03.10.1998 PDF

Was ist Nationalismus?

Auch wer nicht als gröhlender Skinhead auf offener Straße Ausländer verprügelt und somit vom Klischee des bösen Nationalisten weit entfernt zu sein scheint, kann durchaus der Meinung sein, daß es richtig ist, sich freiwillig zum Bund zu melden, Wahlhelfer zu spielen oder der nationalen Fußballmannschaft zuzujubeln. Daß zunächst einmal jeder Deutsche einen Arbeitsplatz braucht, bevor Leute aus anderen Ländern "bei uns" ihr Geld verdienen dürfen, ist auch für erklärte Ausländerfreunde etwas, was wirklich einmal offen gesagt werden muß; davon abgesehen, daß die Aufnahmekapazitäten für Asylbewerber "natürlich" nicht unbegrenzt sind - schon allein kulturell sind "wir" davon einfach überfordert: das bescheidene aber nachdrückliche Einklagen eines "gesunden Nationalgefühls" gehört dabei seit 1989 sowieso wieder zum guten Ton jeder Politikerrede.

Wer "wir" sagt und damit nicht sich und seine Freunde meint, sondern gerne zugibt, sich "als Deutscher zu fühlen", glaubt, selbst wenn er es nicht aussprechen würde, zu einem "Volk" zu gehören, das von anderen "Völkern" unterschieden ist und natürlicherweise danach strebe, sich zu einem Nationalstaat zusammenzuschließen. Daß eine Anzahl höchst unterschiedlicher Menschen ein bestimmtes Volksganzes bilden soll, wird auf verschiedene Weisen begründet; keine dieser Begründungen ist jedoch richtig:
Verfassungspatrioten betonen, daß der Nationalstaat nichts anderes sei als ein Zusammenschluß der Bürger zu ihrem gegenseitigen Nutzen. Ein solcher Willenszusammenhang gründet sich auf einer angenommenen Interessengleichheit seiner Mitglieder. Was alle wollen sei "Life, liberty and the pursuit of happiness", und erst der Zusammenschluß zu einer Nation ermögliche es den Einzelnen, diese Wünsche zu verwirklichen. Daß diese Begründung wesentliche Merkmale bürgerlicher Gesellschaften ignoriert und damit falsch ist, soll weiter unten gezeigt werden.
Es gibt aber noch andere Versuche die Zugehörigkeit verschiedener Leute zu einem Volk zu begründen.


Beispielsweise die Behauptung, Menschen gehörten aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache natürlicherweise zusammen.
Sprachen sind aber gar nichts natürliches: man kann sie nämlich lernen. Zunächst ist eine bestimmte Sprache die äußere Form eines Gedankens. Das sieht man schon daran, daß man ein und denselben Gedanken in verschiedenen Sprachen ausdrücken kann. Daß Leute, die eine bestimmte Sprache sprechen, eine Gemeinschaft bilden, deren Mitglieder von anderen Menschen nicht nur durch die Form, in der sie sich ausdrücken, sondern auch in ihrem "Fühlen und Denken" unterschieden seien, ist schlichtweg falsch.

Auch die Kultur ist nichts, worauf sich eine "Volksgemeinschaft" gründen würde. Es mag möglich sein, zwischen verschiedensten Stilrichtungen und Kunstformen, Epochen und Künstlern Verbindungen aufzuzeigen - sie unter eine "Nationalkultur" zu ordnen, ist ihnen immer äußerlich. Leute, die sich auf "unseren" Goethe berufen, als hätten sie den "Werther" selbst geschrieben, zeigen damit nur, wie wenig sie von der Kunst verstehen, die sie zum Grund ihrer nationalen Identität erklären wollen. Ein Kunstwerk enthält in sich immer eine Reflexion auf die künstlerische Tradition. Daß sich diese Tradition nicht auf Staatsgrenzen beschränken läßt, kann man an fast jedem Kunstwerk zeigen.

Diesen falschen Begründungen ist eines gemeinsam: sie verkehren die Folgen einer gewaltsamen Zusammenfassung von Menschen zu einer Nation in den rechtfertigenden Grund dieses Nationalstaates. Daß offizielle Amts- und Schriftsprachen gegenüber Dialekten zum verbindlichen Verständigungsmittel werden, beruht immer auf staatlicher Anordnung: So ist die allgemeine Verbreitung von Hochdeutsch Resultat und nicht Ursache der Gründung des Deutschen Reiches. Und wenn sich überhaupt eine Gepflogenheit über genau eine ganze Nation verbreitet haben sollte, dann erst, weil es diese bereits gab. Oder was haben die ostfriesische Teekultur und das Bayrische Weißwurstessen, der Dans op de Deel und der Schuhplattler anderes gemeinsam, als daß sie unter "deutsch" sortiert werden? Das Kriterium für eine solche Sortierung sind nicht etwa Ähnlichkeiten in den Sitten und Gebräuchen; vielmehr vollzieht sich die Bestimmung "typischer" nationaler
Eigenarten entlang von Staatsgrenzen.

