Seit ein paar Jahren gibt es in einigen Studienfächern, in denen das Thema Gesundheit eine Rolle spielt, ein neues Paradigma. Die Stichworte dabei sind Aktivierung von Ressourcen, Empowerment und Resilienz. Die Idee ist, den Fokus nicht mehr auf Beschränkungen und Krankheiten, sondern auf Möglichkeiten und Fähigkeiten sowie die damit verbundenen Widerstandskräfte von Menschen aller Altersstufen zu legen.
Wesentlichen Anteil an der Entwicklung dieser Ideen hatte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky. Auf ihn geht das Konzept der Salutogenese zurück (Salus – lateinisch für Wohlergehen, Gesundheit, Wohlbefinden, Genese – griechisch für Entstehung). Während seiner Studien zum Gesundheitszustand von Frauen, die den Holocaust überlebt hatten, fiel ihm auf, dass einige der Überlebenden trotz massiver Belastungen in gutem gesundheitlichen Zustand waren. Anstatt Krankheit als das Besondere zu nehmen, schlug er vor, Fragen wie „Warum ist jemand gesund trotz Belastungen?‟ und „Wie wird jemand gesünder?‟ zu stellen.1
Antonovsky hat seine Ideen in zwei Büchern, Health, Stress and Coping sowie Unraveling the mystery of health formuliert. Letzteres ist 1997 auf deutsch unter dem Titel Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit erschienen. Im Folgenden soll anhand von Zitaten daraus gezeigt werden, dass Antonovsky eine falsche, positive Sichtweise auf gesellschaftliche Verhältnisse, die systematisch Belastungen für die Menschen hervorbringen, propagiert. Mit der Salutogenese werden chronisch belastende Lebensbedingungen als unhintergehbar gesetzt und an die Individuen der Anspruch eines befürwortenden Zurechtkommens unter diesen widrigen Bedingungen gestellt.
Im ersten Kapital grenzt Antonovsky sein Konzept von einer auf Krankheit orientierten Medizin ab. Dieser gegenüber sollen die Vorteile der Salutogenese herausgestellt werden. Zentral sind für ihn dabei die Stichworte „Adaption‟ und „Stressoren‟:
„Die eher pessimistische Salutogenese bringt uns dazu, uns auf das umfassende Problem der aktiven Adaption an eine unweigerlich mit Stressoren angefüllte Umgebung zu konzentrieren.“ (S. 27)
Indem behauptet wird, dass „Stressoren‟ unweigerlich vorhanden sind und es um die Anpassung an sie geht, wird der Untersuchung von Zusammenhängen, die sie verursachen, eine Absage erteilt. Klar kann es auch mal Sinn machen, pragmatisch mit Problemen umzugehen. Man ignoriert ihre Gründe und konzentriert sich auf eine schnelle Problemlösung. Antonovsky formuliert das aber, wie sich auch im Folgenden noch zeigen wird, zum allgemeinen Programm – und das kann nicht sinnvoll sein. Erstens werden so Sachen, die man wirklich nicht verhindern kann und solche, die man aus der Welt schaffen kann, einfach in einen Topf geschmissen: Stressoren gibt es halt. Zweitens ist damit eine Problembehandlung, die auf die Ursachen der Probleme geht, ausgeschlossen. In einer solchen wird zuerst eine Analyse des Problems durchgeführt. Wenn z. B. das Auto nicht mehr fährt oder der Computer nicht mehr läuft, passt man sich dem nicht einfach an, sondern geht den Ursachen nach – für Laien z.B. indem sich Wissen über die Funktionsweise angeeignet wird oder indem Experten gefragt werden.
Wenn man die Gründe für widrige Lebensbedingungen (= „Stressoren‟) herausfindet, zeigt sich, wie man am besten damit umgehen kann. Erst dann sieht man, ob es sich um vermeidbare Belastungen handelt, die durch das Handeln von sich und/oder anderen begründet sind und durch verändertes Handeln vermieden werden können. Genau das soll laut Antonovsky allerdings nicht mehr stattfinden. Folgt man ihm, wird die Frage, was die feindlichen Lebensbedingungen ausmacht, wie sie entstehen und entsprechend ob sie vermieden werden können, nicht mehr gestellt. Stattdessen soll man sich an sie anpassen:
„Salutogenetisches Denken eröffnet nicht nur den Weg, sondern zwingt uns, unsere Energien für die Formulierung und Weiterentwicklung einer Theorie des Coping einzusetzen.“ (S. 30)
Die Absage an eine Untersuchung der widrigen Lebensbedingungen geht einher mit der entsprechenden Zielformulierung. Wenn einem Mist passiert, soll man nicht fragen, was ist da los, sondern den Stress im ersten Schritt als unvermeidlich hinnehmen. Diese Vogel-Strauß-Methode gegenüber dem Warum widriger Lebensbedingungen wird auch noch positiv hingestellt. Es sei eine Errungenschaft, dass man dann nur noch die Möglichkeit der Schadensbegrenzung habe!
