden eines demokratischen StaatsbürgerInnen-Lebens recht heikel gewesen sein soll; weswegen der autoritäre Charakter nach der vulgären Lesart zweier ziemlich problematischer Studien aus dem Umfeld der Kritischen Theorie (19) so eine Art Nationaleigenschaft der Deutschen geworden ist, die dann aus lauter Furcht vor der Freiheit bis nach Stalingrad gezogen sind. So wäre die bürgerliche Gesellschaft von dem peinlichen Verdacht befreit, so etwas wie Vernichtungslager als eine Möglichkeit zu enthalten. Und weil die Nazis und ihre rechten FreundInnen immer "Ganz normal alles" brüllen, wenn die Sprache auf das Vernichtungsprogramm der Nazis gegen das europäische Judentum kommt, gilt es bei Linken und Liberalen als extrem humanistisch, so zu tun, als sei die massenhafte Ermordung von Menschen eine Sache, die ansonsten in der Welt von Freiheit und Privateigentum nie und nimmer vorkomme. Die Singularität von Auschwitz besteht nicht darin, daß dort Menschen umgebracht wurden, sondern im Grund und im Zweck dieses Programms. Womit mensch übrigens auch schon wieder die affirmative Tendenz der antifaschistisch gemeinten Geschichtsbeschönigung beim Wickel hätte: So sehr es das eigene vaterlandslose Herz erfreut, wenn eine/r statt nationalistischen Blödsinn zu quaken dem deutschen StaatsbürgerInnenverband jede Menge böses nachsagt und keinen Zweifel aufkommen läßt, wie widerwärtig ihm die Verhältnisse hierzulande sind - so eklig wird es dann, wenn diese Kritik Deutschlands sich unter der Hand oder auch ganz offen in ein Lob des nicht-deutschen Kapitalismus und seiner Sauereien verwandelt.



Exkurs zu bahamas

Etwas anders versucht das Theorieorgan der Anti-Deutschen, die bahamas, die Sache zu erklären. Die Besonderheit Deutschlands soll nicht allein aus der besonderen Geschichte dieses Landes, sondern aus dem Zusammenspiel dieser Geschichte mit den allgemein kapitalistischen Strukturen entstanden sein - und diese Besonderheit soll dann dazu geführt haben, daß Deutschland angeblich der Prototyp erfolgreicher kapitalistischer Entwicklung wurde (Postfaschismus). Das soll bis heute einiges erklären. Das mag ganz ähnlich aussehen wie unsere Erklärung, ist es aber nicht.

Zum einen bestimmt die bahamas den Zusammenhang zwischen Nation und Kapitalismus falsch - da soll der Nationalismus aus dem Wert oder dem Doppelcharakter der Ware entspringen. Zum anderen neigt die bahamas dazu, gesellschaftlichen Verhältnissen eine Auswirkung auf das Denken zu unterstellen, die es nicht gibt und auch nicht geben kann. Falsches Bewußtsein - und das ist Nationalismus eben auch - ist eine Übersetzung verkehrter Verhältnisse. Aber diese Übersetzung ist immer noch die eigenständige geistige Leistung der Leute, die es sich so oder eben anders übersetzen.



Der Einwand gegen diese Sicht ist eigentlich ganz einfach: Neben der ziemlich idealisierten Wahrnehmung des demokratisch organisierten Kapitalismus anderswo, die sich wohl aus dem Vergleichsverbot wegen Singularität speist, arbeitet diese Deutung nur mit dem Satz "So wie's gekommen ist, hat's wohl auch kommen müssen". Hinterher ist das ein billig zu habender Schluß, denn mensch hat Ursache und Wirkung vor sich liegen und anders ist es dann ja nicht gekommen. Nur: Es sind die Menschen selbst, die ihre Geschichte machen, und einen zwingenden Grund, warum jemand so und nicht anders gedacht hat, wird mensch nicht finden. Es gibt folgerichtige Entwicklungen und naheliegende (Fehl-)Schlüsse, aber ein notwendig falsches Bewußtsein, das zu den Leichenbergen von Chelmno, Belezec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz geführt hätte, das gibt es nicht. Was übrigens kein Auftakt dazu sein soll, herumzurätseln, ob, wenn mensch Noske, Ebert und ihre Freikorps-Mörder rechtzeitig politisch ausgeschaltet hätte, die Arbeiter- und Soldatenräte nicht doch ... Tja, wer weiß das schon.

Die Ermordung von Millionen Menschen war ein deutsches Projekt - daß es nur ein deutsches Projekt hat sein können, daß es ein deutsches Projekt hat werden müssen, nein, das läßt sich daraus nicht ableiten.