Der völkische Nationalismus beruht auf der Ansicht, ein Nationalstaat sei "die Zusammenfassung physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen" (Adolf Hitler) und ist damit die radikalisierte Form des Kulturnationalismus. Denn hier soll die "natürliche Gemeinschaft" gleich ganz auf Natur gründen: es sei das biologische Wesen eines Menschen, das ihn zu einem bestimmten Volk und damit zu einem klar abgegrenzten Nationalstaat gehören lasse. Nun ist es aber so, daß Blut überall rot ist und einen Rhesusfaktor hat oder nicht, weltweit gibt es nur die Blutgruppen 0, A, AB und B. Irgendwelche nationalen Charaktereigenschaften zu behaupten, ist genauso falsch: In jedem "Volk" gibt es höchst unterschiedliche Menschen, die mit anderen Menschen aus "anderen Völkern" mehr gemeinsame Interessen haben, als mit ihren "Volksgenossen". Auch Haut-, Haar- und Augenfarbe, Religion, Reichtum und "Intelligenz" taugen nicht, die Zugehörigkeit verschiedener Menschen zu einem bestimmten Volk zu begründen.

Exkurs: Anmerkungen zu Deutschland
Jede der bereits erwähnten Varianten von Nationalismus (und noch andere) gibt es in jedem Nationalstaat.
"Verfassungspatriotismus" ist die klassische Variante der amerikanischen und französischen Revolution. Kulturalistisch-konventioneller Nationalismus ist z.B. der deutsche Nationalismus bis 1870, oder der "Panslawismus" in der Zeit vor dem I. Weltkrieg. Der völkisch-rassistische Nationalismus hat sich erst 1933 in Deutschland durchgesetzt. In jedem Nationalstaat - egal welche Argumente offiziell zur Begründung seiner Existenz angeführt werden- wird von staatlicher Seite festgelegt, wer Angehörige/r der jeweiligen Nation ist, und in jedem Nationalstaat gibt es Leute, die anderen Auffassungen anhängen. Auch die amerikanischen FaschistInnen glauben z.B., daß Schwarze und Hispanics keine AmerikanerInnen sein können, und die jüdisch geführte Regierung in Washington dabei ist, den american way of life abzuschaffen. Auch in Frankreich will die politische Rechte den König Chlodwig (5. Jahrhundert) nachträglich zum ersten französischen König machen, und damit die französische Geschichte anno dunnemals beginnen lassen.

In jedem Nationalismus schlummert die Tendenz, die Gemeinsamkeiten von Menschen, mit denen die Nation gemacht wird, zum Grund des Nationmachen zu verklären. Die Bürger eines Staates sollen den gemeinsamen Willen zur Nation deswegen haben, weil die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Kultur und Geschichte sie dazu bestimme. Die Radikalisierung des Versuches eine Volkszugehörigkeit zum Schicksal zu erklären, besteht darin, zu behaupten, daß deutsche Kultur und Sprache nur Ausdruck der physischen und seelischen Gleichartigkeit der Deutschen seien. Das ist auch konsequent - denn einen Willen kann jemand haben oder nicht. Gegen sein "Schicksal" oder sein "biologisches Wesen" kann er jedoch nichts ausrichten.
Wie alle Nationalisten, waren auch die deutschen Nationalisten bereit, für ihr Land Krieg zu führen. Die Gründe für Kriege zwischen bürgerliche Staaten haben wir schon angeführt .Mit ihnen alleine läßt sich der Krieg des faschistischen Deutschlands aber nicht erklären. Auch der französische und amerikanische Nationalismus wollen nicht bloß in den Grenzen ihres jeweiligen Landes bleiben, auch sie sind an Wirkung auf die anderen Staaten dieser Welt interessiert. Sie aber leiten ihre "Verantwortung für die Welt" aus der "Demokratie" bzw. "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ab, die sie den anderen Völkern zu bringen hätten. Der Vietnamkrieg ist ein Beispiel dafür, inwiefern es den Staaten bei der Durchsetzung ihrer Prinzipien um das Wohl der Bevölkerung zu tun ist.
Zwar sollte auch am deutschen Wesen die Welt genesen. Wenn aber der Charakter eines Staates sich aus dem Charakter des Volkes ergibt - und das war die Behauptung des deutschen Nationalismus - so konnten die anderen Völker nur dadurch "befreit" werden, daß sie dauerhaft unter die deutsche Knute kamen. Deren kulturelle Minderwertigkeit galt als Ausdruck ihres biologischen Wesens. Der "Platz an der Sonne" wurde vom Feinde verweigert. Eingeklemmt zwischen Ost und West, war jede Handlung der deutschen Nation immer nur eines: Ein heiliger Verteidigungskrieg für das, was Deutschland eigentlich zustände - ihm aber bisher aus Haß auf die überlegene deutsche Kultur verweigert wurde.
Im Osten sahen die deutschen NationalistInnen nach 1870 nur Barbarei am Werke, faule, schmutzige Tagediebe:


"Das ganze Leben der Polen ist, als wäre es mit zerrissenen Stricken und Lumpen zusammengebunden und zusammengehalten. Schmutzige deutsche Juden, die wie Ungeziefer in Schmutz und Elend wimmeln, sind die Patrizier des Landes. Tausendmal habe ich gedacht, wenn doch das Feuer diesen Anbau vernichten wollte, damit dieser unergründliche Schmutz von der reinlichen Flamme in reinliche Asche verwandelt würde. Das war mir immer eine wohltätige Vorstellung“
[Carl von Clausewitz: Brief an seine Frau 1812, zit. n. Seepel: Polenbild, S.28. Die Verachtung für Polen reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, aber erst nach 1871 ist sie "Allgemeingut" des deutschen Nationalismus geworden.]

An Feuer und Asche auf polnischem Boden hat es dann ja später nicht gefehlt.
Im Westen dagegen nur eine "degenerierte" Zivilisation, der nichts heilig war, mit dem Sündenbabel "Paris" als Hauptstadt. Der Erbfeind, das französische Volk, "das in dem Wahne lebte, jeden Augenblick einen neuen Staat herstellen zu können" [D. Müller: Geschichte des deutschen Volkes. Berlin 1894. Zit. n. König: Imperialistische Erziehung, S.43], bedrohte durch revolutionäre Ideen, militärische Expansion und seine Sittenlosigkeit deutsche Art und deutsches Wesen.

So umzingelt, und dann noch im Inneren die "Reichsfeinde": Die SozialdemokratInnen, die als "vaterlandslose Gesellen" bezeichnet wurden (was sie leider nicht waren), die Menschen aus Polen, Dänemark und Elsaß-Lothringen, die der nationalen Unzuverlässigkeit verdächtigt wurden, die Jüdinnen und Juden, denen das noch mal besonders unterstellt wurde, die Roma und Sinti, die als unnütze Kriminelle betrachtet wurden, die Homosexuellen, die als kranke Volksschädlinge galten, und die Frauenbewegung. Letzteren wurde nicht nur vorgeworfen, die "natürliche Ordnung" umzuwerfen - Homosexuelle und Frauenrechtlerinnen wurden als Feinde einer hinreichenden nationalen Nachwuchs-Produktion ausgemacht.
Nichts davon mußten die Nazis erfinden - das war die hegemoniale Art des Nationalismus im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Und auch schon vorher gab es die Überzeugung, eine jüdische Weltverschwörung gegen Deutschland sei im Gange. Vieles davon gab und gibt es auch in anderen Ländern und ihren Nationalismen. Aber: Nur in Deutschland ist daraus ein Staatsprogramm zur Ausrottung aller Feinde geworden. Nur in Deutschland hat der Antisemitismus zum Sieg einer radikal-nationalistischen Bewegung beigetragen.
Hitler hat in seiner Schrift "Mein Kampf" vieles nur zu Ende gedacht. Als Staatsmann hat er praktische Konsequenzen daraus gezogen. Die Völker befinden sich im Weltbild Hitlers im permanenten Krieg miteinander. Im Egoismus der Bürger und ihrer Konkurrenz um den nationalen Reichtum sah er eine Gefahr für den Erfolg der Nation. Alles sollte in den Dienst der Nation gestellt werden, auch das tägliche sich Durchbeißen in der Welt des Geschäfts.
Warum die Nationalsozialisten an die Macht kamen, muß man aus der innenpolitischen Situation 1932/33 und der Verfassung des Deutschen Reiches erklären. Daß es solche Bewegungen gibt und sie an die Macht kommen können, ist aber alles andere als ein bloßer Zufall. Daß sie es dann auch tun, hat etwas zufälliges. Und es ist leider so: So etwas kann in einer bestimmten historischen Situation darüber entscheiden, ob mehrere Millionen Menschen in Gaskammern sterben oder nicht. Da spielen dann verschiedene Fragen eine Rolle. Z.B. ein Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung, eine nicht gemachte
Enteignung der ostelbischen Großgrundbesitzer und des rheinischen Großkapitals, das Scheitern alternativer Faschismuskonzepte (Schleicher, v. Papen etc.), der staatstragende Antikommunismus und Nationalismus von SPD und Gewerkschaften oder auch die mangelnde Begeisterung der Vorläufer von CDU/CSU und F.D.P. für die Weimarer Republik. Daß es einen Faschismus geben würde, war ab 1930 ziemlich klar, welcher es sein würde, hat sich 1932/33 herauskristallisiert. Das beste Mittel, um eine "Machtergreifung" zu verhindern, ist es, eine solche Macht abzuschaffen. Massenmord
sollte man dadurch verhindern, daß man mit Verhältnissen Schluß macht, in denen sich die Frage überhaupt stellen kann, ob Menschen umgebracht werden sollen oder nicht.