Wie diese Bewältigung aussehen soll, wird in der Definition von Antonovsky’s Konzept des Kohärenzgefühls deutlich. Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, SOC) ist das zentrale Konstrukt in der Salutogenese. Damit ist eine sinnstiftende individuelle Verarbeitung gemeint, nach der die Welt im Zusammenhang eines sinnvollem Ganzen stände und beeinflussbar sei. Vom Kohärenzgefühl ist laut Salutogenese der gesundheitsförderliche Umgang mit Stressoren abhängig.
„Das SOC ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein (...) Gefühl des Vertrauens hat, daß
a. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
b. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
c. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“ (S. 36)
Es könnte scheinen, als wenn hier doch die Erklärung der Welt eine Rolle spielt. Auch die Frage, ob einem Ressourcen zur Verfügung stehen, ist tatsächlich entscheidend, ob und wie man mit einer feindlichen Sache (z.B. Hunger) fertig wird. Es geht hier allerdings nicht um Erklärungen und Ressourcen, sondern um das Gefühl dazu. Entscheidend sei also die Sichtweise, wie Anforderungen gesehen werden, nämlich als Herausforderungen. Herausforderung heißt, es handelt sich potentiell um etwas Positives, durch das man zwar gefordert wird, das dann dem eigenen Vorankommen aber auch dienlich ist. Deswegen lohnen sie Anstrengung und Engagement.
Warum sollte sich aber eine rosarote Brille auf irgendwelche unhinterfragten Lebensbedingungen positiv auf die Gesundheit auswirken? Warum sollte das Ausschalten der kritischen Beurteilung von „Stimuli‟ zum eigenen Nutzen sein? Angenommen, die Anforderungen, die einem begegnen, sind einem überhaupt nicht oder auch nur in der Summe nicht dienlich – dann wäre es zum eigenen Nachteil, sich diese als Herausforderungen, die zum eigenen Vorankommen da sind, einzubilden, weil man beim positiven Bezug auf sie Schaden davonträgt.
„Das Kernstück der salutogenetischen Orientierung ist die grundlegende philosophische Sichtweise, daß der menschliche Organismus sich prototypisch in einem dynamischen Zustand eines heterostatischen Ungleichgewichts befindet. Ob die Stressoren nun aus der inneren oder äußeren Umgebung stammen, ob es sich um alltägliche Widrigkeiten handelt, ob sie akut, chronisch oder endemisch sind, ob sie uns aufgezwungen werden oder wir sie frei gewählt haben, unser Leben ist reichlich mit Reizen angefüllt, auf die wir keine automatischen, angemessenen adaptiven Antworten haben und auf die wir reagieren müssen. (...) Lassen Sie uns einige Beispiele betrachten. Ein 40jähriger Stahlarbeiter wird darüber informiert, daß seine Firma geschlossen werden soll. Eine 27jährige Jungmanagerin muß erfahren, daß keinerlei Beförderung möglich und ihre Stelle in Gefahr ist, wenn sie nicht der Forderung ihres Chefs nachkommt, mit ihm zu schlafen.“ (S. 124/5)
Dass sich menschliche Organismen in einem heterostatischen Ungleichgewicht befinden, soll so viel heißen, dass Menschen von Natur aus in gewissem Grad fragil und mit ihrer Gesundheit niemals völlig im Gleichgewicht sind. Das ist ganz ähnlich wie der Gedanke der immer präsenten widrigen Lebensbedingungen, nur nochmal von der Seite der Subjekte und deren Organismus ausgedrückt. Von dieser allgemeinen Aussage macht Antonovsky den Übergang zu Beispielen der Entlassung eines Lohnabhängigen und der Erpressung zum Sex im Arbeitsleben. Indem er diese Beispiele in einem Atemzug mit menschlichem Organismus und allgegenwärtigen Stressoren nennt, legt er nahe, dass sie ähnlich natürlich und selbstverständlich seien.