Warum diese Bewegung an die Macht kam, muß mensch aus der innenpolitischen Situation 1932/33 und der Verfassung des Deutschen Reiches erklären. Jawohl, eine so wacklige und leicht veränderliche Sache wie ein Kräfteverhältnis ist die Antwort auf die Frage, wieso es dazu gekommen ist. Daß es solche Bewegungen gibt und sie an die Macht kommen können, ist aber alles andere als ein historischer Zufall und auch nicht Ausfluß eines Kräfteverhältnisses. Daß sie es dann auch tun, hat etwas zufälliges. Es ist leider so: So etwas kann in einer bestimmten historischen Situation darüber entscheiden, ob mehrere Millionen Menschen in Gaskammern sterben oder nicht. Was wir übrigens für eine durchaus beunruhigende Auskunft halten.

Darum muß mensch solche Situationen verhindern - das beste Mittel, um eine "Machtergreifung" zu verhindern, ist da übrigens, die Macht abzuschaffen.



Nationalsozialismus, Faschismus und Demokratie

Das Ziel - Bewährung der Nation in der Staatenkonkurrenz - teilen die Faschisten aller Couleur mit jedem bürgerlichen Demokraten. Die Konkurrenz der Nationen verfabeln Faschisten aber zu einem Krieg der Völker (und/oder Rassen), um "Lebensraum" und "Macht". Aus diesem Krieg aber folgern sie die Notwendigkeit einer Führung, die sich in ihrem Handeln ganz unabhängig von der Zustimmung der Geführten machen kann. Sie verlangen die Unterordnung aller Privatinteressen unter den Staat: "Du bist nichts, Dein Volk ist alles".

Statt die Konkurrenz einfach staatlich einzurichten, zu garantieren und zu korrigieren, wenn es nötig ist, wie es demokratische Staaten tun, haben Faschisten einen höheren Anspruch an die Gesellschaftsmitglieder. Statt daß der Staat die Bedingungen so setzt, daß es für alle vernünftig ist, das zu machen, was der Nation dient, verlangen die Faschisten vom Individuum, sein Handeln bewußt in den Dienst der Nation zu stellen. Das ist die Differenz von Kindergeld und Mutterkreuz, von der Ermutigung zum Nachwuchs durch einen kleinen finanziellen Ausgleich zur Propaganda des nationalen Idealismus, "dem Führer ein Kind zu schenken". Daß solch eine Opposition für bedingungslosen Gehorsam die jeweiligen Staatsagenten zwar mitunter verärgert, aber sie nie und nimmer darauf kommen, daß es sich bei diesen fanatisierten Staatsfans um Feinde handeln könnte, ist ziemlich klar und ist der Unterschied zwischen der Verfolgung von Linken und Faschisten in der Weimarer Republik und in den Anfangsjahren der BRD. Daß solch eine Bewegung vom Kapital als eine brauchbare Alternative diskutiert wird, braucht niemand zu wundern, der sich das Programm des "nationalen Sozialismus" mal näher angekuckt hat.

Das wichtigste Mittel (Volk) und die notwendige Voraussetzung (Boden) der Politik jedes Staates sind den Nazis zum Zweck geworden, an denen sich andere Sachen, die bis dahin als Staatszwecke gegolten hatten, relativieren mußten. Das war kein theoretischer Rückfall in vorkapitalistische Zeiten. Die Faschisten sind radikale Kinder des Kapitalismus: Sie haben die Voraussetzungen kapitalistischer Reichtumsproduktion und des Nationalstaates, der sie ermöglicht, zum Ziel an sich erhoben. Darin haben die Faschisten nur theoretisch nachvollzogen, wie wenig sich der Staat den Interessen der herrschenden Klassen unterwirft, wenn er ihnen dient. Sie waren radikale Idealisten des nationalen Erfolgs. Während in der bürgerlichen Demokratie der nationalökonomische Erfolg sowohl Mittel als auch Teil des Ziels ist, haben die Nazis mit diesem Zirkel Schluß gemacht. Nicht der Erfolg des deutschen Kapitals, nicht nur Respekt vor den Interessen des deutschen Staates, sondern Lebensraum für das deutsche Volk, die Vernichtung der "jüdischen Rasse" und die Versklavung der "Ostvölker" war das deutsche Kriegsziel 1939-1945. Das Räubern und Plündern, Erobern und Ausbeuten hat der deutsche Staat seinen Unternehmern erlaubt und auch nahegelegt, um das machen zu können.

Entgegen der Demo-Weisheit "Hinter dem Faschismus steht das Kapital", die sich vorstellt, daß ein Haufen Profitmacher die Nazis aushält, um viel Gewinn zu machen, haben die Nazis der deutschen Geschäftswelt Gewinnmöglichkeiten eröffnet für ihr Staatsprogramm. Daß das Allgemeinwohl mit keinem besonderen Interesse in der Gesellschaft identisch ist und sein darf, heißt eben nicht, daß alle Interessen gleich wichtig sind. Die "nationalen Sozialisten" haben an ihrem Interesse an deutschen Gewinnen deutscher Unternehmen nie Zweifel aufkommen lassen.