Es ist nicht zu leugnen, daß z.B. als "Deutsche" sortierte Menschen einige Gemeinsamkeiten haben: sie gehorchen derselben Obrigkeit, bezahlen mit demselben Geld und haben den gleichen Paß: alles Kennzeichen von Deutschsein, die mit "Nationalgefühl", "Volkscharakter" und "Blut" überhaupt nichts zu tun haben. Ein "deutsches Volk" gibt es also nicht, einen deutschen Staat aber leider schon, und die Zusammenfassung verschiedener Menschen auf einem bestimmten Territorium und unter ein gemeinsames Gesetz beruht nicht auf einer Befragung jedes einzelnen Menschen, sondern ist ein Sache von Herrschaft.

"KALLE
Die Vaterlandsliebe wird schon dadurch beeinträchtigt, daß man die lieben soll, die man heiratet, und nicht heiratet, die man liebt. Warum, ich möcht zuerst eine Auswahl haben. Sagen wir, man zeigt mir ein Stückel Frankreich und ein Fetzen gutes England und ein, zwei Schweizer Berge und was Norwegisches am Meer und dann deut ich drauf und sag: das nehm ich als Vaterland; dann würd ichs auch schätzen. Aber jetzt ists, wie wenn einer nichts so sehr schätzt wie den Fensterstock, aus dem er einmal herausgefallen ist.
ZIFFEL
Das ist ein zynischer, wurzelloser Standpunkt, der gefällt mir."
(B. Brecht, Flüchtlingsgespräche)


Um zu unterscheiden, was am Nationalismus Wahn ist und was auf einen objektiven Sachverhalt geht, soll im folgenden das Verhältnis des Staates zu seinen Untertanen untersucht werden.

Der Staat ist tatsächlich eine neutrale Instanz: er ist kein Instrument von besonderen Interessen, wie es Verschwörungstheoretiker immer wieder behaupten. Am Donnerstag treffen sich nicht die großen und fiesen Kapitalisten der Republik, um die Politiker für die nächste Woche neu zu programmieren. Der Staat garantiert nämlich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln: Polizei, Militär und Justiz, also mit seinem Gewaltmonopol allen seinen Bürgern Gleichheit, Freiheit und Eigentum, was ersteinmal nach einer guten Sache klingen mag, es in einer kapitalistischen Produktionsweise jedoch nicht ist. Diese zeichnet sich nämlich u.a. dadurch aus, daß es in ihr Leute gibt, die über Eigentum verfügen, aus dessen produktiver Verwendung sie einen Profit ziehen können: sie sind Kapitalisten und unterscheiden sich von Leuten, die nicht über solches Eigentum verfügen und ihre Existenz deshalb nur sichern können, indem sie das einzige verkaufen, was sie haben, nämlich ihre Arbeitskraft: solche Leute sind Arbeiter und auf Arbeitslohn angewiesen.