Mit den Beispielen ist die Arbeitswelt angesprochen. Die hält im Kapitalismus allerdings nicht nur die eine oder andere Belastung bereit, sondern ist ganz prinzipiell Belastung. Arbeit findet hier statt, wenn sie der Kapitalverwertung dient und entsprechend auf eine solche Art und Weise, dass sie sich für das Unternehmen möglichst maximal dazu lohnt. Der 40jährige Stahlarbeiter wird entlassen, weil die Geldverwertung in „seiner“ Firma nicht mehr funktioniert hat. Um zu diesem Zweck angestellt zu werden, konkurrieren die Anbieter der Ware Arbeitskraft gegeneinander, haben also aufgrund der gesellschaftlichen Verfasstheit, die Antonovsky gerade ignoriert und pauschal zur „Realität‟ erklärt, sich gegenseitig ausschließende Interessen. Die Unternehmen schaffen dabei eine Hierarchie der Entlohnung vom Niedriglohn bis hin zu wenigen besser bezahlten Positionen, die in der Regel die Aufgabe haben, die schlechter bezahlten Leute anzutreiben, einzustellen oder zu entlassen. In Verhältnissen der Konkurrenz um Arbeitsplätze, auf die die meisten auch in den mittleren und höheren Etagen existentiell angewiesen sind, kann der Chef der Jungmanagerin seine Machtposition ausnutzen und sie zum Geschlechtsverkehr nötigen2.
Weiterhin übergeht er gesellschaftliche Unterschiede, wenn er schreibt, dass „unsere“ aller Leben mit Stressoren angefüllt seien. In der gegenwärtigen Gesellschaft bedeutet die individuelle Lage – vor allem wie viel Geld man zur Disposition hat – erhebliche Unterschiede bezüglich der Widrigkeiten, mit denen Leute konfrontiert sind.
„Es liegt in der Natur der menschlichen Existenz, daß Probleme nicht verschwinden und Spannung erzeugt wird.“ (S. 128)
Es liegt nicht in der „Natur der menschlichen Existenz“, dass Produktion in Unternehmen mit dem Zweck der Kapitalverwertung stattfindet und wenn dieser Zweck nicht aufgeht, 40jährige Stahlarbeiter entlassen werden. Es liegt auch nicht in der „Natur der menschlichen Existenz“, dass 27jährige Jungmanagerinnen zum Geschlechtsverkehr mit ihren Chefs erpresst werden. Beides hat seinen Grund in den gesellschaftlichen Verhältnissen.
Antonovsky insistiert dennoch auf der Natürlichkeit von unnatürlichen Problemen. Damit legitimiert er einen geistigen Umgang mit ihnen, der falsch ist:
„Aber wenn einmal dieses Vertrauen [im Sinne des Kohärenzgefühls] aufgebaut ist, wenn sich, in meinen Begriffen, die generalisierte Weltsicht als bedeutungsvoll und verstehbar auf die spezifische Situation richtet, ist man bereit, zu handeln. Solches Handeln kann simultan oder sequentiell darauf ausgerichtet sein, das instrumentelle Problem und die emotionale Belastung zu lösen. Was bedeutet dies, um eines der vorigen Beispiele aufzugreifen, für den 40jährigen Stahlarbeiter, dem mitgeteilt wird, daß sein Werk schließen und er seine Arbeit verlieren wird? Betrachten Sie die folgende Vielzahl von Ressourcen, die von einer Person mit einem starken SOC aktiviert werden können: darauf insistieren, daß seine Gewerkschaft ein sehr genaues Auge auf alle Versuche der Firma hat, sich der auf legitime Weise erworbenen Abfindung, Rentenansprüche oder Rechte im Urlaubs- und Krankheitsfall zu bemächtigen; klarstellen, daß weder er noch seine Kollegen, sondern inkompetentes Management oder generelle soziale Bedingungen schuld am Scheitern des Unternehmens sind; Überprüfung des Familienbudgets und Kalkulation, welche Einschränkungen gemacht werden können und wie lange die Ersparnisse ausreichen können; gemeinsame Überlegungen mit seiner Frau, die bisher lieber zu Hause geblieben ist, ob sie sich nach einem Job umsehen sollte und wie die Kinder mit anpacken könnten; die Gelegenheit nutzen, noch einmal genau zu überlegen, ob dies nicht eine gute Chance für einen Berufswechsel oder eine Weiterbildung ist; da nun ein wenig freie Zeit zu erwarten ist, kann er die Dinge in Angriff nehmen, die er schon seit langem tun wollte, ohne daß dabei die Suche nach einer neuen Stelle zu kurz käme; er wird seinen Onkel oder einen Kameraden aus der Armee kontaktieren, um Ideen für eine neue Arbeit zu sammeln; er wird wieder dem Kirchenchor beitreten und singen, um den Schmerz zu lindern. Und er wird sich umsehen, aber nicht nur nach einem anderen Job, sondern nach einem der ihm in jeder Beziehung angemessen Gratifikation verschafft. Schließlich sprechen wir darüber, wie er die nächsten 25 Jahre verbringen wird.“ (S. 135/6)
Das ist an Zynismus schwerlich zu übertreffen. Antonovsky propagiert einen systematischen Selbstbetrug, bei dem eine große Misere als etwas Gutes gesehen werden soll. Er stellt vor, wie Leute „mit einem starken SOC“ gedanklich Scheiße zu Gold machen sollten – und damit, so meint er, würden sie sich auch noch einen Gefallen tun. Was er schreibt ist eine Frechheit gegenüber denjenigen, an die sein Programm gerichtet ist. Das wird deutlich wenn man sich vorstellt, dass Antonovsky dem entlassenen Stahlarbeiter persönlich mitteilen würde, er solle seine Lage doch positiv sehen, jetzt kann er endlich die Ressourcen nutzen, eine neue Finanzplanung aufzustellen und mit seiner Frau zu überlegen, wie sie einen Job bekommen könnte.