Der II. Weltkrieg war kein bloßes Kräftemessen zwischen Staaten. Die völlige Souveränität des eigenen Staates - also tun und lassen zu können, was man will - ist das Ideal jedes Imperialismus. Als dessen radikale Anhänger haben die Nazis jeden wirklichen ausländischen Souverän, den sie in ihre Krallen gekriegt haben, vollständig vernichtet: Ersetzung des Staates durch Generalgouvernement, Protektorat oder abhängige Marionettenregierungen. Es ging also nicht darum, den ausländischen Staat zur imperialistischen "Räson" zu bringen, um seine Souveränität für die eigenen Interessen nutzen zu können. Sondern ihn zu zerstören und sein Menschenmaterial unter die vollständige Verfügungsgewalt des deutschen Staates zu bringen. Somit war der Faschismus ein Versuch, aus der Staatenkonkurrenz dadurch auszusteigen, daß die rivalisierenden Staaten als ernsthafte Konkurrenten ausgeschaltet werden sollten. Weil sie die Größe ihrer Nation nicht vom Geschäftserfolg der Kapitalisten abhängig machen wollten, haben die Nazis Großraum- statt Standortpolitik betrieben.

Das hat nicht geklappt. Die Nazis haben sich verschätzt. Gemessen an den Formen der Konkurrenz um den Reichtum der Welt, die die USA nach 1945 allen anderen Ländern aufgezwungen haben, wirkt das deutsche Weltmacht-Programm 1933-1945 "irrational" und "größenwahnsinnig". Die BRD hat sich darum nach 1945 als guter Juniorpartner der USA aufgeführt. "DM statt Wehrmacht" lautete der Schlüssel des bundesrepublikanischen Erfolgsprogramms von 1949 bis 1989. Seit Bereinigung der Weltlage wird Klartext geredet: Ein ökonomischer Riese war und ist nie ein politischer Zwerg. Hat eben auch ein Recht darauf, seine Interessen in der Welt, notfalls auch militärisch, durchzusetzen. Auch im Alleingang.

Angesichts dieses Verhältnisses ist es kein Wunder, daß sich nicht nur in der Bundeswehr, sondern auch im normalen politischen Leben der BRD eine erkleckliche Anzahl von Nazis, Faschisten und rechts-autoritären Säcken herumtreibt. Die Klage, daß Deutschland zu wenig Erfolg hat, daß es überhaupt Rücksicht nehmen muß, ist allfällig. Gerade die Masche, das politische Programm als "Sachzwang" wegen Globalisierung hinzustellen, legen überzeugte Staatsfans ihren PolitikerInnen als Schwäche aus, wie auch die in ihren Augen zu freundliche Behandlung von AusländerInnen, die ein guter Patriot nun mal für Feind qua Geburt hält. Das Wahl-Volk teilt den faschistischen Standpunkt, aber sieht den bürgerlich-demokratischen ein. Die Verlaufsform dieses Widerspruchs ist bislang, daß die Faschisten das gesunde Volksempfinden im Rücken haben und die bürgerlichen DemokratInnen mit dem Vorwurf, die Faschisten hätten kein Konzept für die Zukunft, bei den Wahlen punkten. (Die CSU ist der gelungene Versuch beides in einer Partei zu kombinieren). Ob sich nicht auch mal eine erkleckliche Anzahl von VolksgenossInnen von solchen Berechnungen frei macht und für eine Führung eintritt, die die Sachzwänge Weltmarkt und Wettbewerbsfähigkeit mit Gewalt aus dem Weg zu räumen versucht - darauf wollen wir keine Wette abschließen.

Was die Nazis theoretisch von anderen Faschisten unterscheidet, ist, daß ihr Ausgangspunkt nicht die Staatsgewalt, sondern jenes durch die Staatsgewalt geschaffene Kollektiv namens "Volk" war, dessen Organisationsform der Staat ist. Daraus ist ihr Bio-Rassismus und expliziter Antisemitismus erklärlich, den andere Faschismen teilweise von den Nazis übernommen haben - oder aber für eine Macke oder doch zumindest unnötige Radikalität ihrer ansonsten sehr geschätzten deutschen Kollegen gehalten haben.



Hermannsdenkmal heute

Wer kennt es noch, das Hermannsdenkmal? Nun, so wenige sind es nicht. Weil der Gehalt dieses Denkmals längst die Festigkeit eines Volksvorurteils gewonnen hat - gemeinsame Geschichte und zwar schon verdammt lange - ist die Denkmalspflege eher inoffiziell. Der Staat braucht dieses Denkmal nicht (mehr). Was aber nicht heißt, daß es keine Geige mehr spielen würde.

Jedes Jahr pilgern Schulklassen und TouristInnen zu diesem Denkmal, und auch wenn die Gefühle keine heil´gen Schauer mehr sein dürften und nationale Begeisterung eher kultureller Beflissenheit gewichen sein wird: Die wenigsten dürften sich diesem Denkmal mit der nötigen Abscheu vor diesem Koloß der blutsmäßigen Vereinnahmung der deutschen StaatsbürgerInnen nähern.