Unter dieser Voraussetzung ist die Garantie der Freiheit der Person durch den Staat nichts anderes als die Herstellung der Grundbedingungen für Vertragsschlüsse: nur freie Personen können untereinander Verkaufs - und Arbeitsverträge schließen, und diese Verträge sind nur gültig, wenn sie zwischen formal gleichen Personen geschlossen werden. Auch die Gewährung von Gleichheit wird unter den oben genannten Bedingungen zu einer seltsamen und tatsächlich bloß formalen Sache: Jeder Millionär darf unter Brücken schlafen und jeder Penner eine Villa kaufen. Gerade indem der Staat von den Unterschieden seiner Bürger, d.h. von ihren unterschiedlichen ökonomischen Mitteln absieht, zementiert er den Unterschied zwischen Produktionsmittelbesitzer und Arbeiter.

Auch die Garantie des Eigentums durch den Staat verliert ihren harmlosen Charakter, wenn man bedenkt, daß es dabei nicht eigentlich um Zahnbürsten und Fernseher, sondern um Produktionsmittel geht. Eigentum an Produktionsmitteln zu haben, heißt, andere von der Verfügung über sie auszuschließen; von der Verfügung über die Produktionsmittel ausgeschlossen zu sein, heißt aber, daß einem die Mittel zur Existenzsicherung verwehrt werden.
Diejenigen, die keine Mittel haben, um das herzustellen, was sie zum Leben brauchen, werden deshalb selbst Mittel zu einem Zweck, der nicht der ihre ist. Der Kapitalist hat den Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen: Das "mehr" kommt aus der Differenz zwischen dem Neuwert, der durch die Arbeit geschaffen wird, und dem Lohn, den der Kapitalist dem Arbeiter zahlt. Damit der Kapitalist Kapitalist bleiben kann, muß er dem Prinzip der Kapitalakkumulation Genüge tun: Reichtum anhäufen, den er wiederum zur weiteren Anhäufung von Reichtum verwendet. - Wer ihn daran hindern will, ist nicht der Staat, sondern sind die anderen Kapitalisten, die als solche demselben Prinzip gehorchen müssen. Jeder Kapitalist muß die Kosten der Produktion möglichst gering halten, um in der Konkurrenz bestehen zu können. Kapitalisten konkurrieren also untereinander: um Profite, Absatzmärkte und Arbeitskräfte. Auch Arbeiter sind Teil der allgemeinen Konkurrenz: sie konkurrieren untereinander um den Verkauf ihrer Arbeitskraft und unterbieten sich in ihren
Lohnforderungen gegenseitig, um überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen.

Die Rolle des Staates ist es nun nicht etwa, dieses Verhältnis zu verbieten; vielmehr ermöglicht er es durch die Gewährung von Freiheit, Gleichheit und Eigentum. Darüber hinaus übernimmt der Staat alle Aufgaben, die selbst keinen Gewinn abwerfen, aber zur Produktion von Reichtum notwendig sind. Dazu gehören Infrastruktur, schulische Ausbildung, medizinische Versorgung und wissenschaftliche Forschung. Mit seinem Gewaltmonopol sorgt er dafür, daß die allgemeine Konkurrenz nicht in ein großes Hauen und Stechen ausartet, das die Produktionsweise und das Konkurrenzverhältnis selbst zerstören würde: er diktiert unter Androhung von Strafe die Weisen, in denen die Leute miteinander konkurrieren dürfen.

Dies geschieht zum Beispiel, indem es den Kapitalisten untersagt wird, die Arbeitskräfte so gering zu entlohnen, daß sie massenhaft ihre Existenz nicht mehr sichern könnten. Es muß ein Mindestlohn garantiert sein, damit Arbeiter - als Mittel zur Reichtumsakkumulation - überhaupt vorhanden sind. Dem einzelnen Kapitalisten treten Arbeitsgesetze zwar als Beschränkung entgegen - für das Fortbestehen des Kapitalverhältnisses sind sie eine notwendige Bedingung. Das jeweilige Staatspersonal muß diesen Zweck der Förderung und Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses seinen individuellen Handlungen dabei gar nicht bewußt unterlegen: Es mag Politiker geben, die aus lauter Menschenfreundlichkeit Arbeitsgesetze verabschieden, aber der objektive Zweck, an dem sich ihre Handlungen messen lassen müssen, wird spätestens dann deutlich, wenn er verletzt wird: Daß die Universitäten überfüllt sind, ist nicht deshalb schlimm, weil dann lauter halbgebildete Akademiker 'rumlaufen, sondern weil der "Bildungsnotstand" einen "Standortnachteil" darstellt.
Unter den Verhältnissen der Konkurrenz brauchen die Leute also den Staat als Regulator der Konkurrenz: ohne ihn würden sie totgewirtschaftet oder um ihr Eigentum, d.h. um ihre Geschäftsgrundlage gebracht werden; aber eben nur unter den Bedingungen des Privateigentums und der Konkurrenz, die ebenderselbe Staat zur einzig erlaubten Wirtschaftsweise erklärt hat. So ist der Staat Beschützer vor den Auswirkungen seiner eigenen Prinzipien.