Daran schließt sich direkt das folgende Zitat an:
„Es gibt keine Garantien im Leben, und die Realität mag einem fortwährend am Herzen, an der Zeit und dem Geldbeutel zerren. Man kann sich sehr wohl auf den Holzweg begeben, Fehler machen und sich selbst täuschen. Man beginnt sich zu beschuldigen, mit der Frau und den Kindern zu meckern und zu trinken. Aber die Chancen, daß eine Person mit einem starken SOC fehlangepasste Copingaktionen unternimmt, sind geringer.“ (S. 136)
Was ist denn das für eine Realität, die einem da „fortwährend am Herzen, an der Zeit und dem Geldbeutel“ zerrt? Bei Antonovsky liest es sich so, dass diese Realität unhinterfrag- und unhintergehbar wäre, obwohl er andererseits um die bestimmte Verfasstheit der Gesellschaft weiß. Denn aus den positiven Ressourcen, die der entlassene Stahlarbeiter aktivieren könnte, wird klar, um was für eine Realität es sich handelt. Das Management hat ihn entlassen; er könnte die Gewerkschaft anrufen, um sich seine Rentenansprüche zu sichern und er könnte nochmal klarstellen, dass er nicht an seiner Entlassung schuld ist. Das weist auf einen Klassengegensatz hin. Das Management entscheidet im Auftrag des Kapitals über die Existenz derjenigen Leute, die auf Lohn angewiesen sind. Die Interessen dieser zwei Klassen sind entgegengesetzt und wer wem was zu sagen hat, ist klar. Allein die Notwendigkeit, dass sich die Lohnabhängigen zusammentun und mit Arbeitsverweigerung drohen müssen, um überhaupt ihre Interessen vorbringen zu können, zeigt, dass es sich nicht um eine Gesellschaft der „Gelegenheiten‟ handelt. Die Anforderungen („Stimuli‟), vor die so viele Leute gestellt sind, sind nicht zu deren Vorankommen da.
In dem Zitat wird auch deutlich, dass Antonovsky's Programm auf Anpassungsleistungen hinausläuft, die die Betroffenen erbringen sollen. Der Einstieg in dem Buch ist die Förderung von Gesundheit. Da ist das Widersinnige, dass eine undifferenziert positive Sicht auf widrige Lebensumstände gesundheitsförderlich sein soll. In Bezug auf die hier erwähnte geforderte Anpassung wird klar, in welchem Zusammenhang die positive Sicht steht: gemeint ist eine bestimmte, gesellschaftlich erwünschte Haltung.