In den Mythen der Rechten spielt Hermann seine Rolle. Doch daß der heutige Rassismus mit den Germanen nur im lächerlichen Ausnahmefall argumentiert, heißt nicht, daß diese Vorstellung nicht unterlegt ist, wenn lauter Leute sich eine blutsmäßige Identität des deutschen Volkes zusammenreimen oder diese von Stoiber in einem Feldzug gegen die "durchmischte und durchrasste" Gesellschaft zum Staatszweck verfabuliert wird. Daß ein Gedanke absurd ist, heißt weder, daß er nicht gedacht wird noch daß er deswegen nicht mehr bekämpft zu werden bräuchte. Wobei Leute nicht NationalistInnen sind, weil sie glauben, moderne Germanen zu sein, sondern diese alberne Überzeugung gedeiht nur auf einer nationalistischen Basis. Daß die Deutschen, wenn sie authentische Volkskultur genießen wollen, lieber bei den Kelten als bei den Germanen fündig werden, ist eine Spätfolge des Faschismus. Daß nicht auch auf diesem Gebiet eine nationale Rückbesinnung erfolgt, wollen wir weder prophezeien noch abstreiten. Da hat Deutschland uns in den letzten Jahren des öfteren überrascht.



Die BRD - demokratische Lehren aus der braunen Barbarei

Beim Aufbau der westdeutschen Nachkriegsdemokratie hatten die Verfassungsväter und die drei -mütter recht klare Vorgaben von den Alliierten, so daß ein Bruch mit der deutschen Verfassungstradition nicht bestritten werden kann. Aber manche Kritik der Faschisten an der Weimarer Republik haben sich die deutschen DemokratInnen durchaus einleuchten lassen: Zum Beispiel, daß die Weimarer Republik "schwach" gewesen sei (2019), war für die deutschen PolitikerInnen ein guter Grund, eine starke Demokratie zu fordern, mit einem Bundeskanzler, der die Minister ernennt und nur durch konstruktives Mißtrauensvotum abgelöst werden kann. Auch die Kritik an den Weimarer Parteien, sie hätten nur das Parteiinteresse im Auge gehabt und durch kleinlichen Streit sich selbst regierungsunfähig und Hitler hoffähig gemacht, hat der deutsche Staat verarbeitet. Im Gegensatz zum allfälligen Gelaber vom Parteienstaat verhält sich die Sache genau andersherum: Die Parteien sind in der BRD in hohem Maße vom Staat abhängig. Das Parteiengesetz definiert ihre Aufgaben und schreibt ihnen ihre innere Struktur vor, sie sind zu öffentlicher Rechenschaftslegung über ihre Finanzen verpflichtet. Dadurch sind Parteien in wesentlich geringerem Maße von privaten Zuwendungen abhängig, als z.B. in den USA, wo die Demokraten und Republikaner in erster Linie privat finanzierte, staatlich kontrollierte Wahlkampfmaschinen sind.

Daß zuviel Demokratie zuwenig Führung bedeuten und Mangel am Geführtwerden in den StaatsbürgerInnen die Sehnsucht nach einem starken Mann wecken würde, ist in den 50 Jahren bundesrepublikanischer Demokratie immer wieder zu hören gewesen. Seit 1968 wird aber verstärkt darauf hingewiesen, daß zuviel Führung die Leute zu bloßen BefehlsempfängerInnen machen könnte: Das soll auch nicht sein, weil sie ansonsten bei einem erneuten Nationalsozialismus oder beim Kommunismus einfach mitmachen würden, statt die Demokratie als erfolgreichste deutsche Staatsform zu verteidigen. Also: Mündige StaatsbürgerInnen sollen erzogen werden, welche die fragen, aber nicht zuviel und gehorchen, aber nur in den richtigen Fällen und bei der richtigen Führung.

Oft wird über den glanzvollen Aufbau der BRD gestaunt. Insgesamt war der Krieg kein schlechtes Geschäft, im schlimmsten Fall ein Nullsummenspiel: "Alles in allem war die Kapazität der Anlagen in der Industrie 1948 gar nicht niedriger als vor dem Krieg, belief sich der Umfang des Zerstörten nur etwa auf das, was von 1939 bis 1944 an Anlagen hinzugekommen war." (21) Daß der durch den Kauf des billigen Zahngoldes vergaster Juden gewonnene Reichtum nicht enteignet wurde, braucht niemanden zu verwundern. Schließlich: "Wenn man ein Urteil aus der Tatsache macht, daß jemand während der dreizehn Jahre unter Hitler Geld verdiente, schließt man jede Fähigkeit und jeden Erfolg aus", wie General Clay treffend bemerkte. An diesen Tugenden war mensch interessiert, denn: "Es entspricht nicht den amerikanischen Regeln, wenn durch eine umfassende Entnazifizierung die Basis des Privateigentums aufgehoben würde", wie ein wichtiger US-Offizier anmerkte.(22) Nicht nur beim Privateigentum, sondern auch bei der Abwicklung der aus ihm entstehenden Interessensgegensätze waren die Nazis mit ihrem Ziel einer "Volksgemeinschaft" schon wieder nicht allein. In der Weimarer Republik waren so ziemlich alle, von ganz links bis ganz rechts dafür, daß alle Deutschen sich das Wohl der Nation zum Anliegen machen und gemeinsam dafür arbeiten und wirken sollten. Selbst die angeblich so vaterlandslosen KommunistInnen sahen in ihrem Klassenkampf ab Mitte der 20er Jahre in erster Linie ein Mittel, die "nationale und soziale Befreiung des deutschen Volkes" zu erreichen, indem man die bösen antinationalen Finanzkapitalisten stürzt.