Daß der Staat zwar kein Agent des Kapitals aber dennoch ein "Klassenstaat" ist, indem er das Klassenverhältnis zur Geschäftsgrundlage erklärt, zeigt, daß es das "Allgemeinwohl", auf das sich z.B. Verfassungspatrioten so gern berufen, in
einem bürgerlichen Staat nicht geben kann. Wer das nicht weiß, aber dennoch täglich den Konflikt zwischen dem eigenen Glück einerseits und den Forderungen und Ansprüchen des Staates und der Produktionsweise andererseits zu spüren kriegt, versucht auf verschiedene Weisen, sich diesen Konflikt zurechtzulegen. Alle diese Ideen laufen nicht nur darauf hinaus, daß man die Zwänge, unter die man von Staat und Kapital gesetzt wird, verleugnet, sondern sich - als Staatsfreund und Nationalist - auch noch positiv auf die Instanzen dieses Zwanges bezieht.

Sehr beliebt ist es, die Verhaltensweisen, die man an den Tag legen muß, um im Konkurrenzverhältnis bestehen zu können, in wesentliche Eigenschaften des Menschen umzuinterpretieren. Daß die Leute sich trotz ihres angeblich angeborenen Egoismus nicht gegenseitig totschlagen, ist in dieser Vorstellung dem Staat zu verdanken: in seiner Funktion als über allen Interessen stehende neutrale Instanz erscheint er als eine Art Dienstleistungsunternehmen in Sachen eines gerechten Zusammenlebens.

Man kann aber auch aus der eigenen Abhängigkeit vom Allgemeinen eine Chance machen: Der Zwang, sich auf bestimmte Weise zu reproduzieren, wird uminterpretiert in die großzügig gewährte Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Ausgerechnet das, wozu man gezwungen wird, erklärt man zum Resultat seines eigenen Willens. Diese Interpretation funktioniert besonders gut, wenn im Hinterkopf die Horrorszenarien der vergleichenden Regierungspropaganda spuken: Anarchie, Despotismus und Bürgerkrieg, verhungernde Kinder und "DDR-Mißwirtschaft" machen den Zwangszusammenhang zur "besten aller möglichen Welten".
Spätestens im Kindergarten wird einem anerzogen, seine Sonderinteressen nicht nur an anderen Sonderinteressen, sondern vor allem am imaginären Allgemeinwohl zu relativieren. Genau das gilt als "soziales" und moralisch einwandfreies Verhalten: nur "berechtigte" Interessen zu äußern und die Einsicht in den Nutzen der eigenen Beschränkung zu üben. Das Allgemeine, an dem alle besonderen Interessen auf ihre Berechtigung überprüft werden, wird dabei zu einer nicht weiter hinterfragbaren und bedingungslos gültigen Instanz. So sagen Studenten nicht einfach, daß sie mehr BAföG wollen, sondern versuchen ihre Forderungen damit zu legitimieren, daß es auch dem "Standort Deutschland" schaden würde, wenn sie nicht erfüllt würden. Was der "Standort" mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun hat, und an was für einen Staat sie ihre Forderungen stellen, darüber legen sie sich keine Rechenschaft ab.

Daß kaum ein Bürger mit "Denen da oben" wirklich zufrieden ist, widerspricht all dem überhaupt nicht: Neben der grundsätzlichen Bereitschaft sich regieren zu lassen, hat man nämlich jede Menge konstruktive Kritik an der jeweiligen "Regierungsmannschaft". Daß man diese dann sogar noch äußern darf, ist ein weiterer Pluspunkt für den Staat, den man als solchen überhaupt nicht in Frage stellen will. Die Zustimmung oder Ablehnung, die die Untertanen in einer Demokratie äußern dürfen, und die diese Herrschaftsform im Vergleich zu anderen so stabil macht, beschränkt sich auf die jeweilige Realpolitik, die von der grundsätzlichen Organisation des Gemeinwesens und "dieser unserer Verfassung" fein säuberlich getrennt wird. Und weil man nicht weiß, mit was für einem Staat und was für einer Wirtschaftsweise man es eigentlich zu tun hat, vermutet man häufig hinter dem "Versagen der Politik" nur eine inkonsequente Anwendung und Ausführung der Verfassungsgrundsätze.