Anpassung setzt etwas voraus, an das sich angepasst werden kann. Was das ist, wird wiederum aus dem Beispiel des Stahlarbeiters deutlich. Der soll z.B. das Angebot der Kirche zur Schmerzlinderung wahrnehmen; er soll sich ideelle Genugtuung schaffen, indem das „Fehl-Managemant‟ für die Kündigung verantwortlich macht. Vor allem aber soll er seine miese Situation als Ausgangspunkt für neue Bemühungen nehmen, in den „herausfordernden“ Verhältnissen wieder zurechtzukommen. Er soll es als eine Gelegenheit sehen, wie er oder seine Frau an einen Job kommen könnten; er soll es als eine Gelegenheit sehen, dass seine Kinder mitanpacken könnten und er soll es als eine Gelegenheit sehen, sich für den Arbeitsmarkt fitzumachen. Die selbstbetrügerische geistige Stellung, die Antonovsky vorschwebt, soll Leute jeweils zum Sisyphos machen. Das ist das Ideal, was in der Salutogenese steckt:
„Meine Ansicht ist natürlich nicht, daß Arbeitslosigkeit eine glückliche Erfahrung ist; ganz im Gegenteil. Aber bei der Person mit einem starken SOC mag sie weniger schädlich sein und sich sogar als günstig erweisen.“ (S. 136)
Im Wissen, dass Arbeitslosigkeit keine glückliche Erfahrung ist, sei es mit der Sicht, dass es eine glückliche Sache wäre, doch vielleicht nicht ganz so schlimm. Die Propagierung einer falschen Sicht auf diese Verhältnisse ist kein Gefallen für die, die drin stecken. Denn der Erfolg liegt eben nicht in der Hand der Leute, sondern bei den Konjunkturen der Märkte und damit verbunden für die Arbeitnehmer bei den Kalkulationen der Arbeitgeber. Es gibt eine Notwendigkeit im Scheitern von Lohnabhängigen im Kapitalismus: Ihre Arbeit ist Kostenfaktor, der vom Kapital anhand des Maßstabs Rentabilität lohnmäßig minimiert und leistungsmäßig maximiert wird3.
„Eine Einstellung gegenüber der Welt, in der Stimuli als bedeutsam, verstehbar und handhabbar gesehen werden, liefert die motivationale und kognitive Basis für Verhalten, mit dem von Stressoren gestellte Probleme wahrscheinlicher gelöst werden können als eine, die die Welt als beschwerlich, chaotisch und überwältigend ansieht.“ (S. 137)
Der Fokus ist hier nicht mehr die Verbesserung von individueller Gesundheit. Antonovsky schreibt nur noch von einer Basis, auf der Probleme wahrscheinlicher gelöst werden können. Er geht davon aus, dass sie jeweils schwerlich, also im Ganzen gar nicht zu lösen sind. Entsprechend sieht dann auch die Anpassungsleistung aus, um die es geht: man soll mit den widrigen Lebensbedingungen einverstanden sein und erst dann mit eigener, möglichst maximaler Anstrengung in Angriff genommen werden.
Antonovsky macht seine falsche Sicht der Herausforderungen zum Programm. Für den Stahlarbeiter schließt er folgendermaßen:
„Unseren arbeitslosen Stahlarbeiter zum Beispiel kann der Copingprozeß in die Leitung der Gewerkschaft katapultieren, seine Frau kann eine bezahlte Arbeit annehmen, seine Kinder können ihn mehr zu sehen bekommen, oder er mag von seinem Onkel, mit dem er bisher in entfernter Beziehung stand, einen unattraktiven zeitlich befristeten Job angeboten bekommen. So ist das wirkliche Leben. Aber wenn ich diese Zusammenhänge herstelle, verstärke ich damit nur meine ursprüngliche Position, daß Stressoren allgegenwärtig in der menschlichen Existenz sind, daß wir permanent zum Coping aufgefordert werden.“ (S. 137)
Hier wird nochmal deutlich, dass Antonovsky sich über seine Ignoranz der Verhältnisse im klaren ist. Den geschilderten Widrigkeiten will er nur entnehmen, dass „Stressoren allgegenwärtig sind‟, dass also seine Ausgangsthese bestätigt wird. Sein Programm ist gegen die Ablehnung der Verhältnisse gerichtet, die in Anbetracht der von ihm geschilderten typischen Lebenssituationen nahe liegt.
Es ist bedauerlich, wenn Leute sich geistig zustimmend in Verhältnissen einrichten, in denen sie als Material für fremde Zwecke der Geldverwertung verwendet werden. Widerlich ist, dass Antonovsky das zum „wissenschaftlichen‟ Programm macht und sich das als Gefallen an den Leuten anrechnet.
1„Gesünder‟ werden impliziert eine veränderte Vorstellung vom Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit: Statt einem Entweder-Oder geht die Salutogenese von einem Kontinuum mit den Polen Krankheit und Gesundheit aus.
2Hier soll nicht gesagt sein, dass die Konkurrenz um Arbeitsplätze alleiniger Grund für diese Erpressung ist. Sowas findet in einer sexistischen Gesellschaft statt. Größtenteils gehen Übergriffe nicht nur in der Arbeitswelt von Männern aus und richten sich gegen Frauen.
3Siehe dazu das Buch Die Misere hat System: Kapitalismus, insbesondere Kapitel 4 zu Lohnarbeit.