Die Nazis wiederum sahen die Einheit des deutschen Volkes als den natürlichen Zustand an. Die Klassenkämpfe und politischen Auseinandersetzungen konnten sie sich nicht anders erklären, als das böse, unnatürliche und anti-deutsche Kräfte am Werke seien. In allen abweichenden Betätigungen, in allen politischen Bewegungen und sozialen Kräften, die nicht mit ihnen am nationalsozialistischen Volksstaat arbeiten wollten, konnten sie nur Feinde bzw. nützliche Idioten des Feindes sehen. Mit entsprechender Gewalt sind sie gegen die Betreffenden vorgegangen. Das traf vor allem die sozialistische ArbeiterInnenbewegung, ein besonderes Haßobjekt der Nazis. In den Parteien und Gewerkschaften sahen die Nazis Spalter der Nation. Unterschiedliche oder gar entgegengesetzte Interessen von Deutschen waren für sie unnatürlich - und darum verboten. Die Versuche der sozialdemokratischen Gewerkschaft ADGB sich bei den Nazis lieb Kind zu machen, konnte ihre Zerschlagung nicht aufhalten. Weil alle - UnternehmerInnen und ArbeiterInnen - in den Augen der Nazis nur "Arbeitsbeauftragte des deutschen Volkes" waren, wurden sie auch als ArbeiterInnen der Stirn und der Faust in einer Front organisiert. Als Teil des Volkes waren ihre Interessen beim Führer in den besten Händen, weswegen unabhängige Gewerkschaften nicht für nötig gehalten wurden. Alle, auch die nicht-sozialistischen Gewerkschaften, wurden von der "Deutschen Arbeitsfront" geschluckt, die mit Aktionen wie "Kraft durch Freude", die Integration der ArbeiterInnenklasse ins Dritte Reich schaffen sollte.

Das Konzept haben die demokratischen Rechtsnachfolger etwas variiert: Statt terroristischer Zwangshomogenisierung besteht die demokratische Volksgemeinschaft aus SozialpartnerInnen, die ihre Interessen wechselseitig anerkennen, wenn sie sich der Wirtschaft und der Politik nützlich machen. Aber daß dabei die ArbeiterInnen auf keinen grünen Zweig kommen, ist vorprogrammiert: Die ArbeiterInnen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, sie brauchen also jemand, der ihre Arbeitskraft kauft. Ist dieses irrsinnige Verhältnis erstmal anerkannt, sind Gewerkschaften nur mehr eine Art Versicherung für die ArbeiterInnen, daß ihre Ausbeutung so vonstatten geht, daß sie nicht völlig verarmen.

In den Anfangsjahren der BRD hatten Gewerkschaften und SPD noch Vorstellungen, was sie als Interessensvertretung der arbeitenden Menschen alles zu bestimmen hätten und daß ein bißchen Sozialismus im Kapitalismus auch ganz gut wäre, weil doch die ArbeiterInnen im Gegensatz zum Bürgertum gegen Hitler gewesen wären. Doch die Verwandlung zum streikarmen Sozialpartner und alternativen Regierungspartei, zur schwarz-rot-goldenen Staatsgewerkschaft und -partei, die die Abhängigkeit der ArbeiterInnen vom Erfolg des Kapitals zum Ausgangspunkt macht, mußte nicht mit großer Gewalt erzwungen werden. Nach ein paar Protesten, Demos und Arbeitskämpfen schluckten die Gewerkschaften das Betriebsverfassungsgesetz mit seiner Friedenspflicht und Schlichtungsverhandlung. Deutschland wurde zum Land mit sozialem Frieden, in dem die Überbleibsel der ArbeiterInnenbewegung brav die Armut ihrer Mitglieder mit aushandeln und wenig Streiktage die optimale Auslastung der Maschinen erlauben. Die SPD durfte, diesmal von allen anerkannt, beweisen, daß auch Kinder aus ArbeiterInnenfamilien gute VerwalterInnen der bürgerlichen Ordnung sein können. Mit Zustimmung und Konsens funktioniert's eben besser. Wer ein Bündnis für Arbeit macht, hat gar nicht mehr vor, sich eine Produktionsweise vom Hals zu schaffen, in der der Zwang Gewinn zu machen, die Ernährung der Menschen zum lästigen Kostenfaktor stempelt. Sondern ist mit von der Partie, wenn der Standort gerettet wird, Jagd auf ausländische SchwarzarbeiterInnen gemacht wird und "Drückebergern" und "Sozialschmarotzern" zwar nicht gerade ein grüner Winkel angepappt, aber doch die Sozialhilfe gestrichen wird. Was den Nazis nie vollständig gelang, DGB und SPD haben es geschafft: Die Integration der ArbeiterInnenklasse in die Nation. Worum es "der Linken", seit es Nation gab, leider meistens ging.