Die Staatsagenten selbst versuchen ihre systematische Mißachtung des "Allgemeinwohls" häufig mit einem "Sachzwang" zu rechtfertigen, dem der Staat selbst unterstehe. Das ist in gewisser Weise gar nicht so falsch, denn er ist selbst an einer möglichst erfolgreichen nationalen Reichtumsproduktion interessiert: indem er die Bedingungen für seine Kapitalisten verbessert, fördert er seine eigene materielle Basis, die sich für ihn in wachsenden Steuerquellen ausdrückt. Damit die Mittel des Staates nicht nur auf die durch die nationale Produktion hervorgebrachten beschränkt sind, erkennt der Staat andere Staaten als souverän an und geht mit ihnen Rechtsverhältnisse ein. Er will, daß seine Bürger den Reichtum anderer Länder nutzen, damit sie dadurch den Reichtum der eigenen Nation zu mehren. Dieses ist auch der Zweck der anderen Staaten, und somit findet sich hier ein weiterer Gegensatz vor: Die Konkurrenz der Staaten um den Reichtum der Welt. Nur gibt es hier keinen den Staaten übergeordneten Souverän, der die Konkurrenz beschränken würde. Deshalb gelten Rechtsverhältnisse zwischen ihnen nicht, sondern werden von ihnen beachtet oder nicht. Das Verhältnis jedes Staates zu anderen Staatsgewalten beruht auf seiner interessierten Einmischung in deren Angelegenheiten zu Nutz und Frommen seiner eigenen Anliegen. Dafür hat der Staat nicht nur eine Heerschar von Diplomaten. Sondern auch einen ganzen wissenschaftlichen Apparat, mit keiner anderen Aufgabe als zu überprüfen, was der Rest der Welt so treibt, wie stark sie sind und was ihre Interessen sind und wie sich nationale Interessen gegen sie durchsetzen lassen. Denn eines wissen die regierenden Nationalisten in ihrem unbedingten Internationalismus für Deutschland auch: Der internationale Verkehr der Staaten untereinander ist ein Frage gegenseitiger Erpressung, weil der Schaden des einen, im Regelfall der Nutzen des anderen ist. Das von zwei Staatsgewalten beachtete Rechtsverhältnis ist der Regelfall, welches jederzeit durch einen Krieg neu geregelt werden kann.

An den Untertanen anderer Staatsgewalten exekutieren Staaten ihr Verhältnis zu diesen. Ein Beispiel ist der deutsch-vietnamesische Streit. Aus der Tatsache, daß hierzulande reihenweise vietnamesische Staatsbürger umgebracht werden, hat der deutsche Staat nur eins geschlossen: Die gehören noch schneller weg, als die BRD das Vietnam sowieso schon aufgenötigt hat. Vietnam hat sich beschwert, daß seine Bürger nicht sicher sind und erstmal Aufklärung dieser Morde gefordert. Das kontert die BRD mit Gelassenheit. Die beste Sorge für Vietnamesen, so die deutsche Logik seit 1992, ist die, sie aus einem Land wie der BRD schnell 'rauszubefördern. Hier werden die doch sowieso nur umgebracht. Mit Japanern und Chinesen würde die BRD sich das übrigens nicht trauen. Denn an beiden Staaten hat die BRD ein gründliches ökonomisches und politisches Interesse. Vietnam hingegen ist mit Entwicklungshilfe erpreßbar. Aber wehe, irgendein Staat würde sich erlauben, z.B. ein paar festgenommene Drogenschmuggler zum Anlaß nehmen, alle Deutschen auszuweisen... Die Durchschlagskraft deutscher Staatsgewalt merkt jeder, der bei Festnahmen im Ausland oder Grenzkontrollen das häßliche Greiftier, das Symbol der BRD ist, vorzeigen kann.