Wo fing das an, was ist passiert, was hat dich bloß so ruiniert? - Deutsche Linke

Traditionell hält die Linke die ArbeiterInnenklasse für einen besonders guten Menschenschlag, der eigentlich Revolution will. "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", wird an dieser Stelle notwendig gekalauert. Darauf, daß aus irgendeinem Sein folgen soll, daß mensch ein mächtig revolutionäres Bewußtsein haben muß, kann mensch nur kommen, wenn mensch an dem Gegensatz zwischen Kapital und ArbeiterInnenklasse nur den Gegensatz sieht und ansonsten dem Kapitalismus viele Krisen andichtet. Die vielen guten Gründe, Kapitalismus abzuschaffen, waren und sind den Traditionslinken dabei keineswegs genug. An all dem Elend, dem Hunger, den Toten, dem tagtäglichen Verschleiß der menschlichen Arbeitskraft, dem Terror der Herrschenden gegen die Revolutionäre wollten sie nur eins entdecken: Anzeichen des notwendigen Untergangs des Kapitalismus. Ihre Revolution stünde auf der "Tagesordnung der Geschichte", sei also nur Vollstreckung dessen, was sowieso historisch gerade angesagt sei. Mit diesem historischen Optimismus haben sich die russischen SozialdemokratInnenen als gelehrige SchülerInnen der damaligen SPD erwiesen. Deren Cheftheoretiker hatte auch so manche Prophezeiung auf Lager, daß das Zeitalter der ArbeiterInnen schwer im Kommen sei - und zwar nicht durch die SPD und eine Revolution, sondern durch das Wachstum der Produktivkräfte, die dann fällige Krise und den darauf folgenden "Großen Kladderadatsch". Bis dahin empfahl die SPD, sich brav in Partei, Gewerkschaft und Konsumgenossenschaft zu organisieren, Däumchen zu drehen und von allen revolutionären Umtrieben tunlichst die Finger zu lassen.

Diese Theorie hat Lenin ins Revolutionäre gewendet. Indem sich die revolutionäre Partei als ein Ausdruck der Verhältnisse betrachtete, hat sie die Revolution nur als Vollstreckung einer im Kapitalismus selbst liegenden Tendenz begriffen. Irgendwo im Sein mußte schon die Tendenz zum Kommunismus stecken. Wie hätte sonst nach den Lehrsätzen des dialektischen Materialismus ein kommunistisches Bewußtsein zustande kommen können? Von ihren deutschen LehrerInnen haben sie den Vorwurf des "Voluntarismus" gekriegt und ihn mit dem Vorwurf des "Verrats" quittiert. Daß die Weltenläufte zum Guten hin gehen, haben beide Seiten so gesehen; uneins war mensch sich, wieviel die ArbeiterInnenbewegung dazu praktisch beizutragen hätte.

Die Beliebtheit der Blaumänner ist dank der Integrationsleistungen von SPD und DGB und dem dazu passenden Bewußtsein bei der Linken geringer geworden. Aber die Überzeugung, "die Unterdrückten" seien schon auf der richtigen Seite und jedes Aufbegehren von ihrer Seite nur ein Fanal zu recht grundlegenden Veränderungen, hat sich gehalten.

So wird auch heute noch von Leuten, die sich für KommunistInnen, SozialistInnen oder AnarchistInnen halten, jeder soziale Kampf als Etappe der Revolution begriffen. Die Differenz zwischen dem eigenen Ansinnen und dem Bewußtsein der so umworbenen Normal-Mitglieder der Gesellschaft wird durchgestrichen. Wo eine Klasse nur ihre Anerkennung als gleichberechtigter Teil der Nation erkämpfen mußte und dafür die moderne demokratische Verwaltung von Armut und Ausbeutung durchsetzen mußte, sahen viele die Realisierung der historischen Mission der ArbeiterInnenklasse, was zu allerlei Optimismus Anlaß geben sollte. Allerdings haben Linke es dabei nicht bewenden lassen: In ihrem Bestreben, die ArbeiterInnen davon zu überzeugen, daß sie die richtigen Anwälte für ihre objektiven Anliegen seien, haben sie es sich nicht nehmen lassen, sich bei den AdressatInnen ihrer Agitation auch als VetreterInnen ihrer 'momentanen', 'subjektiven', 'trade-unionistischen' Wünsche und Bedürfnisse in Erinnerung zu rufen - so als sei Sozialismus nichts anderes als die Verwirklichung all derer Tendenzen, Ideale und Sehnsüchte, die der Kapitalismus hervorbringt.

Entsprechend sahen Parteien und Organisationen aus, die sich dann sozialistisch und kommunistisch nannten: Radikale und ehrliche SozialdemokratInnen, die die Revolution, von der sie immer weniger redeten, für eine Art besonders gründlicher und schneller Reformpolitik hielten; wenn sie nicht gleich von der parlamentarischen Überwindung des Kapitalismus träumten.

Wer sein Programm so sehr zum Ausdruck der Massen macht, erlebt im Regelfall aber nicht begeisterte Zustimmung, sondern Ablehnung. Lauter Parteigänger ihrer Nation erteilen sozialistisch angehauchter Kritik an Voraussetzungen und Verlaufsform nationaler Reichtumsproduktion eine Absage. Zwei Möglichkeiten gibt es, damit umzugehen: Sich die Welt zurechtlügen, wie es 'Linksruck', die Spartakisten oder die MLPD machen. Oder aber die Gleichung Parteilinie = Massenbewußtsein ernst nehmen und sie umdrehen: Die Leute da abholen, wo sie stehen, wie es früher die Grünen und heute die PDS tun. Es ist kein Wunder, daß das zumeist nur die Bewegung der Linken hin zum vorhandenen affirmativen Bewußtsein der Gesellschaftsmitglieder zur Folge hatte und hat.

So wird Nationalismus zu einer Sache, an die mensch anknüpfen will, statt sie zu bekämpfen, da mensch den Nationalismus nicht den Rechten überlassen dürfe.



Aufklärung statt Schmeichelei

"In jedem Strike lauert die Hydra der Revolution", meinte der preußische Innenminister Robert v. Puttkamer vor noch jeder Bewegung von StaatsbürgerInnen warnen zu müssen. Unter positiven Vorzeichen glauben das auch heute noch jede Menge Linke. Die angehenden revolutionären VolkspädagogInnen denken sich das so: Zu erst einmal werden die Leute mit lauter Sachen, um die es den AgitatorInnen gar nicht geht, zu einer machtvollen sozialen Bewegung zusammengeführt. Die mit der falschen Theorie gemachten schlechten Erfahrungen - z.B. wenn aus dem Existenzgeld doch wieder nur eine Erhöhung der Sozialhilfe mit verstärktem Arbeitszwang oder aus dem Eintreten für ganz viel Frieden für ganz viel Deutschland doch nur eine Plattform zum zivilgesellschaftlichen Kriegführen geworden ist - werden ausgewertet, aber gründlich, so daß Stück für Stück die eigentlich richtige Theorie hervorgearbeitet wird. Das ist nicht nur scheiß-autoritär und unglaublich umwegig, weil mensch den Leuten zuerst falsche Sachen erzählt, um ihnen dann was richtiges zu erzählen - es klappt auch nicht.

Das einzige, was der permanente Hinweis auf Kämpfe, Interessen und Gruppen und ihre Rolle in der Geschichte positiv bewirken kann, ist die Erkenntnis, daß es sich bei der Welt nicht um eine Summe unwandelbarer Gegebenheiten handelt. Zugestanden: Das ist Voraussetzung dafür, überhaupt Kritik zu üben, die auch etwas verändern will. Aber die ziemlich abstrakte Erkenntnis, daß Veränderung geht, ist mit dem restlichen theoretischen Unfug doch ein bißchen teuer erkauft.

Die meisten sozialen Bewegungen sind erstmal nur Beschwerden von Untertanen, die auch Untertanen bleiben wollen, aber ihre Obrigkeit zur Rücksichtnahme auf ihre Belange ermuntern wollen. Wer das zu ändern vorhat, der macht diesem Kram keine Zugeständnisse, sondern bringt Argumente unter die Leute, warum ihre Unzufriedenheit in die falsche Richtung geht. Falls diese Unzufriedenheit überhaupt richtig ist: Mit den ArbeiterInnen der Meyer-Werft oder der Belegschaft von Mannesmann würden wir uns nicht solidarisieren, stattdessen wäre - von Leuten, die keine Angst haben, was aufs Maul zu kriegen - eine ordentliche Kritik dieser wildgewordenen Standort-NationalistInnen nötig. Und da würden uns noch viele "BürgerInnen-Initiativen" einfallen. Nur weil in sozialen Bewegungen Leute auch mal anfangen, nach Gründen zu fragen und sie dann manchmal auf Leute treffen, die sie ihnen sagen, oder auf tolle Bücher und Flugblätter, wo sie drinstehen, sind doch Schulbesetzung, Vorlesungsboykott und Demo vor dem Arbeitsamt (und darum geht es ja in echt zur Zeit) an sich kein Stück bewußtseinsbildend, sondern bleiben als schöne Erinnerung an bewegte Jugendtage Teil der Normalbiographie: "Wir haben uns damals beim Unistreik kennen- und liebengelernt".