Der Tatsache, daß Nationalstaaten ihrem nationalen Kapital, das Eigentum ihrer Staatsbürger ist, ermöglichen über die Grenzen hinweg Geschäfte zu betreiben, entnehmen Leute die Tendenz, daß die Nationalstaaten immer unwichtiger werden, ja sogar, daß die Staaten von den Multis bestimmt und geknechtet werden. Manche folgern aus dieser Tendenz sogar, daß dadurch auch der Nationalismus als überholte Ideologie verschwinden wird. Das Gegenteil ist der Fall:
Die Nationalstaaten sind nach wie vor souverän und haben die Macht den Kapital- und auch den Warenex/ -import zu verbieten. Doch dafür sind die Nationalstaaten viel zu unbescheiden. Sie wollen den Handel über die Grenzen hinweg, um am Reichtum der Welt teilzuhaben. Ob das Erfolg hat, also den nationalen Reichtum steigert und damit die Potenz eines Staates, hängt davon ab, mit welchen Voraussetzungen man in den Weltmarkt einsteigt. Auch der Sachverhalt, daß ein ausländisches Kapital seinen Profit nicht reinvestiert, aus dem Land abzieht, kann für ein "Entwicklungsland" besser sein, als daß seine Bevölkerung erst gar nicht vernutzt wird. Soweit reicht die Macht des "ohnmächtig gewordenen Nationalstaats" dann nämlich schon, daß er sein gesamtes Innenleben umkrempelt, um anlagewilligem internationalen Kapital so attraktive Angebote zu machen, wie sie andere Länder gar nicht erst hinkriegen. Um dem Standort Deutschland die Dienste des internationalen Kapitals zu sichern, werden diesem Steuern erlassen, die Lohnneben- und die Lohnhauptkosten gesenkt, die Bindewirkung der Tarifverträge aufgelöst usw. Die Armut der eigenen Bevölkerung ist die Waffe der Nation im internationalen Kampf um ihren Reichtum. Selten hat sich die kapitalistische Gesellschaft so offen zu ihrer imperialistischen Qualität bekannt: Der deutsche Wirtschafts-Standort, heißt es, kann nur überleben, wenn "wir" Sieger in der Standortkonkurrenz bleiben; d.h. die produktiven Anstrengungen anderer nationaler Standorte zunichte machen. Deutsche Arbeiter sollen ihre Existenz auf diesen Sieg gründen. Damit sie Arbeitsplätze und Lohn bekommen können, müssen sie so produktiv und billig arbeiten, daß sie dem Kapital im Resultat billiger zu stehen kommen als jeder Hungerleider aus der Dritten Welt. Das Glück, von kapitalistischer Benutzung leben zu dürfen, verdienen sie sich erstens dadurch, daß sie immer schlechter davon leben und zweitens dadurch, daß sie mit ihrer Leistung und Verzichtsbereitschaft Menschen in anderen Ländern, die ebenfalls auf Arbeitsplätze angewiesen sind, aus dem Rennen zu werfen und brotlos zu machen.

Zur Entschuldigung all der Beschwerlichkeiten, die man als aufrechter Politiker den Leuten klar machen muß, wird der Sachzwang angeführt. Am diesem ist so viel wahr, daß die Bemühungen der anderen Staaten, als sachliche Voraussetzungen in den Kalkulationen der Politiker auftauchen. Nur, sie sind selbst an der Herstellung dieser Voraussetzung gegenüber anderen Staaten beteiligt. Über der allgemeinen Konkurrenz der Staaten gibt es keinen Zwang und die Konkurrenz ist abschaffbar. Selbstverständlich nicht durch eine andere Politik. Um Mißverständnisse zu vermeiden. In Beschränkung einer Politik auf den Reichtum, der innerhalb der Grenzen gegeben ist, bleibt die Bevölkerung Material für die Produktion eines nationalen Reichtums, und Mittel für diesen Zweck zu sein garantiert den betroffenen Individuen nichts.

Damit sind wir bei der Wahrheit des Nationalismus: Solange einer nur braver Untertan und fleißiger Lohnsklave sein will, hat er guten Grund seiner Nation und seinem Arbeitgeber feste die Daumen zu drücken. - Er ist geradezu darauf verwiesen, sich den nationalen Erfolg und den Erfolg des Kapitals zum Maßstab seines Handelns zu machen. Und das nicht obwohl, sondern weil er nur eine abhängige Variable ist, gerade weil seine Lebenshaltung als lästiger Kostenfaktor zu Buche schlägt. Der Schaden ist bei der Sache garantiert. Der Erfolg der eigenen Nation und des eigenen Kapitalisten führt nicht zu einem Leben in Luxus und Wohlstand, ja ist noch nicht mal Garantie für das Recht, durch Lohnarbeit sein Leben zu fristen. Aber der Mißerfolg der Nation garantiert einiges an Beschwerlichkeiten mehr. Das ist das Zweckrationale an der Verrücktheit, sich in der Welt wie sie ist, einzurichten und "das Beste draus zu machen." - So zu handeln, daß sich an der Welt etwas Wesentliches zum Besseren verändert, würde demgegenüber die Einsicht voraussetzen, daß Nationalstaat und Kapital sich abschaffen lassen.

Aufruftext zur Antinationalen Konferenz "Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland" am 4. Oktober 1998 in Hannover