All das wollen wir nur denen um die Ohren hauen, die verächtlich auf Theorie-Wichser(Innen?) herabschauen, während sie in ihren Theorie-Zirkeln das Verhältnis von 'Theorie' zu 'Praxis' diskutieren - na, wie mag das Verhältnis von anarchistischer Theorie zu faschistischer Praxis wohl sein? Wir vermuten: komplex. - Es geht aber auch an alle, die statt "das Kapital" zu lesen, sich lieber mal vernetzen oder sich zum 143. Mal in eine ordentliche Organisationsdebatte einbringen und sich dabei sehr konkret-praktisch vorkommen.

Wo Linke heute aus ihrem dauernden Scheitern eine Absage an Aufklärung herausfiltern, da hetzen sie gegen eine Praxis, über die der Großteil der Linken immer nur geredet hat, statt sie zu praktizieren. An der Entscheidung der K-Gruppen-IdiotInnen, sich morgens vor die Werktore zu stellen, worüber sich viele heute lustig machen, sind weder Uhrzeit noch Ort zu kritisieren. Sondern die Inhalte, mit denen mensch sich bei den Leuten mit Verweis auf China und Albanien beliebt machen wollte. Mensch ging davon aus, die Leute "erstmal da abzuholen, wo sie stehen", also wurde der Standpunkt der verehrten Massen als ziemlich in Richtung Sozialismus gehend interpretiert. Damit sind die K-Gruppen gescheitert und nicht mit Aufklärung. Heutzutage hält manche/r die VolksgenossInnen für unagitierbar - enttäuschte Liebe macht eben oft gehässig.

Da es auch keine Krise gibt und geben wird, weder eine, die zum Sozialismus führt noch eine, die alles in Barbarei versinken läßt (und auch die Massen in der Dritten Welt zwischen zwei Hungersnöten nicht mal eben die Welt ändern werden), haben wir zum Abschluß nur das zu sagen: Wer den Kapitalismus abschaffen will, wer die Nation aufheben will, der muß die Leute davon überzeugen, daß das passieren sollte. Der Krieg ist den Hütten zu erklären, während die Paläste für alle sein sollten.



Fußnoten:
1 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Bd. 1, S. 380.

2 Adelige ohne Aussicht auf Rang und Pfründe im Mutterland, bürgerliche Geschäftsleute, die mit dem Handel von seltenen Gütern ihre Konkurrenten auszustechen hofften, einer Krone, die an der Verfügungsgewalt über die natürlichen Reichtümer der "terra incognita" interessiert war, eine Kirche, die heiß auf die einträgliche und ehrenvolle Missionierung der Heiden war.

3 zit. n. Brubaker: Einwanderung, S. 22.

4 Brief an seine Schwester, 1861, zit. n. Wehler, H.U.: Krisenherde des Kaiserreichs, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2 1979, S. 186.

5 Die damaligen Nationalfarben.

6 Rudolf Scipio: "Der Ehrentag des Teutoburger Waldes". In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Nr.38 (1875), S. 642. Hervorhebungen und Schreibweise wie im Original.

7 Hitler: Mein Kampf, S. 278.

8 "German antisemitism and German nationalism became and remained - until the Second World War - inextricably intertwined." Goldhagen: Willing Executioners, S. 56.

9 Oder Nationen von denen Jürgen Elsässer glaubt, sie würden dies tun, um genauer zu sein.

10 Hitler: Mein Kampf, S. 433.

11 Es würde die hübsche Idealisierung sicherlich stören, wenn mensch wüßte, daß das Dekret vom 26. Dezember 1793 alle nicht in Frankreich Geborenen von der Teilhabe an den Rechten ausschloß und der Code Civil das ius sanguinis, also das Abstammungsprinzip, einführte.

12 RGBI 1935, Teil I, S. 1146.

13 Der bürgerliche Staat. München: Resultate-Verlag 1979/80. S. 8.

14 Was nicht heißt, daß er nicht auch hier versucht, noch Kapitalanlegern Profitmöglichkeit zu schaffen und auch bei staatlichen Strukturen einen Markt simuliert.

15 Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Bd. 1. Berlin (DDR): Dietz 1957,S. 379.

16 Hecker, Konrad: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung. München: GegenStandpunkt 1996, S. 140.

17 Hitler: Mein Kampf, S. 70.

18 Hitler: Mein Kampf, S.702/703.

19 Nämlich Fromms Studien über Autorität und Familie und Adornos über die "Authoritarian Personality".

20 Historisch ein Unfug aller erster Güte. Nie war der Staat so stark ausgebaut, die Kompetenzen von Polizei und Justiz so erweitert und Gesetze so scharf, wie in den Jahren 1931/32 - was vor allem die KPD zu spüren bekam. An zuviel Demokratie oder zuwenig Staat ist die Weimarer Republik nicht 'eingegangen', sondern daran, daß auch die bürgerlichen Demokraten schwer für eine Diktatur zu haben waren.

21 Knut Borchardt, zit. n.Huster, Kraiker, Scherer, Schlotmann, Welteke: Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949, FaM.: Suhrkamp 1972, S.96. Auf das entsprechende Kapitel stützen sich auch die ansonsten gemachten Bemerkungen.


22 ebda, S.54.